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Early Warning Katharinas Wohnung im Frankfurter Westend,
nach Einbruch der Dunkelheit –
aber es ist ohnehin einer dieser Tage,
an denen es nie richtig hell wird

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Stille.

Was vom Lärm des Verkehrs seinen Weg durch den dämpfenden Schnee hoch in den vierten Stock fand, prallte an den doppelverglasten Fenstern von Katharinas Wohnung ab.

Stille.

Zum ersten Mal seit Langem. In Afrika, auf Mafia Island, war es nie ganz still gewesen. Selbst in den Nächten nicht, in denen Katharina auf dem Bett in ihrem Bungalow gelegen hatte, das Licht ausgeschaltet, in die Nacht hineinlauschend: Vogelgezwitscher, Schritte der Nachtwächter auf dem Kies, hin und wieder das Brüllen eines Affen.

Die Stille lastete auf Katharina wie eine viel zu schwere, viel zu warme Daunendecke. Eigentlich sollte sie doch dankbar sein für die Ruhe.

Der Tag war hektisch gewesen, laut, immer Menschen in ihrer Nähe.

Vor allem ein Mensch.

Andreas Amendt.

Vor der Tür des »Puccini« hatte er sich von ihr verabschiedet, seinen Gitarrenkoffer und seine Reisetasche in der Hand. Er hatte es nicht weit und wollte laufen. Müde hatte er ausgesehen. Traurig. Katharina hätte ihn gerne getröstet. Ihm versprochen, dass sie Susannes Mörder stellen würden. Sie hatte ihm nachgesehen, bis er von der Eschersheimer Landstraße in eine Seitenstraße einbog. Die Fichardstraße. Dort wohnte er.

Dann war Katharina ins Papamobil gestiegen und durch den immer dichter fallenden Schnee ins Westend zu ihrer eigenen Wohnung gefahren. Sie hatte dreimal den Block umrunden müssen und zwei Nebenstraßen weiter endlich eine Parklücke für das Papamobil gefunden. Seufzend hatte sie ihr Gepäck aus dem Kofferraum genommen und es zu ihrem Haus geschleppt.

Jetzt saß sie an ihrem Küchentisch und wusste nichts mit sich anzufangen. Eigentlich war sie müde, doch es war erst fünf Uhr abends. Zu früh, um ins Bett zu gehen.

Nun, sie konnte wenigstens auspacken. Katharina ging ins Schlafzimmer und leerte ihre große Reisetasche auf dem Bett aus. Mit einem Armvoll schmutziger Wäsche ging sie zurück in die Küche und stopfte die erste Ladung in die Waschmaschine. Das leise klappernde Rotieren der Waschtrommel verschaffte ihr wenigstens eine gewisse Geräuschkulisse. Zusätzlich schaltete sie das Radio an. Nachrichten und Wetter. Mehr Krise, mehr Probleme, mehr Schnee. Drei Minuten Staumeldungen. Dann endlich Musik. Seichter Pop. Immer noch besser als Stille. Sie drehte das Radio laut – sollten die Nachbarn doch schimpfen – und begann, das restliche Gepäck zu sortieren und zu verstauen. Katharina hasste es, wenn ihre Wohnung unaufgeräumt war.

Im Badezimmer räumte sie ihren Kosmetikkoffer aus. Der Koffer war ein Geschenk des Mannes mit den Eukalyptuspastillen. Die seltsam blasse Erscheinung hatte sie in der Anhörung verteidigt, die Katharina wegen der Schießerei über sich ergehen lassen musste, in der sie Miguel de Vega getötet hatte. Zuvor hatte er ihrem früheren Partner Thomas – mit dem sie drei Jahre lang ein Ermittlerteam gebildet hatte und der gleichfalls in der Schießerei umgekommen war – die Akte zur Ermordung ihrer Familie zugespielt.

Den Kosmetikkoffer hatte er ihr gegeben, als er sie vor Ministro gewarnt und sie dringend gebeten hatte, unterzutauchen. Der Koffer enthielt Geheimfächer für Munition und außerdem drei große metallene Geräte: einen Föhn, einen Epilierapparat und einen Vibrator mit den Ausmaßen einer Salatgurke. Die Geräte funktionierten wirklich – beim Vibrator hatte Katharina sich allerdings auf das Wort des Mannes mit den Eukalyptuspastillen verlassen –, enthielten aber auch Hohlräume, die Teile ihrer Schusswaffe aufnehmen konnten. Sie packte die drei Geräte zurück in den weinroten Koffer und stellte ihn ganz unten in das Badezimmerregal.

