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Crazeology Montag, 26. November 2007

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Katharina setzte sich mit einem Ruck in ihrem Bett auf.

Glücklicherweise hatte das Telefon rechtzeitig geklingelt, bevor ihr Traum endgültig entwürdigend geworden war.

Ärgerlich stellte sie fest, dass ihre Brustwarzen sich aufgerichtet hatten und gegen den Stoff ihres T-Shirts drückten. Sie sollte rasch den Delfin in ihrer Nachttischschublade einweihen und dann wieder schlafen. Aber – was hatte sie noch mal geweckt?

Das Telefon aus ihrem Traum klingelte immer noch. Sie sah auf die Uhr. Kurz vor halb sechs. Wer auch immer so früh anrief, hatte hoffentlich einen sehr guten Grund. Sie antwortete mürrisch: »Hallo?«

»Guten Morgen, Katharina.« Schlief Polanski eigentlich nie? »Ich wollte Sie noch einmal an Ihren Termin mit dem Psychologen erinnern. Doktor Sturmer erwartet sie um Punkt halb neun.«

Katharina gähnte zur Antwort.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

»Nein. Das Telefon hat ohnehin geklingelt.«

»Dann ist’s ja gut. – Oh! Hören Sie, ich würde Sie nicht wecken, wenn es nicht ungeheuer wichtig wäre. Hölsung veranstaltet eine echte Hexenjagd gegen Sie. Wir brauchen jeden Punkt, den wir kriegen können. Also seien Sie heute bitte anständig, verantwortungsvoll –«

»Kurz, eine gute Polizistin. Sonst noch was?«

»Ach ja, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Danke, Chef.«

Katharina ließ sich auf ihr Bett zurücksinken. Es nützte nichts: Sie war wach. Und die Stunde Schlaf lohnte auch nicht mehr.

Leise ging sie ins Bad und stieg unter die Dusche. Heiß, kalt, heiß, um den Kreislauf in Gang zu bringen, dann ein angenehmes Lauwarm. Shampoo, Haarspülung, vitalisierende Haarpflege. Sie griff zu Schaum und Rasierer; es wurde wieder mal Zeit, nachdem sie am Freitag ihren Ladyshave-Tag versäumt hatte. Achseln, Beine, Bikinizone.

Sie spülte die Reste des Rasierschaums gründlich ab und griff zu ihrem Lieblings-Duschgel. Sündhaft teuer, aber was soll’s? Es war ja ihr Geburtstag.

Endlich stieg sie aus der Dusche und trocknete sich ab. Sie föhnte und bürstete die langen, glatten, schwarzen Haare, bis sie glänzten. Zufrieden betrachtete sie sich im großen Spiegel an der Badezimmertür: Ihre Figur war schlank, muskulös, ihre Brüste fest, die kleinen braunen Brustwarzen hatten sich in der morgendlichen Kühle aufgerichtet. Nicht schlecht für dreiunddreißig.

Sorgsam manikürte sie sich die Fingernägel. Nagellack? Sie entschied sich dagegen, nur eine dünne Schicht Nagelpflege.

Während sie darauf wartete, dass die Nagelpflege trocknete, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Eigentlich auch nicht schlecht: hohe Wangenknochen, vielleicht etwas zu volle Lippen, graugrüne Augen, asiatisch mandelförmig, die Haut glatt, nur einen Hauch von Lachfältchen – nicht der Rede wert. Sie zupfte ein paar überflüssige Härchen aus den Augenbrauen und zog einen sanft geschwungenen Lidstrich.

Mochte Andreas Amendt eigentlich Asiatinnen? Nicht doch! Sie wollte für sich gut aussehen, immerhin war heute ihr Geburtstag!

***

Katharina hatte nie viel für Frauen übriggehabt, die jammerten, sie hätten nichts zum Anziehen. Und doch stand sie selbst ratlos vor ihrem geöffneten Kleiderschrank: Es war ja schließlich so etwas wie ein Feiertag. Und beim Psychologen sollte sie vielleicht auch etwas eleganter erscheinen.

Sie entschied sich für ein seidenes Bustier, einen bestickten Tanga und schwarze Seidenstrümpfe. Damit waren die schwersten Entscheidungen schon mal gefällt.

Und jetzt? Jeans und Sweatshirt? Oder Kostüm? Ja, sie hatte tatsächlich ein Kostüm. Für Aussagen vor Gericht. Endlich fiel ihre Wahl auf eine schwarze Stoffhose, eine schwarze, silbergrau bestickte chinesische Bluse mit Stehkragen und Halbschuhe mit erträglichem Absatz.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Irgendetwas fehlte. Sie nahm die Silberkette mit dem Jadestein aus der kleinen Schatulle auf der Kommode, in der sie ihren Lieblingsschmuck aufbewahrte. Thomas, ihr Kollege, hatte ihr den Stein geschenkt.

Einen kleinen Augenblick musste sie innehalten. Sie schämte sich. Fast das ganze Wochenende hatte sie nicht an ihren Partner gedacht. Als ob die drei Jahre ihrer Zusammenarbeit schon völlig ausgelöscht waren. Zu einem anderen Leben gehörten.

