Читать книгу Dolphin Dance - Helmut Barz - Страница 9
Actual Proof Kriminaltechnisches Institut des BKA in Wiesbaden,
eine Fahrt über die wenigstens bereits geräumte Autobahn später
ОглавлениеDas Gebäude des Kriminaltechnischen Instituts des BKA in Wiesbaden würde sicher keine Schönheitspreise gewinnen. Der monströse Kasten sah aus, als hätten eine Fabrikhalle und ein Weltkriegs-Bunker im Vollsuff ein Kind gezeugt und anschließend in der hessischen Provinz ausgesetzt. Daran änderten auch die bunten, sich dekorativ um das Gebäude schlängelnden Metallgalerien nichts.
Wenigstens hatte sich der Pförtner dazu herabgelassen, Katharina und Andreas Amendt in ihrem Wagen auf den Besucherparkplatz zu lassen, doch sie mussten zehn Minuten suchen, bis sie endlich eine Parklücke entdeckten, die groß genug für den Cayenne war.
Sie wollten sich schon auf den Fußmarsch zum Haupteingang machen, als Katharina noch eine Idee hatte: Sie öffnete den Kofferraum und entnahm den Geheimfächern ihres Kosmetikkoffers die Teile ihrer Stockert & Rohrbacher Modell 1. Mit geübten Handgriffen setzte sie die Pistole zusammen. Andreas Amendt sah ihr kritisch über die Schulter: »Sie wollen sich doch nicht etwa den Weg freischießen, oder?«
»Nein, keine Sorge. Nur ein wenig angewandte Diplomatie.«
***
Die Beamtin im großen Kasten aus Panzerglas am Haupteingang des Gebäudes fragte mürrisch: »Was wollen Sie?«
»Mein Name ist Katharina Klein, ich komme vom Polizeipräsidium Frankfurt für eine ballistische Untersuchung.«
Die Beamtin musterte sie abschätzig von oben bis unten: »Können Sie sich ausweisen?«
Als Antwort knallte Katharina ihren neuen Dienstausweis auf den Tresen. Die Beamtin nahm ihn und drehte ihn lustlos zwischen ihren Fingern. Doch dann hatte sie wohl den hohen Dienstrang entdeckt und nahm unwillkürlich Haltung an: »Ja, Frau Kriminaldirektorin. – Ich schaue gleich nach, wer von der Ballistik im Hause ist.«
Sie tippte auf ihrer Computertastatur, setzte ein professionelles Lächeln auf und sagte: »Herr Schönauer ist auf dem Schießstand.«
***
Eine dröhnende Salve aus einer Pistole, dann ein lautes »Verdammte Scheiße!«.
Gerhard Schönauer stand an der hintersten Bahn des Schießstands und wollte wohl die Pistole, mit der er eben geschossen hatte, wütend den Schüssen hinterherwerfen. Er legte sie energisch auf die kleine Balustrade vor sich, dann drückte er den Knopf, mit dem er die Zielscheibe zu sich heranholte. Katharina wartete, bis er keine Waffe mehr in der Hand hielt.
»Herr Schönauer?«, fragte sie mit lauter Stimme, denn der Angesprochene trug Ohrenschützer.
Der Ballistiker warf ihr nur einen knappen Blick über die Schulter zu. »Sehen Sie das?« Er deutete auf die Zielscheibe.
Oha! Schönauer galt als einer der besten Schützen der deutschen Polizei. Entweder war dieser Ruf reine Legende oder irgendetwas mit der Pistole war ganz und gar nicht in Ordnung. Das Trefferbild war lausig, die Einschläge über die ganze Zielscheibe verteilt.
»Probleme?«, fragte Katharina vorsichtig.
»Das können Sie laut sagen. Die ganze Lieferung …« Schönauer deutete auf einen kleinen Handwagen, auf dem sich Pistolenkoffer stapelten. »Bisher hat keine Einzige davon ein vernünftiges Schussbild ergeben.« Dann musterte er Katharina, als hätte er sie eben erst entdeckt. »Moment mal, Sie kenne ich doch. – Sie sind doch die Frau, die diese beiden Drogendealer abgeknallt hat.«
Gerhard Schönauer hatte bei Katharinas Anhörung zum Tod von Miguel de Vega und seinem Partner ausgesagt und ihr unterstellt, die beiden Männer kaltblütig hingerichtet zu haben. Erst ein Video des Vorgangs, das zeigte, dass Katharina in Notwehr gehandelt hatte, konnte ihr den Kopf retten.
