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Bomb Westendplatz Frankfurt am Main,
ein paar Sekunden später

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Dicke Blutstropfen, die rotgeränderte Löcher in den weißen Schnee schmolzen.

Hirnmasse, die aus dem zersprengten Schädel rann und auf den Boden klatschte.

Tote Augen, die sie anklagend anstarrten.

Gleich würde er sie packen. Gleich …

Noch schlimmer: Der Mörder konnte nicht weit sein.

Katharina riss sich vom Anblick der Leiche los. Sah sich um, halb geduckt, die Hand am Griff ihrer Pistole, doch um sie herum herrschte Stille, zusätzlich gedämpft durch den immer dichter fallenden Schnee.

Schnee! Spuren! Der Schnee würde die Spuren zudecken! Dieser Gedanke endlich schreckte Katharina aus ihrer panischen Trance auf; ihr Notfallprogramm setzte ein, tausendmal geübt: Lebenszeichen suchen – Notruf absetzen – Tatort sichern.

Schnell zog Katharina ihre Handschuhe aus, streifte stattdessen ein paar Einweghandschuhe über und tastete nach dem Puls am Hals des Mannes mit den Eukalyptuspastillen: nichts.

Erste Hilfe? Eigentlich war sie dazu verpflichtet. Den Tod konnte nur eine dafür ausgebildete Fachkraft feststellen. Außer bei nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Verletzungen. Zählten ein fehlender Hinterkopf und ein über die Kopfstütze des Mercedes und das Straßenpflaster verteiltes Gehirn dazu?

Nächster Schritt: Notruf absetzen. Die Kollegen alarmieren. Einen Krankenwagen. Katharina tastete in ihrer Handtasche nach dem Handy … Verdammt! Sie hatte es zu Hause gelassen, damit es weiter aufladen konnte.

Natürlich waren bei diesem Wetter keine anderen Passanten unterwegs, die sie hätte um Hilfe bitten können. Was nun? Die Wohnhäuser um den Westendplatz herum abklappern, ob jemand öffnete und die Polizei alarmierte? Oder schnell zur Jüdischen Gemeinde sprinten? Dort stand immer ein Streifenwagen. Aber konnte sie wirklich den Tatort unbeaufsichtigt lassen? Was, wenn der Täter doch noch in der Nähe war? Die Zeit nutzte, um Spuren zu verwischen?

Oder …? Natürlich! Der Mann mit den Eukalyptuspastillen hatte sie angerufen. Von einem Handy. Das musste doch irgendwo sein. Mit ihrer kleinen Taschenlampe leuchtete sie ins Wageninnere. Auf dem Beifahrersitz lag ein schmaler metallener Aktenkoffer, geöffnet und leer. Das Handschuhfach enthielt nur das Handbuch des Wagens und die Scheckheftmappe. Die Handyhalterung am Armaturenbrett – leer. Auch der Autoschlüssel steckte nicht. Der Täter musste ihn mitgenommen haben. Auf der Rückbank lag ein Mantel; sie griff vorsichtig in die Taschen. Nichts.

Es half nichts. Sie würde die Leiche durchsuchen müssen. Mit spitzen Fingern griff sie in die äußeren Jacketttaschen. Nur eine Packung Taschentücher und die Dose mit den Eukalyptuspastillen, aus der sich der Mann immer bedient hatte. Die Innentaschen waren beide leer. Katharina fiel auf, dass die linke Innentasche eingerissen war. Dort hatte vermutlich die Brieftasche gesteckt. Ebenfalls gestohlen.

Und der Inhalt des Aktenkoffers? Er hatte vermutlich die Unterlagen enthalten, die ihr der Mann mit den Eukalyptuspastillen hatte übergeben wollen. Verdammt, auch die letzte Spur zum Teufel! Sie besah sich den Aktenkoffer noch einmal genauer. Gebürstetes Aluminium, mit schwarzem Leder ausgeschlagen, fünfstelliges Zahlenschloss, am Handgriff war eine Kette mit einer Handschelle befestigt. Vorsichtig schob Katharina ihre Hand in das Fach im Deckel des Koffers. Ihre Finger stießen auf eine Visitenkarte: »Hartmut Müller, Controlling, KAJ«. Ohne lange nachzudenken, schob Katharina die kleine Karte in ihre Jackentasche. Dann trat sie einen Schritt zurück. Was hatte ihr Spurenkunde-Lehrer an der Polizeihochschule immer gepredigt? »Versuchen Sie stets, den Tatort als Ganzes zu sehen. Ignorieren Sie auch einmal das Offenkundige.«

Teurer Koffer, Handschelle … Irgendetwas störte Katharina an diesem Bild. Sie versuchte, sich ihre Begegnungen mit dem Toten vorzustellen. Bei ihrer ersten Anhörung, als er sie verteidigt hatte. Das Zusammentreffen in Polanskis Büro, als er sie vor Ministro gewarnt hatte. Nie hatte er diesen Aktenkoffer bei sich gehabt. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich darüber aufgeregt hatte, dass das Einzige, was er bei ihrer Anhörung vor sich liegen hatte, seine Dose mit Eukalyptuspastillen gewesen war.

Natürlich! Dieser Koffer mit Handschelle posaunte »Ich bin Geheimnisträger!« in die Welt hinaus. Viel zu theatralisch. Ein Requisit. Ein Ablenkungsmanöver. Der Mann hatte Wert darauf gelegt, die personifizierte Unscheinbarkeit zu sein. Die Eukalyptuspastillen waren das einzig Auffällige an ihm gewesen. Eine Marotte.