***

Als Katharina in die Küche kam, saß Laura bereits am Küchentisch. Ihre Haare waren noch feucht. Sie musste selbstständig geduscht haben. Das Mädchen strahlte, als sie Katharina sah: »Du siehst heute aber hübsch aus!«

»Danke, Laura. – Willst du dir nicht die Haare föhnen? Sonst holst du dir noch einen Schnupfen.«

»Ich komm nicht an den Föhn.«

Katharina nahm Laura an die Hand, ging mit ihr ins Bad und begann, Laura die Haare zu föhnen. Das Mädchen hatte sehr feine Haare, die Katharina vorsichtig bürstete. Zuletzt band sie dem Mädchen einen Pferdeschwanz mit einem schwarzen Samtband. Laura mochte das: »Jetzt bin ich auch hübsch.«

»Aber gut drauf aufpassen!«

»Klar!«

»Du bist schon groß, ich weiß! So, und jetzt gibt es Frühstück.«

***

Katharina schmierte Laura gerade ein Brot mit Marmelade, als das Telefon klingelte. »Kannst du mal rangehen, Laura?«

Das Mädchen lief in den Flur zum Telefon. »Hier ist der Anschluss von Katharina Klein. Ich bin Laura?«

Der Anrufer würde vor Schreck am Herzinfarkt sterben.

»Ja, sag ich ihr. Worüber? Ja, klar. Ich bin doch schon fast fünf. Auf Wiederhören.«

Laura kam in die Küche gestapft.

»Und? Wer war das?«

»Das war ein Herr Kurtz. Du sollst dich nicht wundern, hat er gesagt.«

Typisch Antonio. »Hat er auch gesagt, worüber?«

»Nein. Außerdem …«

»Ja …?«

Laura schob die Unterlippe vor. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du heute Geburtstag hast.«

»Das ist doch nicht so wichtig, Laura.«

»Doch. Ich hab gar kein Geschenk für dich.«

»Aber das macht doch nichts. Weißt du, Frauen wollen manchmal gar nicht daran erinnert werden, dass sie älter werden.«

»Das hat Mama auch gesagt.«

»Und?«

»Sie hat gesagt, sie wird jedes Jahr fünfundzwanzig.« Laura dachte angestrengt nach. »Das ist auch schon ganz schön alt, oder?«

***

»Sie sind also Katharina Klein?« Katharina hatte sich an skeptische Blicke gewöhnt. Arnulf Sturmer sah schließlich auch nicht aus wie ein Polizeipsychologe. Eher wie ein in die Jahre gekommener Preisboxer.

»Sie haben mit angesehen, wie Ihr Kollege Thomas Henrich erschossen wurde?«, fragte der Psychologe knapp.

»Nein, nicht gesehen. Nur gehört.«

»Und Sie wiederum haben die beiden Täter zur Strecke gebracht?«

»Ich habe sie erschossen, ja. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern.« Immer schön sachlich bleiben.

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Arnulf Sturmer muffelig.

»Ich dachte, ich müsste –«

»Wollen Sie krankgeschrieben werden? Berufsunfähig? Eine Empfehlung für den Innendienst?«

»Was? Nein, ich will so schnell wie möglich zurück in den Dienst.«

»Zurück in den Dienst? Das ist ja was ganz Neues.«

»Wieso?«

»Weil die meisten, die hier sitzen, Waschlappen sind. Jammern mir was vor von wegen Schlafstörungen und so. Als ob sie nicht damit rechnen müssten, auch mal zu schießen, wenn man ihnen eine Waffe in die Hand drückt.«

Er wollte sie provozieren, ganz klar. Also ruhig bleiben. »Keine Schlafstörungen. Keine Probleme.«

»Und was wollen Sie dann hier?«

»Mein Chef hat mich zu Ihnen geschickt. Hat er Ihnen meine Akte nicht gegeben?«

»Doch, Moment.« Der Psychologe stand auf und wühlte sich durch einen Stapel Akten, die unordentlich auf einem Stuhl lagen. »Hier.«

Er setzte sich wieder, schlug den Papphefter auf und vertiefte sich in die Lektüre. Hin und wieder murmelte er »so, so« und »interessant«.

Katharina widerstand dem Drang, auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Anstatt die Arme zu verschränken, legte sie die Fingerspitzen aneinander. So hatte es der Lehrer für Defensivrhetorik gezeigt. Vielleicht zahlte sich dieser Kurs, den sie im Sommer als Strafmaßnahme hatte absolvieren müssen, doch noch aus. Diese Körperhaltung sollte entspannt und offen wirken, doch Katharinas Nackenmuskeln verkrampften sich.

Mit Schwung schlug Arnulf Sturmer die Akte zu. »Beeindruckend. Dreimal in Serie Polizeischützenmeisterin. – Was schießen Sie?«

»Was ich …?«

»Was für eine Waffe?«

»Das Übliche. Eine Heckler & Koch P 2000.«

Der Psychologe musterte sie wieder skeptisch. »Und die können Sie halten?«

»Klar, ich bin doch schon groß.«

»Was?« Arnulf Sturmer zog missbilligend seine Augenbraue hoch.