»Na, dann beweisen Sie mal, dass Sie wirklich so eine Meisterschützin sind.« Schönauer nahm einen neuen Pistolenkoffer vom Handwagen und reichte ihn Katharina. »Sagen Sie mir, ob ich heute Morgen einfach einen Knick in der Optik habe oder ob wirklich die ganze Charge versaut ist.«
Nun denn! Wenigstens befand sich Katharina auf vertrautem Terrain. Sie setzte sich Schutzbrille und Gehörschutz auf, spannte eine neue Zielscheibe ein und ließ sie zurückfahren. Sie lud das Magazin der Pistole und zog den Schlitten zurück, um sie zu spannen.
Schon beim ersten Schuss merkte Katharina, was nicht stimmte: Die Waffe bockte. Bei den nächsten Schüssen versuchte sie, die Bewegung auszugleichen, aber es war unmöglich. Im Gegenteil, das unkontrollierbare Rucken der Waffe wurde nur noch schlimmer.
Während sie die Zielscheibe zu sich heranfahren ließ, entlud sie die Pistole und klinkte den Schlitten aus, um die Waffe zu zerlegen. Sie betastete vorsichtig die Mechanik: Der Verschluss und der Lauf hatten eindeutig zu viel Spiel. Das zeigte auch ihr Schussbild. So schlecht hatte sie seit ihren Anfängertagen in der Ausbildung nicht mehr geschossen.
Schönauer hatte sie kritisch beobachtet, konnte aber ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken, als er sah, wie Katharina die Waffe untersuchte. »Ich sehe, Sie sind meiner Meinung.«
»Die Dinger sind ja lebensgefährlich.«
»Mit der Mechanik können sie jederzeit einfach auseinanderfliegen. Die ganze verdammte Charge ist so. Und die hätten eigentlich morgen als Dienstwaffen rausgehen sollen.« Schönauer packte die Pistole zurück in den Koffer, den er anschließend auf den Handwagen warf. »Na, die werden was von mir zu hören bekommen. So eine Schlamperei habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Tja, das kommt davon, wenn die Devise nur noch ›Kosten sparen‹ heißt. – Und was wollen Sie hier?«, wandte er sich wieder an Katharina.
»Ich komme von Kriminaldirektor Polanski. Er bittet Sie, eine ballistische Untersuchung –«
»Nicht schon wieder! Was will Kapitän Ahab denn diesmal?«
»Wir hätten da eine Kugel zum Vergleich –«
»Die Kugel des Kapitän Ahab? Dann fahren Sie mal schön zurück nach Frankfurt und sagen Sie Polanski, dass er auf seine Untersuchungen warten kann wie jeder andere auch.«
»Es ist aber wichtig –«, wollte Katharina beginnen.
Doch Schönauer ließ sie nicht ausreden: »Es ist immer wichtig. Und natürlich ist es wichtiger als alles andere, ich weiß.«
»Sie würden uns einen riesigen Gefallen tun …«
»Natürlich würde ich das. Und richten Sie Polanski noch was aus: Es bringt überhaupt nichts, mir sein Anliegen durch eine attraktive Asiatin überbringen zu lassen. Ich bin glücklich verheiratet.« Um seine Aussage zu betonen, wedelte er mit seiner Hand vor Katharinas Gesicht herum: Am Ringfinger prangte ein dicker Goldring.
Katharina schluckte die Erwiderung herunter und zuckte mit den Schultern. Sie hatte ja noch eine Trumpfkarte im Ärmel.
»Nun gut, dann will ich Sie nicht weiter behelligen. Aber da ich gerade hier bin … Dürfte ich wohl mal kurz den Schießstand nutzen und meine neue Waffe justieren?« Mit diesen Worten nahm sie ihre Pistole aus der Handtasche.
Schönauers Augen leuchteten auf. »Ist das …?«
»Eine Stockert & Rohrbacher Modell 1«, erklärte Katharina mit so viel Gleichgültigkeit in der Stimme, wie sie aufbringen konnte.