Sie fühlte sich schmutzig. Nach der Nacht im Flugzeug war sie den ganzen Tag unterwegs gewesen und trug seit fast sechsunddreißig Stunden die gleichen Klamotten. Kurzerhand zog sie sich aus und duschte. Danach wanderte sie nackt ins Schlafzimmer. Ihre Wäschekommode war zwar ziemlich leer – der größte Teil des Inhalts drehte sich gerade in der Waschmaschine –, aber sie fand noch einen Slip mit dazu passendem BH – schwarze Spitze, also vielleicht etwas overdressed – und ein Paar dicker Strümpfe. Schwarzer Rollkragenpullover, Jeans, fertig.

Die Dusche hatte die Müdigkeit vertrieben. Doch was konnte sie an diesem Abend noch tun?

Ihre Handtasche hatte sie noch nicht aus- und umgepackt. Katharina leerte die alte, abgegriffene Ledertasche, die ihr Susanne zu ihrem Austauschjahr in Südafrika geschenkt hatte. Dann begann sie, neu zu packen: Notizblock, ihre kleine Digitalkamera, ein paar Stifte, eine kleine Taschenlampe, Einweghandschuhe …

Sie schmunzelte: Utensilien für eine Ermittlung. Nun, warum nicht? Vielleicht konnte sie Polanski davon überzeugen, ihr einen Fall zu übertragen, bis die Arbeit in der Sonderermittlungseinheit begann. Damit sie nicht einrostete. Oder …

Oder – dieser Gedanke kam ihr aus heiterem Himmel – sie könnte mit den Ermittlungen zum Tod ihrer Familie noch einmal ganz von vorne anfangen. Am Tatort. Im Haus ihrer Eltern. Es war praktisch noch in dem Zustand wie nach der Tat. Vielleicht hatte Polanski damals etwas übersehen. Nicht genau genug hingeschaut. Er hatte ja seinen Täter gehabt: Andreas Amendt. Doch jetzt waren die Karten neu gemischt. Das war vielleicht wirklich eine gute Idee. Und wenn es schon keine Spuren gab, dann vielleicht wenigstens einen Hinweis, wer Ministro auf ihre Familie …

»Ich töte keine Unschuldigen!« Ministros Satz dröhnte wieder in ihrem Kopf. Katharina hatte genug Tötungsdelikte bearbeitet, um zu wissen, dass Opfer nur selten wirklich unschuldig waren. Geheimnisse aus der Vergangenheit, gut begraben und vergessen, wurden bei Ermittlungen wieder ans Tageslicht gezerrt. Würde es bei ihrer Familie auch so sein? Was würde sie über ihren Vater, ihre Mutter, ihre Schwester erfahren? Und wollte sie das wirklich wissen?

Doch dann erinnerte Katharina sich an den stummen Eid, den sie geleistet hatte: Sie war nach dem Abitur aus Südafrika zurückgekommen, hatte sich für den Polizeidienst beworben und war angenommen worden. Mit dem Brief in der Hand war sie zum letzten Mal am Grab ihrer Familie gewesen. Sie hatte ihnen versprochen, den Mörder zu finden. Wenn sie aufgab, würde sie sich das niemals verzeihen. Jetzt musste sich zeigen, wie gut sie als Ermittlerin wirklich war.

Katharina widmete sich wieder ihrer Handtasche. Beim Auspacken hatte sie zwei dieser dicken Kugelschreiber gefunden, einer rot, einer blau. Keine Ahnung, wo sie die eingesteckt hatte, aber sie schrieben vernünftig und lagen gut in der Hand. Also steckte sie die Stifte ebenfalls in die Handtasche. Ein Ersatzmagazin für ihre Pistole, Beweismittelbeutel, ein paar Briefumschläge für Spuren, die besser in Papier aufbewahrt wurden, ihr kleines Werkzeugset – Pinzette, Schraubendreher, ein Skalpell mit auswechselbarer Klinge, eine kleine Zange –, ein weicher Kosmetikpinsel, Döschen mit schwarzem und weißem Fingerabdruckpulver, eine kleine Tube Sekundenkleber – mit den Dämpfen konnte man gleichfalls Fingerabdrücke sichtbar machen –, ein paar starke Kabelbinder: genauso gut wie Handschellen, aber sehr viel leichter und auch für andere Zwecke zu verwenden. All das wanderte zurück in ihre Handtasche.