»Ich meinte, ich komme mit der Waffe gut zurecht.«

Der Psychologe öffnete die Akte wieder. »Hier steht, dass die Schießerei von der Internen Ermittlung untersucht wird. Und dass Sie bis auf Weiteres suspendiert sind.«

»Wenn’s da steht.«

»Empfinden Sie das als gerecht und angemessen?« Grundkurs Verhör I, spontane Fangfrage.

»Nein«, antwortete Katharina. »Die beiden Täter wollten gerade anfangen, Geiseln zu erschießen.«

»Und Sie wollten natürlich ihren toten Kollegen rächen.«

Katharina hielt Arnulf Sturmers durchdringendem Blick stand. Schließlich zuckte er mit den Achseln. »Scheint ja sowieso nur Abschaum gewesen zu sein.«

»Es war Notwehr. Wenn es eine andere Lösung gegeben hätte …«

»Natürlich. Wissen Sie, ich habe viel mit Drogensüchtigen gearbeitet. Da wünscht man schnell alle Dealer zur Hölle. – Aber in der Akte steht auch, Sie hätten einen Kollegen mit der Waffe bedroht.«

»Nun, ich dachte, er ermittelt verdeckt. Ich wollte seine Tarnung nicht auffliegen lassen und hab ihn festgenommen.«

»Eine fingierte Übergabe in einem öffentlichen Parkhaus?«

»Nicht meine Idee. Mein Partner und ich sind zufällig hineingeraten.«

»Dilettantenarbeit.« Arnulf Sturmer spuckte das Wort aus. »War der Polizist, den Sie festgenommen haben, zufällig Berndt Hölsung?«

Stand das nicht in der Akte? Katharina bejahte.

»Hat er die Übergabe eingefädelt?«

»Ich nehme es an.«

»Mal wieder im Alleingang, oder? Sie hätten ihn ebenfalls erschießen sollen. Damit hätten Sie der deutschen Polizei einen großen Dienst erwiesen.«

Wollte Sturmer sie provozieren? »Wie meinen Sie das?«

»Vergessen Sie’s. Bleiben wir mal dabei, dass ich mit diesem Waschlappen meine Erfahrungen habe. – Und jetzt?«

Vielleicht war die Wahrheit das Beste. »Ich brauche ein gutes Tauglichkeitszeugnis von Ihnen.«

»Stimmt. Hier steht, ich soll ihre psychische Stabilität testen.«

Er griff in sein Jackett und zog seine Pistole hervor, die er auf Katharina richtete. Es sollte wohl schnelles Ziehen sein, doch Katharina hätte ihn dreimal kampfunfähig am Boden gehabt, noch bevor seine Waffe überhaupt das Holster verlassen hatte.

Sie blieb ruhig sitzen, während der Psychologe sie weiterhin anvisierte.

»Sie haben weder durchgeladen noch entsichert. Und Sie sollten die Waffe besser pflegen. – Mal abgesehen davon, haben Sie gerade so ungefähr zwanzig Gesetze gebrochen.«

Arnulf Sturmer lachte zufrieden auf. »Keine Sorge. Das ist eine Attrappe. Die meisten Ihrer Kollegen hätten sich jetzt schon eingenässt.« Er schob die Waffe zurück ins Holster.

»Waschlappen.«

»Meine Rede. – Schreckhaft sind Sie also nicht. Und Ihre Lebensführung?«

»Meine Lebensführung?«

»Ja, die Interne Ermittlung wühlt auch ganz gern im Privatleben. Sie sind nicht verheiratet?«

»Nein.«

»Liiert?«

»Nein.«

»Lesbisch?«

»Nein.« Katharina verkniff sich mit Mühe ein Lachen.

»Was ist daran komisch?«

»Nichts. – Wäre das denn ein Problem?«

»Wäre es eines für Sie?«

»Weiß ich nicht. Ich bin nicht lesbisch.«

»Nie probiert?«

»Doch. Daher weiß ich, dass ich nicht lesbisch bin.«

Arnulf Sturmer stockte. »Aha. Ja. – Kinder?«

»Nein. Das heißt, ich habe zurzeit eines zur Pflege, aber nur für kurze Zeit. Laura. Die Tochter meiner Nachbarin.«

»Ach ja, richtig. Polanski hat so was angedeutet. – Und? Wie kommen Sie mit dem Kind zurecht?«

»Gut.«

»Man gewöhnt sich schnell dran, nicht wahr?«

War das wieder eine Fangfrage? »Ach, ich kannte Laura ja schon.«

»Meine Ex hat auch zwei Kinder. Vermisse sie manchmal. Die Kinder. Nicht die Ex.«

Katharina nickte sicherheitshalber verständig.

»Wollen Sie eigene Kinder?«

Eigene Kinder? Katharina hatte noch nie darüber nachgedacht. »Im Augenblick wohl eher nicht.«

»Wie alt sind Sie noch mal?« Er schlug ihre Akte wieder auf. »Ach ja, dreiunddreißig. Alles Gute zum Geburtstag übrigens. Da kommen Sie ja in das Alter, wo viele Frauen … Und gerade jetzt, wo Sie mit einem Kind konfrontiert sind – Laura?«

»Ja, Laura.« Katharinas Nacken begann zu kribbeln. Kinderwunsch? Hatte Laura nicht gesagt, ihre Mutter hätte ihr ein Schwesterchen versprochen? Und die Kondome? Verpackt wie fürs Labor?