»Ist die überhaupt schon im Handel?«, fragte Schönauer mit mühsam unterdrückter Begeisterung. Die Stockert & Rohrbacher Modell 1 war schon seit ihrem Prototypenstadium eine Legende.
»Nein, das ist ein Einzelstück. Handgefertigt«, erklärte Katharina, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Der Letzte, der wohl eine Waffe derart ehrfürchtig angestarrt hatte wie Schönauer die Modell 1, dürfte König Artus gewesen sein, als er Excalibur aus dem Stein gezogen hatte. »Darf ich mal?«
Katharina reichte ihm die Pistole. Schönauer wog das Gewicht der Waffe mit der Hand, nahm das Magazin heraus, blickte in den Verschluss und über das Visier, dann fragte er: »Ob ich wohl …?«
»Aber natürlich.«
Schönauer trat an die Balustrade, spannte eine neue Zielscheibe ein und ließ sie zurückfahren. Dann lud er die Pistole feierlich, zielte und schoss. Endlich war das Magazin leer und er legte die Waffe vor sich auf die Balustrade. »Ja, so muss sich das anfühlen. Das ist doch mal eine Pistole! – Darf ich fragen, wo Sie die herhaben?«
Die Pistole war das Geschenk ihres Patenonkels gewesen. Eine Tatsache, die Katharina vielleicht besser nicht an die große Glocke hängen sollte. Daher griff sie zu einer Notlüge: »Ich habe zu den Polizisten gehört, die die Waffe getestet haben. Und Frau Stockert und Frau Rohrbacher waren wohl sehr happy mit meinem Feedback. Da konnte ich ihnen dieses Modell abschwatzen.«
»Na ja, dass Sie so ein Sahneschnittchen sind, wird wohl auch geholfen haben.« Schönauer schlug ihr kumpelhaft auf die Schulter.
»Ach, die beiden sind …?«
»Ein Paar, aber sicher! Welche heterosexuelle Frau interessiert sich schon für Schusswaffen?«
»Nun, ich zum Beispiel.«
Endlich wurde Schönauer bewusst, was er gesagt hatte: genug, um ihn für die nächsten Monate in ein Anti-Sexismus-Seminar zu verbannen. Deshalb wechselte er hastig das Thema: »Wollten Sie nicht Ihre Waffe justieren?«
Katharina schmunzelte und trat an die Balustrade. Sie zog ein paar Mal trocken den Abzug der Waffe, dann bat sie Schönauer um einen Schraubendreher, den er aus der Innentasche seines Jacketts holte. Sie justierte vorsichtig den Abzug, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann lud sie die Waffe, spannte eine neue Zielscheibe ein und ließ sie auf zwanzig Meter Entfernung zurückfahren. Unter den kritischen Blicken von Schönauer zielte sie sorgfältig und schoss.
Der Ballistiker nickte anerkennend, als er das Schussbild sah. Nur fünf Zentimeter Streuung. Alle Treffer in der Mitte der Scheibe. »Nicht schlecht, Frau Specht. Aber Ihre Handhaltung ist verbesserungswürdig. Hier, wenn Sie den kleinen Finger und den Ringfinger so legen …«
Katharina ließ die kleine Lektion geduldig über sich ergehen. Man sollte ja Männern immer suggerieren, dass sie die Lufthoheit besaßen.
Endlich war Schönauer zufrieden: »Nun gut. Kommen Sie!«
»Wohin?«, fragte Katharina überrascht.
»In mein Labor. Lassen Sie uns mal schauen, was Polanski mir da geschickt hat. Ich habe zufällig gerade etwas Luft in meinem Kalender.«
***
Schönauer hatte Katharina und Andreas Amendt durch ein Labyrinth von Gängen in das ballistische Labor geführt. Dort legte er den braunen Umschlag auf eine Arbeitsplatte und öffnete ihn mit einem scharfen Messer. Er ließ den Inhalt herausgleiten, warf einen kurzen Blick auf das Formular und betrachtete dann die Kugel in der kleinen Plastikschachtel: »Dachte ich es mir doch. Die Kugel des Kapitän Ahab.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Katharina neugierig.