Ihr fiel noch etwas ein: Sie zog den Reißverschluss des verborgenen Innenfachs auf. Darin steckte noch eine Rolle mit Geldscheinen – ihre Pokerkasse, mit der sie ihre Flucht nach Tansania finanziert hatte. Die Rolle war deutlich geschrumpft, aber es mussten immer noch ein paar Tausend Euro sein. Katharina wollte das Geld schon wieder in ihrer Keksdose verstecken, doch dann entschloss sie sich anders: Bargeld war vielleicht ganz nützlich für das, was sie vorhatte. Wer wusste, wen sie bestechen, welche Informationen sie kaufen musste. Also steckte sie die Rolle zurück in die Handtasche.

Dann packte sie noch ihren kleinen Kulturbeutel für Notfall-Übernachtungen: Zahnbürste, Zahnpasta, einen kleinen Deostift, eine kleine Flasche Duschgel, ein sauberes Unterhöschen. Automatisch legte sie auch noch drei Kondome dazu. Sie musste kichern, ließ die Kondome aber im Kulturbeutel. Man wusste ja nie. Außerdem konnte man sie notfalls dafür verwenden, Spuren wasserdicht zu verpacken.

Sie schob den Kulturbeutel in das Seitenfach der Handtasche. Ein leichter Schauer der Erregung rieselte über ihren Rücken. Sie bekam Lust, ihre Jacke überzustreifen, ihre Handtasche zu schnappen und einfach loszuziehen. Irgendwo etwas zu essen. Vielleicht in einer Bar jemanden kennenzulernen. Spaß zu haben. Auf andere Gedanken zu kommen. Wie lange hatte sie keinen Sex mehr gehabt? Das war …

Ihr Magen rebellierte, ihr wurde schwindelig und sie musste sich setzen. Hatte sie wirklich mit Ministro geschlafen? Hatte er sie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt? Ganz ruhig, befahl sie sich. Dir ist nichts passiert. Du bist nicht schwanger. Nicht verletzt worden.

Katharina überfiel ein Gefühl von Scham. Ministro hatte sie geküsst. Aber da war er noch Javier gewesen, der freundliche Priester. Vermutlich hätte sie auch so mit ihm geschlafen. Und sie hätte es sogar genossen. Oder hatte sie es wirklich genossen? Verdammt! Sie konnte sich partout nicht erinnern.

So also musste sich Andreas Amendt gefühlt haben, als er im Haus ihrer Eltern wieder zu sich gekommen war. Nur noch sehr viel schlimmer.

Die Akte zur Ermordung ihrer Familie lag auf dem Küchentisch. Sie schob sie in ihre Handtasche. Dann ging sie ins Wohnzimmer zu ihrem kleinen Tresor und öffnete ihn. Der Schlüsselbund zum Haus ihrer Eltern lag obenauf. Sie ließ ihn gleichfalls in die Handtasche fallen.

Dann fiel ihr Blick auf ihr Mobiltelefon. Sie hatte es vor ihrer Abreise in den Tresor verbannt, damit niemand es nutzen und ihren Standort herausfinden konnte. Sie nahm das Gerät heraus und versuchte es anzuschalten. Das Display blieb dunkel. Natürlich, der Akku war leer.

Sie ging mit dem Handy und dem Netzteil in ihr Gästezimmer und stöpselte es in den Dreierstecker auf dem kleinen Schreibtisch. Dann schaltete sie es ein, um wenigstens ihre Nachrichten abzuhören. Doch so weit kam sie gar nicht. Kaum hatte sie ihre PIN eingegeben, begann das kleine Telefon auch schon zu läuten.

»Verschlüsselter Anruf von: Koala. Annehmen?«, verkündete das Display.

Verschlüsselter Anruf? Ach ja, richtig. Das Handy war gleichfalls ein Geschenk des Mannes mit den Eukalyptuspastillen gewesen. Geheimdienstmaterial, einschließlich eines Scramblers, um Telefonate zu verschlüsseln. Katharina beeilte sich, den Anruf entgegenzunehmen.

»Na endlich«, nörgelte eine Stimme aus dem Hörer, die Katharina zunächst nicht zuordnen konnte. »Koala hier! Ich versuche schon seit Stunden, Sie zu erreichen.«

Endlich hatte Katharina sich so weit gefasst, dass sie die Stimme erkannte: der Mann mit den Eukalyptuspastillen!