»Woran denken Sie?«, holte sie die Stimme des Psychologen in die Realität zurück.

»Ach, ich dachte gerade … nicht wichtig.«

»Ein Kinderwunsch?«

»Ja, aber nicht meiner.«

Arnulf Sturmer wirkte zum ersten Mal ernsthaft interessiert. Er beugte sich neugierig vor: »Ein Fall?«

»Eher eine Überlegung. Sagen Sie, Frauen mit einem starken Kinderwunsch tun doch sicher häufiger seltsame Dinge, oder?«

»Das können Sie laut sagen.« Der Psychologe lachte. »Ich sag nur: Samenraub!«

Samenraub? War es das? Vielleicht …

»Sehen Sie, wir haben da etwas Seltsames gefunden.« Katharina berichtete so knapp wie möglich von den Kondomen, der Nummerierung.

Arnulf Sturmer kratzte sich am Kinn. »Könnten natürlich Trophäen sein. Ist aber bei Frauen eher selten. – Klingt für mich eher so, als würde die Frau den Idealvater suchen. Oder besser den Idealerzeuger. Genetisch. – Ist gerade so eine Welle, wissen Sie? Genetisch optimierte Kinder.«

»Abartig.«

»Sage ich auch. Aber es gibt Menschen, die diese Meinung vertreten. Hier in Frankfurt zum Beispiel Fischer-Lause.«

»Wer ist das?«

»Eine Ärztin an der Uniklinik. Hat dort einen Lehrstuhl für Genforschung. Vertritt die Meinung, dass nur Kinder mit optimalen Erbanlagen gezeugt werden dürfen.«

»Klingt aber sehr –«

»Rassistisch. Ja. – Hat die Frau schon ein Kind?«

»Ja.«

»Gesund?«

»Soweit ich weiß.« War Laura krank? Katharina glaubte es nicht. Sie hätte in der Wohnung bestimmt Hinweise gefunden, Medikamente. Und die Kindergärtnerin wüsste sicher Bescheid und hätte sie darauf hingewiesen.

»Nun, es wäre möglich, dass die Frau den idealen Vater finden will und die Spermien untersuchen lässt.« Arnulf Sturmer kramte in einem Aktenschrank und zog ein Buch hervor, das er Katharina gab:

»Gute Gene – Chance der Zukunft« lautete der Titel. Die Autoren waren Prof. Dr. med. Annemarie Fischer-Lause und … Prof. Dr. med. Markus Henthen.

»Kann ich mir das mal ausleihen?«, fragte Katharina rasch.

»Natürlich. Aber wiederbringen!«

»Versprochen. – Ach, kennen Sie zufällig auch diesen Henthen?«

»Nur über das, was man in der Klinik so erzählt. Superstar der Reproduktionsmedizin. Und …« Er unterbrach sich.

»Und?«, bohrte Katharina nach.

»Übler Bursche. Streitsüchtig. Elitär. Intrigant. Angeblich ist er der praktische Arm von Fischer-Lause.«

Katharina schob das Buch in ihre Handtasche. Arnulf Sturmer setzte sich wieder. »Tja … – Dann werde ich mal meinen Bericht schreiben.«

»Und?«

»Ich wüsste nicht, was der Aufhebung Ihrer Suspendierung im Wege stehen sollte. Aber seien Sie vorsichtig mit Hölsung. Ich habe mehr als eines seiner Opfer hier sitzen gehabt.«

***

Jeannies Nase war wundrot, ihre Augen verquollen. Mit wenig Begeisterung schob sie sich einen Löffel Hustensaft in den Mund. Sie nickte Katharina zu und versuchte, den Löffel zwischen den Zähnen, zu lächeln. Eine Kleenexbox auf dem Schreibtisch hatte, nach dem Füllstand des Papierkorbs zu schließen, schon reichlich bluten müssen.

Katharina beugte sich sorgenvoll vor: »Sie sehen aber gar nicht gut aus.«

»Sch’upf’n«, ächzte Jeannie mit verstopfter Nase. Sie griff erneut nach der Kleenexbox und versenkte einen Nieser in das frische Tuch.

»Gesundheit. – Sollten Sie nicht lieber zu Hause im Bett liegen?«

»Kann ’och An’reas nich’ ’leinlass’n.« Jeannie warf das Taschentuch in den Papierkorb. »Wart’ übri’ngs auf Sie. Da drin …« Sie deutete auf eine unscheinbare Tür.

»Danke. – Gute Besserung.«

Katharina konnte sich ihre Schadenfreude wirklich nicht erklären. Das arme Mädchen.

Sie öffnete die Tür, die zu Andreas Amendts Büro führte. Der Rechtsmediziner war gerade dabei, Kaffee einzuschenken. Er sah zu ihr auf: »Auch einen?«

Vor dem Schreibtisch saß Eric Neurath, der Neurologe. Er erhob sich und reichte Katharina die Hand. »Es ist eine Katastrophe. – Meine gesamten Unterlagen zu Frau Wahrig sind weg. Und in der Radiologie sind alle Daten gelöscht. Computerfehler. Angeblich.« Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken.

