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Prolog
ОглавлениеAufenthalt bei Mutter.
Das Stockholmsyndrom.
Hellen Scheefer
Für meine Kinder
und Kindeskinder
Hellen Scheefer
Stille. Absolute Reglosigkeit. Das Surren der Fliege, weit hinten in der Ecke, dringt an mein Ohr und berührt nicht mein Denken. Mein Hirn ist ganz erfüllt von einem Gedanken. Schwer, sehnsüchtig. Endlich kann ich ihn ziehen lassen. Der Atem gleitet mir nun tief in den Bauch.
Ich bin ein Berg. Meine Gedanken, mein Fühlen - sie sind wie Wolken. Wolken am Gipfel, an meinem Kopf.
Endlich: „Kaijo!“
Auf diesen heiseren Ruf folgt eine leise Bewegung. Dann, einen Moment später: ein machtvoller Schlag. Die Kraft des Schlegels explodiert auf dem Fell der Trommel und verwandelt sich in ein Dröhnen, das den ganzen Raum ausfüllt. Das Schwingen dringt in meine Ohren und quillt auf unsichtbaren Bahnen in die Tiefe meines Leibes, bis mein ganzer Körper vibriert wie die Luft um mich herum.
Ich liebe diesen Moment. Wenn nach stundenlangem, reglosem Sitzen das Morgendämmern sich in helles Licht gewandelt hat, der Schlag der Trommel meinen Körper erwachen macht und von nun an das Tun des Tages uns einnehmen darf.
Die Ordinierten legen ihr Kesa auf den Kopf und dann singen wir gemeinsam:
„Dai sai geda puku, mu so fukuden e, hi bu nyorai kyo. Kodo sho shu jo.“ Sitzen, auf einem Kissen. Schweigen. Ruhe des Körpers. Meditieren im Strömen des Atems. Den Geist zur Ruhe bringen. Aufhören zu denken. Denken, rationalisieren, analysieren, entdecken. Die Krone menschlichen Daseins. Wortfetzen, Bilder, Traumgeschichten, Singen, Schmerz, unstillbares Weinen, Ängste. Immer wieder Gespräche, aus der Angst geboren, mit nicht Anwesenden, Angst und Ängste und wieder Angst.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich inzwischen auf dem Safu gesessen hatte. Ich habe schon seit Jahren keine Angst mehr vor Veränderungen. Die Neugier schafft Neues. Neues ist vor allem spannend, aufregend, schön. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich hatte sitzen müssen, bis in mir dieses Wissen aufgestiegen war: diese Angst in mir, die ist, weil ich Angst vor mir selber habe. Angst vor diesen Kräften in mir, die mich tun machen, was mich zerstört. In bester Absicht, „um der Liebe Willen’, wie man so schön sagt. Und doch: zerstört, mich verrückt macht.
Beim Schlagen der Trommel, als ich das Vibrieren meinen Körper durchströmen fühle, begreife ich, dass ich guten Grund habe zu dieser Angst vor mir selbst.