»Ja, Entschuldigung, aber ich –«, begann sie.

Doch der Mann ließ sie nicht ausreden: »Ich habe wichtige Informationen für Sie.«

»Informationen worüber?«

»Das ist eine dumme Frage. Sie wissen worüber!«

Natürlich. Der Mann mit den Eukalyptuspastillen hatte in ihrem letzten Gespräch erklärt, dass er – oder die Institution, für die er arbeitete – an einer Aufklärung des Mordes an ihrer Familie dringend interessiert sei.

»Ja, ich kann es mir denken«, sagte Katharina schließlich in das Schweigen hinein.

»Gut. Wir müssen uns treffen. Möglichst bald.«

»Ich bin zu Hause, und wenn Sie –«, begann Katharina wieder, nur um erneut unterbrochen zu werden.

»Nein, das ist zu auffällig. Treffen Sie mich in einer halben Stunde am Westendplatz. Wir müssen uns beeilen. Ich habe gerade erfahren, dass ein neuer Player in der Stadt ist.«

»Ein neuer Player?«

»Nun seien Sie doch nicht so schwer von Kapee«, raunzte es aus dem Hörer. »Ein neuer Profikiller.«

Nicht schon wieder! »Meinetwegen?«, fragte Katharina tonlos.

»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Aber wir sind besser vorsichtig. Er hat den Codenamen S/M.«

»Essem? Araber?«

»Nein. Es Schrägstrich Em. – Also dann, in einer halben Stunde am Westendplatz. Bestätigen Sie!«

»Westendplatz. Halbe Stunde«, wiederholte Katharina mechanisch.

»Und zu keinem ein Wort. Trauen Sie niemandem. Koala over!« Dann war das Handy stumm. Katharina starrte es an. Noch ein Profikiller. Und bestimmt einer, der nicht solch moralische Skrupel hatte wie Ministro.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen trieben schwere weiße Flocken vorbei. Noch mehr Schnee. Andererseits war das ja vielleicht gut. Es würden nur wenige Menschen auf der Straße unterwegs sein. Sie würde Verfolger schnell ausmachen und leicht abschütteln können.

Sie kramte ihre Doc Martins aus dem Kleiderschrank, schlüpfte in ihre geliebte weinrote Lederjacke und legte sich noch einen Schal um. Aus der Schublade ihrer Garderobe holte sie die alten Lederhandschuhe, die zu ihrer Streifenpolizistinnen-Uniform gehört hatten. Die hatte sie nie abgegeben und immer sorgfältig gepflegt, denn sie passten wie angegossen, hielten warm und gaben doch genug Bewegungsfreiheit. Sie befestigte das Holster mit ihrer Waffe am Gürtel und schob es nach hinten auf den Rücken. Einerlei, was Polanski sagte: Sie würde die Waffe tragen. Besser ein Verstoß gegen das Waffengesetz als tot. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche, vergewisserte sich, dass sie ihre Schlüssel dabeihatte, und verließ die Wohnung.

***

Der Schnee fiel so dicht, dass Katharina kaum etwas sehen konnte. Ihre Zehen wurden nach wenigen Minuten kalt, also begann sie, beim Gehen mit den Füßen aufzustampfen. Aber sie hatte recht gehabt: Außer ihr war kaum jemand unterwegs. Nur in der Ferne hörte sie zwei, drei Fehlzündungen. Na ja, nicht alle Autos waren wintertauglich.

***

Der Westendplatz lag verlassen im Schnee, der kleine Kiosk in der Mitte des Platzes hatte geschlossen. Katharina versuchte angestrengt, durch die Dunkelheit zu spähen, doch sie sah niemanden. Langsam ging sie um den Platz herum, immer halb in Deckung hinter den geparkten Autos. Endlich entdeckte sie einen Wagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Die Scheiben des neuen schwarzen Mercedes-Benz waren getönt. Im Inneren rührte sich nichts. Sie schlich um den Wagen herum, klopfte an die Scheibe, schließlich fasste sie an die Fahrertür. Die Tür sprang auf. Ein Mann fiel ihr entgegen. Blut rann aus seinen Mundwinkeln, sein Hinterkopf war eine einzige blutige Masse.

Es war der Mann mit den Eukalyptuspastillen. Koala.

Tot. Erschossen. Scheiße.

***

Dolphin Dance

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