Katharina nahm den Kaffee, den Andreas Amendt ihr reichte: »Kann man nicht einfach neu röntgen?«

»Das hat Metzel schon gemacht. – Hier, sehen Sie.«

Andreas Amendt schaltete einen Röntgenfilmbetrachter ein. Katharina sah das Bild eines Schädels mit einem runden Loch.

»Das ist alles meine Schuld«, erklärte Dr. Neurath. »Ich musste bei der Operation die Wundränder glätten.«

»Und die Splitter?«

»Entsorgt. Irgendwo im organischen Müll, vermutlich schon verbrannt.«

»So ein Mist!« Katharina nahm einen großen Schluck Kaffee. »Aber die Prellung, die wir gefunden haben … Der Handabdruck.«

»Auch nicht mehr nachzuweisen«, antwortete Andreas Amendt. »Doktor Metzel hat nicht darauf geachtet, bevor er den Schädel geöffnet hat. Dabei hat er die Gesichtsmuskeln durchtrennt und Restblut ist ins Gewebe gelaufen. Metzel ist ein herausragender Theoretiker. Doch die Praxis? Die war eigentlich meine Aufgabe. Aber ich bin ja suspendiert.«

»Aber können Sie nicht trotzdem nach der Leiche sehen? Ich meine, vielleicht lässt sich noch was retten.«

»Damit würde ich die ganze Untersuchung kompromittieren. Außerdem …« Er hielt inne.

»Ja?«, drängte Katharina.

»Meine Ausweiskarte für die Leichenhalle ist gesperrt. Alexandra Taboch liegt auch da unten.«

»Fassen wir also zusammen: Wir haben eine Leiche, an die wir nicht herankönnen, die pathologischen Beweise dafür, dass sie getötet wurde, sind allesamt vernichtet.«

»Und wir haben eine exzellente spurenkundliche Analyse durch zwei anerkannte Experten«, setzte Andreas Amendt fort, »die es offiziell gar nicht gibt. Zudem haben wir nicht mal einen Verdächtigen.«

»Nein, mindestens fünfzehn Verdächtige, von denen drei ihre DNA-Spuren in Form von gefüllten Kondomen hinterlassen haben.«

»Was uns aber auch nichts nützt, da wir nichts haben, womit wir sie vergleichen könnten.«

»Alles in allem der schlimmste Fall von Murphys Gesetz, den ich je erlebt habe«, fasste Dr. Neurath zusammen. »Das Einzige, was ich euch bieten kann, sind ein paar Abrechnungscodes der Buchhaltung. Das System läuft unabhängig von den digitalen Krankenakten. Aus Datenschutzgründen.«

Das brachte Katharina auf eine Idee: »War Melanie Wahrig eigentlich bei einem Arzt in der Uniklinik in Behandlung? Vor ihrem Unfall, meine ich?«

»Das müsste sich ja herausfinden lassen.« Andreas Amendt schaltete den Monitor seines Computers ein und tippte ein paar Tasten – ohne Erfolg. Er schlug mit der Faust auf die Tastatur. »So ein Mist. Mein Account für die Patientendatenbank ist auch gesperrt.«

Dr. Neurath stand auf und ging um den Schreibtisch. »Lass mich mal.« Er begann zu tippen. Kurze Zeit später erschien ein sehr kurzer Eintrag zu »Wahrig, Melanie« auf dem Bildschirm.

Andreas Amendt und Dr. Neurath sahen sich erstaunt an.

»Was ist los?«, fragte Katharina.

»Sie haben den richtigen Riecher gehabt. Frau Wahrig war Patientin hier an der Uni-Klinik. Aber die EDV spinnt mal wieder. Nach diesen Unterlagen lebt Melanie Wahrig noch.«

»Und das heißt?«

»Das ist so ein Datenschutz-Feature«, erklärte Andreas Amendt. »Erst nach dem Tod haben andere Abteilungen wie etwa die Pathologie oder wir hier in der Rechtsmedizin Zugriff auf die Krankenakte. Solange ein Patient lebt, muss der behandelnde Arzt den Zugriff extra freigeben. Selbst die Buchhaltung erhält nur Abrechnungscodes.«

»Wer ist denn der behandelnde Arzt? Oder steht das da nicht?«

»Moment.« Dr. Neurath tippte ein paar Tasten. Andreas Amendt pfiff durch die Zähne. Er drehte den Monitor zu Katharina. In der Maske stand »Behandelnde Ärzte: Henthen, Fischer-Lause«.

Grimmig zog Katharina das Buch aus der Tasche, das ihr Arnulf Sturmer gegeben hatte, und warf es auf den Schreibtisch. »Warum geht jemand wohl zu Henthen und Fischer-Lause? Und warum sammelt dieser Jemand das Sperma von Männern? – Melanie Wahrig war auf der Suche nach einem Vater für ihr zweites Kind! Und Henthen hat für sie das Sperma untersucht.«

»Das sähe dem Henthen ähnlich«, sagte Dr. Neurath. »Würde passen: Er hat Zugang zum Computersystem, und einem Star wie ihm –«

»Die Theorie hat leider einen enormen Fehler«, unterbrach ihn Andreas Amendt. »Solche Gentests sind nur mit der Einwilligung aller Beteiligten möglich. Und außerdem wären die Untersuchungen über meinen Schreibtisch gegangen.«

»Warum?«

»Weil das einzige Labor zur DNA-Analyse an der Uniklinik in diesem Gebäude steht. Die Genforschung nutzt es zwar mit, aber wir müssen jede Untersuchung freigeben. Ich. Zumindest bis letzten Freitag«, sagte Andreas Amendt. »Ich habe schon in meinen Unterlagen nachgeschaut. Als ich die Kondome gesehen habe, hatte ich die Idee auch.«

»Und inoffiziell?«, fragte Katharina.

