Читать книгу Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams - Страница 9
EINLEITUNG
Оглавление»… hinter der Wissenschaft die Dinge erspüren und verehren, auf die es eigentlich ankommt und über die so schwer zu sprechen ist.«
Werner Heisenberg
Im Zentrum des Buches steht das Kind. Es befindet sich in ständigem Wandel: Es wird gezeugt1 und wächst im Mutterleib heran2, es wird geboren und durchwandert alle Phasen des Wachstums. Dabei pendelt es andauernd zwischen Rückbindung und zukunfts-gerichtetem Vorwärtspreschen.
Ich meine, all diese Erscheinungsformen der kindlichen Metamorphose lassen sich nur ungenügend in vorgegebene theoretische Konzepte pressen. Obgleich lange Zeit als wissenschaftliche Pädagogin tätig, entferne ich mich deshalb hier bewusst vom akademischen Diskurs und fühle mich einem fließenden Denken verpflichtet3, einem Denken, das Wissenschaft und Kunst, Alltagsbeobachtungen und philosophische Erkenntnis beweglich verbindet.
»Das Leben des Individuums wiederholt das Leben der Spezies.«4 Dieser knappe Satz des englischen Psychiaters Ronald D. Laing durchzieht die Texte wie ein roter Faden. Das Kind, das da geboren wird, kommt niemals als Tabula rasa zur Welt. Es hat bereits einen weiten Weg hinter sich. In seinem individuellen Werdegang, den es nun antritt, wird es noch einmal die verschiedenen Stufen der Menschwerdung durchlaufen, welche die Gesellschaft als Kollektiv schon durchwandert hat. Es wird zunächst die Phase des Vorsprachlichen durchleben5, es wird – wie seine Spezies – den aufrechten Gang lernen und sich in Sprache und Denken einüben, als sei es der erste Mensch.6 In Wirklichkeit wiederholt es also die Etappen der Menschwerdung am eigenen Leib. Es ist angewiesen auf die Unterstützung der anderen, auf ihr Vorbild, auf ihre Sprache und ihr Mitgefühl, ohne die es nicht wirklich Mensch werden kann.
Dieses Wunder der Wiederholung der Menschheitsgeschichte im einzelnen Kind spielt sich weitgehend unbewusst ab.7 Zu tief gelagert sind die Erinnerungsspuren an jene fernen Zeitdimensionen, in denen die Menschheit sich als solche heranbildete. Nur manchmal, meist in ganz unerwarteten Momenten und gleichsam als Sternstunden der Kindheit, schimmert etwas durch von diesen Reminiszenzen der kollektiven Vergangenheit. Dann nämlich, wenn das Kind in seine Träume versinkt, wenn es mit den Gestalten der Märchen und Mythen verschmilzt und wenn seine ganz eigene Logik von der unseren entrückt zu sein scheint.
Natürlich steht das Alphabet der Kindheit theoretisch nicht im luftleeren Raum. Doch mit welcher wissenschaftlichen Methode auch immer wir die inneren Vorgänge des Kindes betrachten, mit welcher Theorie wir versuchen, sie zu vermessen, zu erklären und zu durchschauen – am Ende ist es der Satz des griechischen Philosophen Heraklit, der für uns gültig bleibt: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, auch wenn du gehst und jeden Weg abwanderst, so tief ist ihr Logos.«8
Wir alle waren einmal Kinder, und so wird auch die Betrachtung der Kindheit zu einer ganz persönlichen, manchmal auch abenteuerlichen Reise. Sobald wir uns mit Kindheit beschäftigen, tauchen unsere eigenen frühen Erlebnisse auf – unmöglich, dabei neutral zu bleiben. Doch das ist gut so, denn unsere frühen Erinnerungen haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Allerdings, unabhängig von unserem jetzigen Alter, ist unsere Kindheit sowohl vom Erinnern als auch vom Vergessen geprägt. Über allem Geschehen von damals schwebt ein heilsamer Schleier der frühkindlichen Amnesie (Freud). Es ist also nie die ganze Wahrheit, die wir rückblickend sehen, sondern es sind einzelne Facetten, die wir real zu erkennen glauben, mehrfach gefiltert und umgedichtet im Zuge unserer Biografie.
Sie als Leser kennen sicher alle die Frage: »Habe ich dieses Ereignis wirklich so erlebt oder war es nur die Erzählung der anderen, die es mir heute so real erscheinen lässt?« Häufig lassen sich die einzelnen Fäden, aus denen Kindheit gewebt ist, nur schwer auseinandertrennen. Und oft flüchten wir deshalb in vereinfachende Zuweisungen: in Gut und Böse. Alte Wunden werden verklebt und manchmal wird Glück heraufbeschworen, wo doch keines war. Und umgekehrt: Manchmal wird ein kleines Unglück herausgegriffen und pauschalisiert, so dass die Kindheit von damals nur dunkel und traurig erscheint: »Das sind Jahre, die unglücklich scheinen, aber die glückliche Seite ist darin verflochten, ohne dass ich mir ganz darüber im Klaren bin«, schreibt der französische Regisseur François Truffaut.9
In Wahrheit ist Kindheit niemals ganz gut und nur selten ganz schlecht. Die eigentliche Existenz der Kinder spielt sich in Zwischentönen ab. Sie machen die Musik. Sie durchdringen die Widersprüche des kindlichen Lebens, wie des Lebens generell. Ja, ich kann Mama und Papa lieben und zugleich auch hassen. Ich kann die Schule mögen und trotzdem lieber schwänzen. Und ja, ich möchte wachsen – aber gleichzeitig doch auch ganz klein bleiben. Das ist Kinderleben und das ist der Stoff, aus dem Kindheit gestrickt ist: aus Zwischentönen und Widersprüchen. Das macht ihren Zauber aus und das ist der Inhalt des Alphabets der Kindheit.