Moment, Eukalyptuspastillen? Vorsichtig zog sie die Pastillendose noch einmal hervor und betrachtete sie. Weißes Blech, an den Kanten abgeschabt, verblasstes Firmenetikett: eine unauffällige Dose. Unauffällig wie ihr Besitzer.

Sie klappte die Dose auf. Noch fünf Pastillen lagen darin. Seltsam, denn die Dose fühlte sich schwerer an. Katharina kippte die Pastillen in eine Hand, klappte die Dose zu und schüttelte sie leicht. Irgendetwas klapperte. Die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, betastete sie das Innere der Dose. Der Boden war viel zu dick und an einer Stelle etwas nach oben gebogen. Vorsichtig drückte sie mit dem Daumen auf diese Stelle. Der Boden klappte auf: ein Geheimfach. Es enthielt eine SD-Speicherkarte.

Sie wollte die Dose schon wieder zuklappen und zurückstecken, doch dann fiel ihr Blick noch einmal auf den Aktenkoffer. Der Mann mit den Eukalyptuspastillen musste geahnt haben, dass er verfolgt wurde. Wozu sonst die ganze Theatralik mit der Handschelle? War die Speicherkarte für sie bestimmt gewesen? Wenn ja, hatte der Mann sein Leben dafür riskiert, dass Katharina sie erhielt. »Vertrauen Sie niemandem!« Vielleicht seine letzten Worte.

Rasch ließ sie die Speicherkarte in der Brusttasche ihrer Lederjacke verschwinden, klappte die Dose zu und schob sie zurück in die Jacketttasche des Mannes.

So … Was wollte sie noch mal? Richtig, der Notruf!

Verdammtes Handyzeitalter. Früher hatte es an jeder Ecke Telefonzellen gegeben. Sie würde es bei den Wohnhäusern probieren müssen.

Wo brannte Licht? Nur in einem Haus, vielleicht zwanzig bis dreißig Meter entfernt. Sie würde kurz den Tatort verlassen müssen. Nicht gut, aber unvermeidbar.

Sie wollte gerade ihren Fuß auf die Straße setzen, als ein großer SUV um die Ecke bog. Der Wagen hielt, statt sich durch die schmale Gasse zwischen den Autos auf der anderen Straßenseite und dem Mercedes des Mannes mit den Eukalyptuspastillen zu quetschen. Wütendes Hupen.

Na, sollte er doch. Moment! Vielleicht hatte der Fahrer ein Handy. Katharina ging zur Fahrerseite des Wagens und klopfte an die Scheibe.

»Fahren Sie Ihre verdammte Scheißkarre weg!«, blaffte der Mann sie an. Schütteres Haar, Anzug. Versicherungsmakler oder Banker, der mit seinem Wagen die Balance zwischen Midlife-Crisis und Familienleben zu finden versuchte.

»Haben Sie zufällig ein Handy?«, fragte Katharina im freundlichsten Ton, den sie aufbringen konnte.

»Liegen geblieben? Na typisch! Frau am Steuer! Vergessen zu tanken, was?«

Der Mann betätigte den Fensterheber, doch Katharina war schneller. Im selben Moment hatte sie den Mann an seiner Krawatte gepackt, ihn halb durchs Fenster gezogen und ihm ihren Dienstausweis ins Gesicht gehalten.

»Ich bin Kriminalpolizistin im Einsatz und das hier ist ein Tatort! Und wenn Sie mir nicht auf der Stelle Ihr verdammtes Handy geben, nehme ich Sie wegen Behinderung der Justiz und Widerstands gegen die Staatsgewalt fest!«

»Schon gut, schon gut.« Eingeschüchtert reichte ihr der Mann sein Smartphone.

»Na bitte, warum denn nicht gleich so?« Katharina ließ ihn los, nahm das Handy und wählte 110. Nachdem sie den Notruf abgesetzt hatte, reichte sie das Telefon höflich zurück: »Ich muss Sie leider bitten, zurückzusetzen und andersherum zu fahren.«

»Aber das ist ja dann gegen die Einbahnstraße«, erwiderte der Mann kleinlaut.

»Ich bin nicht von der Verkehrspolizei. Und es sind auch nur zwanzig Meter. Ich nehme das im Zweifelsfall auf meine Kappe.«

Beruhigt ließ der Mann die Scheibe wieder hochfahren, setzte artig zurück und fuhr langsam in die andere Straße. Zum Glück hatte er keinen Gegenverkehr.

Katharina atmete tief aus. Jetzt hieß es warten. Eigentlich sollte zuerst ein Streifenwagen kommen, um den Tatort zu sichern. Aber wegen des Schnees, so hatte es ihr der Kollege in der Notrufzentrale gesagt, waren alle Wagen im Einsatz. Also musste sie selbst sichern und in der Kälte ausharren.

Um nicht am Boden festzufrieren, ging sie langsam um den Wagen herum, bemüht, immer nur in ihre eigenen Fußstapfen zu treten.

Fußstapfen! Fußspuren! Im Schnee gut zu sehen, aber nicht ganz so einfach zu sichern. So hatte sie es in der Spurenkunde gelernt. Eine Spur führte vom Wagen weg quer über den Westendplatz. Die ersten Schritte auf jungfräulichem Schnee. Die Fußspuren des Mörders? Katharina betrachtete die Abdrücke im Schein ihrer Taschenlampe. Feste, grobe Sohlen. Stiefel. Aber sie waren klein. Höchstens Größe 38 oder 39. Der Täter musste kleine Flüsse haben. Frauenfüßchen. Katharina ertappte sich dabei, dass sie hysterisch kicherte.

***

Dolphin Dance

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