»Inoffiziell?«

»Sie wissen schon: Eine Hand wäscht die andere.«

»Theoretisch möglich, ja. Aber das DNA-Labor ist ein ewiger Streitfall zwischen Gen- und Reproduktionsforschung und der Rechtsmedizin. Eigentlich sollte das Hochleistungslabor bei denen eingerichtet werden. Doch dann wurden zahlreiche wichtige Mordfälle durch DNA-Analyse aufgeklärt.«

»Und?«, fragte Katharina ungeduldig.

»Und da wanderte das Labor mit seiner ganzen Einrichtung hierher, noch bevor es eingeweiht wurde. Frankfurts Institut für Rechtsmedizin sollte das DNA-Kompetenzzentrum für ganz Hessen werden. Das Labor ist also fest in unserer Hand. Bis auf einen Doktoranden von Fischer-Lause.«

»Aha!«, rief Katharina triumphierend.

»Der artig tut, was wir sagen. Will später eher für uns arbeiten. Netter Kerl übrigens. Torsten Kleinau.«

Katharina hatte erneut einen Einfall: »Geben Sie doch mal Alexandra Taboch ein.«

»Was soll das nützen? Schließlich wissen wir ja, dass sie Henthens Patientin war.«

»Nur so eine Idee. Bitte!«

Zweifelnd tippte Andreas Amendt den Namen ein. Der Eintrag fiel ähnlich kurz aus wie bei Melanie Wahrig. Der Arzt schüttelte den Kopf: »In der EDV scheinen sie diesmal wirklich zu viel gebechert zu haben. Die soll auch noch leben, angeblich.«

»Erstaunt mich nicht. Schauen Sie.« Katharina deutete auf den Monitor: »Behandelnde Ärzte: Henthen, Fischer-Lause. – Ist das immer noch Zufall? Ich finde, wir sollten die beiden fröhlichen Rassisten mal unter die Lupe nehmen.«

»Ach, Rassisten sind sie nicht«, mischte sich Dr. Neurath ein. »Auf jeden Fall nicht im herkömmlichen Sinn. Zumindest Fischer-Lause hat eine Vorliebe für gelungene Mischungen. Sie zum Beispiel: Sie wären, nun ja, ganz nach ihrem Geschmack.«

»Sie meinen … Ach nee, nicht noch eine von der Sorte!«

»Frau Klein legt Wert auf die Feststellung, dass sie nicht lesbisch ist«, sagte Andreas Amendt zu Dr. Neurath. Dann fragte er Katharina: »Sie haben doch nicht etwa Vorurteile gegen Homosexuelle?«

»Nein, nur gegen Akademikerinnen mit Doktortitel und Doppelnamen. Und das sind keine Vorurteile.«

Die beiden Männer lachten unsicher.

Katharina fuhr fort: »Ich finde, wir sollten beide mal unter die Lupe nehmen. Warum gehen wir nicht zur Gynäkologie und organisieren uns die Patientenakten?«

Amendt schüttelte missmutig den Kopf. »Weil Doktor Henthen mich hasst, Neurologen für medizinisches Krebsgeschwür hält und vermutlich auf eine polizeiliche Anfrage ebenfalls allergisch reagieren wird?«

»Wer hat denn gesagt, dass wir ihn fragen sollen?«, erwiderte Katharina fröhlich.

In diesem Augenblick klopfte es. Jeannie steckte den Kopf durch die Tür. »’schul’i’ung für ’ie Störung. Aber da ’raußen ist ein ganz merkwür’iger Mann auf dem Flur.«

»Das hier ist die Rechtsmedizin. Hier sind alle Männer merkwürdig«, antwortete Andreas Amendt.

»Ab’r der ist b’waffnet. Und er ha’ bestimm’ an d’r Tür gelausch’.«

»Haben Sie einen Kollegen mitgebracht?«, fragte Andreas Amendt; doch Katharina war schon aufgesprungen und zur zweiten Tür des Raumes geschlichen, die, wie sie vermutete, auf den Flur hinausführte. Sie bedeutete den anderen, leise zu sein.

Dann riss sie die Tür mit Schwung auf. Der kleine Mann fiel ihr entgegen. Katharina trat ihm kraftvoll zwischen die Beine. Er stolperte, griff in seine Jacke, doch Katharina hatte bereits wieder zugeschlagen. Kurz starrte der Mann sie an. Dann raffte er sich auf und rannte davon. Katharina ging auf den Flur und sah ihm nach.

»Wollen Sie ihm nicht folgen?«, fragte Dr. Neurath erschrocken.