Schönauer verzog seine Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. »Die hier«, er klapperte mit der Kugel in der Plastikschachtel, »die schickt uns Polanski mit schöner Regelmäßigkeit. Wann immer er irgendwo auf ein mögliches Gegenstück trifft. Ich muss dieses Schätzchen bestimmt schon zwanzigmal unter meinem Mikroskop gehabt haben. – Aber immer ohne Erfolg. Tja, so ist das mit den ungelösten Fällen. Die werden irgendwann zur Obsession.«
Er nahm den Beutel mit der zweiten Kugel und hob ihn gegen das Licht. »Wenigstens stimmt diesmal das Kaliber.«
Mit lustloser Routine packte er die beiden Kugeln aus und spannte sie in das Vergleichs-Mikroskop. Skeptisch blickte er durch das Okular und justierte die Schärfe. Dann begann er, langsam an zwei Stellrädern zu drehen.
Katharina wusste, was er da machte. Pistolenläufe waren innen nicht glatt, sondern gezogen; das hieß, sie hatten in sich verdrehte Rillen, die die Aufgabe hatten, der Kugel beim Schuss einen Spin und damit eine stabilere Flugbahn zu geben. Diese Rillen hinterließen auf der Kugel ein charakteristisches Muster, das von Pistole zu Pistole fast so verschieden war wie Fingerabdrücke von Mensch zu Mensch.
»Holla!« Schönauer blickte vom Mikroskop auf. »Sieht so aus, als hätte Kapitän Ahab endlich seinen weißen Wal gefunden.«
Katharinas Puls schlug schneller: »Sie meinen …?«
»Na ja, offiziell würde ich wohl von siebzig bis achtzig Prozent Wahrscheinlichkeit sprechen. Für eine hundertprozentige Übereinstimmung bräuchte ich die Hülsen. Aber ganz inoffiziell: ja! Die Kugeln stammen aus der gleichen Waffe. Wenn auch eines merkwürdig ist … Meine Güte, ist Ihnen nicht gut? Sie sind beide ganz blass.«
Katharina schmeckte Kupfer. Der Geschmack von Adrenalin. Sie hatte also recht gehabt. Ministro war der Mörder ihrer Familie. Sie hatte es doch gesagt. Gewusst. Gehofft. Doch warum jetzt diese Panik? Warum würde sie am liebsten wegrennen, egal wohin, nur weit fort?
Aus dem Chaos in ihrem Kopf entstand die Antwort. Kristallklar. So schrill, dass es wehtat. »Ich töte keine Unschuldigen.« Das hatte Ministro zu ihr gesagt.
»Kommen Sie! Setzen Sie sich!« Schönauers Stimme riss Katharina aus ihrer Schockstarre. Doch sein Befehl hatte nicht ihr gegolten, sondern Andreas Amendt. Der Arzt fiel auf den Stuhl, den Schönauer ihm hinschob, wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Sein Gesicht war fahl. Katharina wusste, warum. »Die Kugeln stammen aus der gleichen Waffe.« Dieser so harmlose Satz hatte Amendt den Boden unter den Füßen weggerissen.
Es war ausgerechnet Ministro gewesen, der es Katharina erklärt hatte, damals, auf Mafia Island, als er für sie noch einfach Pfarrer Javier gewesen war, der gutmütige Geistliche. »Er ist ein Glaubender«, hatte er gesagt. »Seit sechzehn Jahren glaubt er fest daran, dass er Ihre Familie umgebracht hat. Und er wird sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, dass jemand diesen Glauben zerstört. Weil dann nichts mehr von ihm übrig bleibt.«
Katharina wollte Amendts Hand nehmen, doch im selben Augenblick hatte er sich schon wieder gefasst. »Wenn auch eines merkwürdig ist …?«, fragte er sachlich.
Schönauer sah ihn überrascht an: »Wie meinen?«
»Das haben Sie eben gesagt. Wenn auch eines merkwürdig ist …«
»Ach ja.« Schönauer schaltete einen großen Plasma-Bildschirm ein und legte am Mikroskop einen Schalter um. Auf dem Bildschirm erschien das stark vergrößerte Bild der beiden Kugeln. Der Ballistik-Experte deutete mit einem Kugelschreiber auf den Monitor: »Sehen Sie das? Die Muster zeigen zwar eindeutige Übereinstimmungen, aber das Geschoss hier auf der rechten Seite ist wesentlich älter. Sie können ziemlich deutlich die Verfärbung von der Korrosion sehen. Das andere Geschoss ist vielleicht drei Wochen alt. Aber die erste Kugel wurde vor mindestens zehn Jahren verschossen.«
»Vor sechzehn Jahren«, korrigierte ihn Katharina.
