Читать книгу Aufenthalt bei Mutter - Hellen Scheefer - Страница 4
Bei Mutter. Eine Idee.
ОглавлениеAusgerechnet als ich vor ein paar Tagen bei meiner Dienstfahrt im Auto das Radio anschaltete, wurde eine Rezension eines Buches gesendet. Eine Frau erzählte anonym vom sexuellen Missbrauch durch ihren leiblichen Vater. Textstellen werden zitiert. Es wird mit kurz zusammenfassenden Worten gezeichnet, wie die Autorin ihre sexuellen Lüste in dieser Beziehung schildert. Schwer von ihrem Vater verletzt und vergewaltigt, beschreibt sie ihre Orgasmen. Mich ekelte vor der Frau beim Zuhören. Stockholmsyndrom. Ich hatte kaum an den Begriff gedacht, als der Rezensent den Begriff einführte, seine Bedeutung erklärte. Das Opfer beginnt in der größten Not und ohnmächtig seinem Peiniger ausgeliefert, diesen zu lieben. Das ist die einzige Strategie, um die Situation zu überstehen, um zu überleben.
Ich weiß, dass auch ich die Fahigkeit des Stockholmsyndroms in mir trage. Die Liebe, die ich meinem Vater entgegenbrachte, war einerseits Dankbarkeit, weil er mich vor dem tagtäglichen Terror meiner Mutter schützte, und ihr Terror war härter als das hysterische Herumgeschrei meines Vaters, und andererseits ging diese Liebe auf das Konto des Syndroms. Es war nicht sicher auszumachen, welche Gefühle sich da wie sortierten. Ich hatte mich nach Jahren der Selbstanalyse mit dieser Unklarheit in mir abgefunden. Nun warf mich die Radiosendung aus der Bahn. Den letzten Arbeitstag der Woche lenkte ich mich noch ab mit intensivem Arbeiten. Aber es half nichts. Kaum hatte ich Ruhe, fiel ich in eine Lähmung. Ich vermochte nicht aufzustehen. Mein ganzes Wesen war im Schmerz gefangen. Stockholmsyndrom. Eine Ahnung befiel mich, wie hart alles gewesen sein musste, als Vater begann, mich sexuell zu missbrauchen. Die ungerechtfertigten Beschuldigungen. Das Sitzen müssen im Keller. Angstvolles Warten, bis er endlich kam und mich nach seiner Triebbefriedigung wieder mit hoch in die Wohnung nahm. Ans Licht, zu meinem Spiel. Seit dem Hören der Radiosendung lag ich nun schon zwei Tage gelähmt im Bett. Mit meinem Leiden an meinem Zustand wuchs die Wut auf meine Mutter. Vater konnte mich nur so für sich gewinnen, weil sie mich so allumfassend verachtet hatte. Irgend einen Halt brauchte ich und so wehrte ich mich nicht mehr gegen Vater. Wurde zu seiner Lieblingstochter. In meiner wachsenden Wut auf meine Mutter wuchs ein Gedanke: „Du lügst“. Mein Schmerz gab mir die Kraft mich zu erinnern, was geschah, als Mutter von dem sexuellen Manipulieren an meiner Nichte als Baby erfuhr. „Das wird nicht gemacht!“, hatte sie in höchster Not geschrien. In Bezug auf meine Person jedoch hatte sie keinerlei Mitgefühl entwickelt. Aber wenigstens bei ihrer Enkelin hatte sie versucht, Vater Einhalt zu gebieten.
„Du lügst, Mutter“. Diese drei Worte, nunmehr aufgestiegen in meinen Kopf, brachen meine Lähmung und ich vermochte aus dem Bett aufstehen. Ich beschloss, sie zu konfrontieren bei meinem nächsten Aufenthalt bei ihr, wenn die Reihe unter meinen Geschwistern wieder an mir war, sie zu pflegen. Und hier wollte ich sie zur Rede stellen: „Du lügst, Mutter“.
In den darauf folgenden Tagen dachte ich viel über das bevorstehende Gespräch nach. Was, wenn mir die Einzelheiten aus ihrem Mund wiederum einen flashback auslösten? Was, wenn sie ein Geständnis ablegt und danach aus dem Fenster springt? Was, wenn sie sich bei den Geschwistern beschwert?
Ich war also dieses Wochenende mit dem festen Vorsatz angereist, Mutter noch einmal zur Rede zu stellen.
Kaum bei ihr angekommen, nahm ich ihre große Schwäche wahr. Ich schämte mich, dass ich eine so alte Frau in Bedrängnis bringen wollte. Brauchte ich das Gespräch wirklich? Konnte ich mir und meinen Erinnerungen selbst nicht glauben? Ich rief mir bewusst Situationen im Geschehen um den Missbrauch ins Gedächtnis. Als ich ungefähr 18 Jahre alt war, prüfte Mutter mich mit gezielten Fragen, ob ich auch alles gut vergessen hatte. Ja. Damals hatte ich den sexuellen Missbrauch vergessen.
Doch. Ich wollte das Gespräch. Es war wichtig. Diese Familie würde irgendwann beginnen, den Missbrauch aufzuarbeiten. Es war wichtig, ihre Position zu kennen, auch jetzt, da sie so alt und schwach war. Ich beschloss, mit ihr auf behutsame Weise zu reden.