»Nicht nötig. Ich weiß, wer das war und wer ihn geschickt hat. Unseren Ausflug in die Gynäkologie müssen wir verschieben, Dr. Amendt. Ich gehe jetzt erst mal italienisch essen.«

***

Mit quietschenden Reifen fuhr Katharina ihren Wagen in die Einfahrt »Puccini«, einem italienischen Restaurant in der Eschersheimer Landstraße. Dort stoppte sie abrupt. Andreas Amendt, der sich in der Halteschlaufe über seinem Sitz festgekrallt hatte, atmete auf. Katharina hatte auf der Fahrt die Verkehrsregeln recht flexibel ausgelegt; vielleicht war die letzte Beinahe-Kollision mit einem Lkw ein wenig viel für den Arzt gewesen. Selbst schuld. Er hatte ja unbedingt mitkommen wollen.

Sie sprang aus dem Auto, ging zur Tür des Restaurants und klopfte kräftig. Es dauerte einen Moment, bis sich die Tür öffnete.

Lutz stand vor ihr. »Ruhetag«, sagte er mürrisch. Dann erkannte er sie: »Ach, du bist –«

Weiter kam er nicht. Katharinas Fußspitze hatte ihn genau am Solarplexus getroffen. Keine zehn Sekunden später waren seine Hände und Füße mit zwei kräftigen Kabelbindern gefesselt, die Katharina aus den Taschen ihres Mantels hervorgezaubert hatte.

In diesem Augenblick kam auch Hans angestürmt. Er griff nach seiner Pistole, doch auch er kam nicht zum Ziehen. Katharinas Handkantenschlag beförderte ihn ins Reich der Träume. Sie nahm ihm die Waffe ab und fesselte auch ihn.

Die Tür zur Küche sprang auf. Ein kräftiger Mann kam heraus, eine Schürze umgebunden, hemdsärmelig, ein großes Messer in der Hand.

»Was ist denn hier los?«, konnte er gerade noch fragen, dann trat ihm Katharina das Messer aus der Hand, drückte ihn rücklings auf einen Tisch und hielt ihm Hans’ Revolver an die Kehle: »Warum schickst du mir deine Schläger hinterher?«

Nach einer Schrecksekunde lachte der Mann: »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Katharina. – Wollen wir uns nicht lieber beim Essen unterhalten?«

»Erst will ich eine Antwort.«

»Er sollte dich beschützen.«

»Was?« Schlagartig ließ sie den Mann los, der sich von dem Tisch erhob und seine Kleider ordnete.

»Er sollte dich beschützen. Aber komm: alles Weitere beim Essen. Oh, du hast uns einen Gast mitgebracht!« Lächelnd ging er auf Amendt zu. »Antonio Kurtz. – Und Sie sind Doktor Andreas Amendt.«

»Antonio weiß in dieser Stadt gut Bescheid«, sagte Katharina zu Andreas Amendt, der verdattert die ihm dargebotene Hand schüttelte. »Gewöhnen Sie sich besser gleich dran.«

»Das ist mein Kapital. Aber kommt, lasst uns essen.«

»Sollten wir nicht vielleicht …« Andreas Amendt deutete auf die Gefesselten.

Katharina zog ihr Taschenmesser heraus. Mit raschen Schnitten durchtrennte sie die Kabelbinder an den Händen und Füßen der beiden Leibwächter. »Tut mir leid, Lutz.«

»Mädel, du kannst ganz schön zuschlagen«, brummte der große Mann und verzog sich in die Küche.

Katharina schlug Hans sanft auf die Wange. »Aufwachen!«

Hans’ Blick war glasig. »Jungejungejunge«, murmelte er. »Gut, dass du da bist, Katharina. Wir sind überfallen worden. Vier Männer sind hier reingestürmt, schwer bewaffnet …«

»Nichts für ungut, Hans. Das war nur ich.« Sie half dem kleinen, drahtigen Mann aufzustehen.

Währenddessen hatte Andreas Amendt, der die ganze Zeit in seinen Jackentaschen gekramt hatte, endlich gefunden, was er suchte.

»Sie da!«, sagte er streng. »Bleiben Sie mal stehen.« Dann klebte er ein Heftpflaster auf die Wunde an Hans’ Kopf.

»Meine Güte, Katharina. Verprügelst du deine Freunde jetzt so oft, dass du einen Arzt mitbringst, wenn du zu Besuch kommst?«

»Normalerweise lege ich sie um. Doktor Amendt ist Rechtsmediziner.«

***

Antonio Kurtz ging ihnen voran durch das Restaurant in eine gemütliche Wohnküche mit einem großen Esstisch aus poliertem Eichenholz. Manche Besucher, die hierhergebeten wurden, meinten, sie seien an den Katzentisch abgeschoben worden. Doch Katharina wusste es besser: Die altmodische Küche mit ihren Geräten und Gewürzen, der fast schon antiken Einrichtung und dem großen Gasherd war der Küche seines Elternhauses nachempfunden. Von hier aus verwaltete Antonio Kurtz sein Reich.

Kurtz bot Katharina und Amendt Plätze an, deckte rasch drei Gedecke auf, stellte eine große Karaffe mit Wasser und ein kleinere mit Wein auf den Tisch. Offenbar war er gerade am Kochen gewesen, denn auf der Anrichte lagen diverse fertige und halbfertige Zutaten. Mit Feuereifer machte er sich wieder ans Werk.