»Vor sechzehn Jahren, einem Monat und elf Tagen, um genau zu sein«, mischte sich Andreas Amendt ein.
Schönauer hatte sich schon wieder zum Monitor umgedreht, um seinen kleinen Fachvortrag fortzusetzen. Doch jetzt hielt er inne: »Darf ich fragen, woher die Geschosse stammen?«
Katharina warf Amendt einen Blick zu. Er nickte. Sie musste sich räuspern, bevor sie antworten konnte: »Die ältere Kugel gehört zu denen, mit denen meine Familie erschossen wurde.«
Schönauer sah sie einen Augenblick lang sprachlos an, dann schaltete er schnell den Monitor ab, nahm die beiden Kugeln aus dem Mikroskop, verpackte sie rasch, aber sorgfältig, schob sie zusammen mit dem Formular wieder zurück in den braunen Umschlag und legte den Umschlag in einen Tresor.
Endlich wandte er sich wieder an seine beiden Gäste: »Sie haben das hier nicht gesehen und kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe. Verstanden?«
Katharina nickte. Schönauer fuhr fort: »Ich schreibe gleich den Bericht für Polanski. Den hat er morgen auf seinem Schreibtisch.«
»Danke.« Katharina bekam das Wort gerade noch so raus.
Der Ballistik-Experte musterte sie einen Moment schweigend, dann befahl er: »Folgen Sie mir bitte. Sie beide.«
***
Schönauer führte sie in ein kleines Büro mit einer schalldichten Doppeltür. Er verschloss beide Türen sorgfältig, dann setzte er sich hinter den Schreibtisch. Er nahm eine Flasche Wodka und drei Schnapsgläser aus seinem Schreibtischschränkchen, goss ein und schob zwei der Gläser zu Katharina und Amendt hinüber: »Ich glaube, das hier können Sie jetzt brauchen. Bitte, trinken Sie.«
Andreas Amendt nahm sein Glas und nippte vorsichtig, Katharina ließ ihren Wodka unberührt. Sie trank nie, wenn sie noch Auto fahren musste. Nicht mal einen kleinen Tropfen. Schönauer nahm einen großen Schluck und ließ sich den Wodka langsam auf der Zunge zergehen, dann stellte er sein Glas ab: »Ihrer Reaktion vorhin entnehme ich, dass Sie auch wissen, woher die zweite Kugel stammt? Die Neuere?«
Katharina zögerte, doch Schönauer musterte sie so lange aus seinen emotionslosen Scharfschützenaugen, bis sie es nicht mehr aushielt: »Aus einem professionellen Hit.«
Schönauer runzelte die Stirn. »Welcher Profi benutzt denn eine Waffe, die nicht sauber ist? Und dann sogar eine, die bereits in einem prominenten Mordfall verwendet wurde?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Profi auch damals der Mörder war.«
»Noch ungewöhnlicher. Profis verwenden praktisch nie die gleiche Pistole zweimal.«
Schönauer hatte recht. Katharina stellte erstaunt fest, dass sich in ihre Enttäuschung eine gehörige Portion Erleichterung mischte. Vielleicht irrte sie sich doch und ihre Familie war von einem ganz anderen Menschen umgebracht worden. Das bedeutete allerdings, dass wieder alle Theorien im Spiel waren. Sie warf einen Blick auf Andreas Amendt: Nein, er hatte ihre Familie nicht umgebracht. Ganz bestimmt nicht. Punkt. Es musste noch eine andere Erklärung geben. Aber wie kam dann Ministro an die Mordwaffe?
»Sie wissen nicht zufällig, wer der Profi war?«, unterbrach Schönauer ihre Gedanken.
