Читать книгу Aufenthalt bei Mutter - Hellen Scheefer - Страница 5
Bei Mutter. Ankommen.
ОглавлениеAls sie mich in der Tür stehen sieht, freut Mutter sich. Jetzt ist sie nicht mehr alleine. Es stinkt nach Kot. Ich setze die Reisetasche ab, gut neben den Stuhl, damit Mutter nicht über die Schlaufen stolpert und öffne, noch mit der Jacke bekleidet, das Küchenfenster. Die Luft in der Wohnung ist trocken und überheizt. Dann ziehe ich Schuhe und Jacke aus. Mutter klagt, dass sie ganz durcheinander sei. Sie geht in das Wohnzimmer zum laufenden Fernseher mit den entschuldigenden Worten, sie müsse sich mal hinsetzen. Ihr sei ganz schwindelig. Auf dem kleinen Tisch an der Couch stehen Reste vom Abendbrot. Butter, eine Scheibe angetrocknete Wurst, etwas Käse, eine Kanne mit einem Rest Tee. Ich setze mich zu ihr, starre auf den laufenden Fernseher. Eine Unterhaltungssendung. Die Zuschauer lachen. Ich kann nicht lachen. Meine Mutter erzählt etwas über den Moderator. Klatsch aus dem Fernsehmagazin. Ich höre nicht wirklich zu. Ich starre gebannt auf die bewegten Bilder. Bei mir zu Hause habe ich keinen Fernseher. Manchmal schaue ich die Tagesschau per Internet. Oder ich streame einen Film. Das ist zwar illegal, aber bequem. Jetzt hat ein Satz des Moderators eine Erinnerung meiner Mutter berührt. Sie erzählt mir ausführlich von ihrem Vater. Der war Schneidermeister. Ein Herrenschneider. Selbst einem Buckeligen vermochte er einen Anzug so zu nähen, dass man den Buckel nicht mehr sah. Es sei zu dieser Zeit nicht selbstverständlich gewesen, dass ein Mann seine Familie von seinem Verdienst ernähren konnte. Aber ihr Vater konnte das. Und darauf war er sehr stolz. Er hatte von morgens bis zum Abend viel zu arbeiten. Und die Mutter musste den ganzen Haushalt besorgen und das Schwein und die Hühner und Enten. Meine Mutter zählte nicht die drei Kinder auf, sich selbst und ihre Geschwister, die im Haushalt lebten. Beizeiten am Tag rief der Vater ins Haus, wann Mutters Mutter endlich in die Schneiderstube komme. Sie werde dringend gebraucht. Die Mutter meiner Mutter war Kunststopferin. Die ideale Partnerin eines Schneiders. Wenn beim Bügeln des Anzugs ein Stück Glut aus dem Eisen heraus und auf den Stoff gefallen war, dann war es an ihr, das in den Stoff gebrannte Loch so kunstfertig zu stopfen, dass man es nicht mehr sah. Wie sie das bewerkstelligte ? Sie löste an einer unauffälligen Stelle ein Stück Faser aus dem Gewebe und stopfte es in der genauen Abfolge, wie der Weber einst das Tuch gewebt hatte, um das Loch herum wieder ein. Für diese Arbeit brauchte also der Schneidermeister seine Frau dringend. Außerdem hatte sie das Futter in die Anzugteile einzunähen, mit der Hand selbstverständlich. Das einzige Hobby, was mein Großvater sich leistete, war einmal wöchentlich der Gesangsverein. Dort ging er abends hin. Er soll eine sehr schöne Stimme gehabt haben. Von ihm hatte ich also meine Begabung geerbt. Aber als der Krieg kam, hörte das Singen auf.