»Ministro.«
Bei der Nennung des Namens zuckte Schönauer zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten: »Sagen Sie das noch mal.«
»Ministro«, wiederholte Katharina. »Felipe de Vega hatte ihn auf mich angesetzt.«
»Und dann sitzen Sie jetzt hier? In einem Stück?« Schönauer wollte nach der Wodkaflasche greifen, um sich nachzuschenken, besann sich aber eines Besseren und verbannte die Flasche zurück in den Schreibtisch. »Wie sind Sie ihm entkommen?«
»Er hat mich laufen lassen«, antwortete Katharina zögernd. »Weil er mich für unschuldig hält.«
Schönauer sprang auf, ging zu einem Schrank und entnahm ihm einen prall gefüllten Schnellhefter aus Pappe. Bevor er die Mappe öffnete, konnte Katharina sehen, was darauf stand: »Ministro« – geschrieben mit dickem schwarzem Filzstift.
»Sie … Sie haben ihn gesehen?« Schönauers Stimme war kurz davor, sich zu überschlagen.
Katharina nickte.
Schönauer griff zum Telefon, wählte, dann fragte er schroff in den Hörer: »Kann der Herr Malinski mal zu mir herunterkommen? – Ach, wo ist er denn? – Verdammt. Ist sonst einer der Phantomzeichner im Haus? – Oh, das ist ärgerlich.« Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Dann wandte er sich wieder Katharina zu: »Können Sie mir eine Beschreibung geben?«
Katharina nickte und berichtete, während Schönauer in seiner kleinen, energischen und akkuraten Schrift mitschrieb.
***
»Und er verkleidet sich wirklich als Priester? Gute Tarnung«, sagte Schönauer widerwillig-anerkennend, nachdem Katharina geendet hatte.
»Nein, er ist Priester. Das hat er zumindest gesagt. Ich nehme an, er hat eine Gemeinde irgendwo in Südamerika.«
Schönauer legte den Stift weg. »Auf ganz absurde Weise passt das zu dem, was ich über ihn weiß. Ministro ist ein Geist. Nicht zu fassen. Nur einmal, in Argentinien, hatte ihn ein Sonderkommando gestellt. Er hat sich den Weg freigeschossen, aber keiner der Schüsse war tödlich. Er hat Gummigeschosse benutzt.«
»Ministro tötet keine Unschuldigen.« Und ihre Familie? Der Kupfergeschmack des Adrenalins, vermischt mit Galle, bahnte sich seinen Weg zurück in Katharinas Mund. Sie schluckte kräftig.
Andreas Amendt, der die ganze Zeit ruhig dabeigesessen und nur hin und wieder ein, zwei Worte in die Personenbeschreibung eingeworfen hatte, beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne: »Warum sind Sie so interessiert an Ministro? Fällt ja eigentlich gar nicht in Ihr Fachgebiet als Ballistiker.«
»Haben Sie eine Ahnung! Ich habe das Sonderkommando trainiert, das er ausgeschaltet hat. Außerdem bin ich oft als Gutachter im Ausland. Da konnte ich schon mehrfach die Arbeit von ihm und seinen Kollegen ›bewundern‹. Es gibt auf der ganzen Welt vielleicht zwei Dutzend ›Spezialisten‹«, er malte mit den Fingern die Anführungszeichen in die Luft, »wie Ministro. Und ich bin es leid, dass die uns auf der Nase herumtanzen, weil irgendjemand schützend die Hand über sie hält.«
»Schützend die Hand über sie hält?«
»Ministro ist jetzt weit über zehn Jahre im Geschäft. Nach meinen Unterlagen hat er mindestens vierzig Menschen auf dem Gewissen. Die meisten hat er aus nächster Nähe erschossen, aber er ist auch ein verdammt guter Scharfschütze. Niemand ist aus eigener Kraft so gut und überlebt so lange. Er hatte professionelles Training. Und er wird geschützt.«
»Von wem?«
»Es gibt genügend Organisationen mit besten Verbindungen, die Spezialisten wie Ministro brauchen.«
»Geheimdienste?«
»Zum Beispiel. Oder Organisationen wie die, zu der unser Eukalyptusbonbons lutschender Freund gehört.« Er wandte sich an Katharina: »Sie wissen, von wem ich spreche, oder? Von dieser unscheinbaren Eminenz, die Sie in Ihrer Anhörung verteidigt hat.«
Katharina erinnerte sich an den blassen Mann, dessen einziges prägnantes Merkmal war, dass er roch wie ein Koalabär. Er hatte in ihrer Anhörung im entscheidenden Moment das Video hervorgezaubert, das sie vor einer Verurteilung wegen Mordes bewahrt hatte.
»Ein Freund«, hatte er geantwortet, als Katharina ihn gefragt hatte, wer er sei.
Doch alle hatten sie vor ihm gewarnt: Richter Weingärtner, Kurtz, selbst Ministro. Vorsicht Tiger, sagte der Löwe.
Sie nickte: »Was wissen Sie über ihn?«
»Viel zu wenig. Aber es gibt immer Ärger, wenn er irgendwo auftaucht.«
»Wissen Sie, warum er so ein Interesse an der Ermordung meiner Familie hat?«
»Hat er das?«
»Er hatte meinem toten Partner die Ermittlungsakte zugespielt. Jetzt habe ich sie. – Also: Haben Sie irgendeine Idee …?«
»Nein, absolut nicht. Aber wenn er sich da reinhängt, dann geht es um was ganz Großes. Noch ein guter Grund für Sie übrigens, sich da so weit wie möglich rauszuhalten.« Er sah Katharina in die Augen. Sie sah unverwandt zurück, zwinkerte nicht und senkte auch nicht den Blick. Endlich fuhr Schönauer fort: »Aber ich glaube, meine Warnungen fallen nicht gerade auf fruchtbaren Boden, oder?«
Katharina antwortete nicht. Die Enden von Schönauers Schnauzbart hoben sich unter einem freudlosen Grinsen. »Nun, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mir helfen?«, fragte Katharina verblüfft.
»Ja. Brauchen Sie irgendetwas? Informationen? Munition? Eine zusätzliche Schusswaffe? Vielleicht irgendwas mit mehr Durchschlagskraft?«
»Warum wollen Sie mir helfen?« Allzu kooperative Menschen hatten meist ihre ganz eigene Agenda.
»Weil ich mir denken kann, was Sie jetzt vorhaben. Sie wollen Ministro in die Finger kriegen. Und das soll mir mehr als recht sein. Wenn ich also irgendwie helfen kann?«
Katharina überlegte kurz. Waffen und Munition würde sie nicht brauchen, aber ihr fehlte eine ganz entscheidende Information: »Wissen Sie, wie man mit Ministro Kontakt aufnehmen kann?«
Schönauer wiegte den Kopf hin und her und biss sich auf die Unterlippe: »Leider nein. – Aber ich kenne da vielleicht jemanden, der das weiß. Geben Sie mir eine Stunde oder so. Ich rufe Sie an.«
»Ich habe mein Handy leider nicht dabei. Und ich weiß nicht, ob ich in einer Stunde schon zu Hause bin.«
»Dann rufen Sie auf meinem Handy an«, mischte sich Andreas Amendt ein. »Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Nummer auf.«
***
Während sie sich durch den zähen Verkehr auf der Autobahn von Wiesbaden nach Frankfurt quälten, versuchte Katharina, ihre Gedanken zu ordnen.
»Ich töte keine Unschuldigen.« Ministros Satz hallte wieder und wieder durch ihren Kopf. War das damals auch schon so gewesen? Und wenn ja: Was hatte das zu bedeuten?
Der Einzige, der ihre Eltern gut genug gekannt hatte und ihr hoffentlich auch die Wahrheit sagen würde, war ihr Patenonkel Antonio Kurtz.
Ohne ihren Beifahrer anzusehen, fragte Katharina: »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt erst mal italienisch essen gehen, Doktor Amendt?«
Statt einer Antwort kam nur ein lautes Aufschluchzen. Amendt weinte. Das hatte Katharina vorher überhaupt nicht gemerkt.
Gott sei Dank kamen sie in diesem Augenblick an einer Raststätte vorbei. Katharina bog ein und fuhr zum hintersten Ende des Parkplatzes. Sie stellte den Motor ab und … Was sollte, was konnte sie sagen oder tun?
Sie gehorchte ihrem Instinkt, lehnte sich zu Andreas Amendt hinüber, nahm ihn fest in die Arme und zog ihn an sich. Sein Körper bebte unter heftigen Schluchzern.
Endlich beruhigte er sich halbwegs und Katharina ließ ihn wieder los. Seine Augen waren rot, sein Gesicht von Tränen und Rotz verschmiert, seine Stimme zittrig: »Ich habe nie um Susanne geweint.«
***