Katharina bedeutete Amendt, ihn nicht anzusprechen. »Kochen ist ihm heilig.«

Amendt nickte zustimmend. »Natürlich ist es das.«

***

Kurze Zeit später stand das Essen vor ihnen: ein in Olivenöl angebratenes Rinderfilet in einer Chianti-Sauce, umrahmt von scharf gewürztem Gemüse aus dem Wok. Kurtz hatte gerade seine italienisch-asiatische Phase, kulinarisch gesprochen.

Andreas Amendt betrachtete das Stück Fleisch auf seinem Teller wie eine auf besonders interessante Art dahingeschiedene alte Dame auf dem Autopsietisch.

»Sie können ruhig essen. – Bessere Küche werden Sie in Frankfurt kaum finden, schon gar nicht am Montagmittag«, sagte Katharina.

»Eigentlich esse ich ja kein Fleisch«, murmelte Andreas Amendt entschuldigend.

»Madonna! Kein Fleisch! Katharina, wen bringst du da an meinen Tisch?« Antonio Kurtz verfiel in seinen breitesten italienischen Akzent.

»Essen Sie ruhig! Bei Kurtz mache ich auch immer eine Ausnahme«, sagte Katharina, während sie ihr Messer durch das butterweiche Filet zog.

»Meine kleine Katharina hier isst sonst nur Fleisch, das sie selbst geschossen hat«, ergänzte Antonio Kurtz mit dem Stolz eines sizilianischen Vaters.

Andreas Amendt schnitt endlich sein Filet an: »Wenn das so ist: In der Rechtsmedizin lägen da noch zwei Drogendealer auf Eis.«

Antonio Kurtz lachte, dass ihm die Tränen kamen. »Meine Katharina. – Eine ganze Einheit von ihrer Sorte und die Kriminalitätsrate in Frankfurt wäre bei null.«

»Was macht eigentlich dein Fischgericht? Cai Piranha?«, fragte Katharina zwischen zwei Bissen. »Ich habe am Freitag Hans und Lutz getroffen. Sie sagten, sie würden Caluha für dich besorgen.«

»Eigentlich waren sie wegen dir da.«

»Wegen mir? Warum?«

»Später. Nach dem Essen.«

***

Endlich hatte Antonio Kurtz die Teller abgeräumt und Espresso zubereitet. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und lehnte sich zurück: »Weißt du eigentlich, wen du erschossen hast, Katharina?«

Katharina schüttelte den Kopf: »Nein.«

»Dein Chef hat es dir nicht gesagt? Seltsam.« Antonio Kurtz wiegte den Kopf hin und her. Dann wandte er sich an Lutz: »Die Akte, bitte.«

Der große Leibwächter reichte ihm einen Hefter, dem Antonio Kurtz ein Foto entnahm. Er legte es vor Katharina und Andreas Amendt auf den Tisch. Katharina erkannte den kahl geschorenen Mann mit der Narbe auf der Wange nicht wieder, doch der Arzt nickte: »Das ist einer der beiden Toten. Laut Ausweis Maximilian Grün.«

»Nun, eigentlich Max Boroffski«, erläuterte Antonio Kurtz. »Ein Russlanddeutscher, der für diverse Kunden als …«, er suchte kurz nach dem passenden Euphemismus, »… als Problemlöser gearbeitet hat.«

»Ein Killer?«, fragte Katharina.

»Nicht nur. Auch Knochenbrüche und andere grobe Arbeiten. Arbeitete vor allem für unsere Freunde aus dem Osten. Alles in allem kein wirklich wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Angeblich Ex-KGB, aber da weiß ich nichts drüber.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Warte es ab, Katharina. – Dein Problem ist dieser hier:«

Kurtz zog ein neues Foto aus der Akte. Ein attraktiver Südamerikaner, vielleicht Mitte zwanzig.

Wieder nickte Andreas Amendt: »Das ist der zweite Mann, den Frau Klein erschossen hat: Miguel Aroso. So stand es zumindest in seinem Pass.«

»Tja, das ist Miguel de Vega.«

Katharina spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »De Vega? Hat er etwas mit –?«

»Der Sohn von Felipe de Vega, ja. Sein Stammhalter und Erbe. Zumindest, bis du ihm eine Kugel in den Kopf gejagt hast.«

»Oh Gott«, sagte Katharina tonlos.

»Wer ist Felipe de Vega?«, fragte Andreas Amendt.

»Ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit«, antwortete Kurtz. »Der letzte der großen kolumbianischen Drogenbarone. Der Mächtigste und Gefährlichste.«

»Und was macht sein Sohn hier?«

»Das hat mich auch gewundert. De Vega liefert nämlich nur in Ausnahmefällen direkt nach Deutschland. Das Geschäft hier hat die östliche Bagage unter sich aufgeteilt. Aber er sollte wohl eine verloren gegangene Speziallieferung sicherstellen. Im Auftrag von Papa.«

»Speziallieferung?«, fragte Katharina.

»War für einen besonderen Kunden. Mehr weiß ich auch nicht. Muss aber jemand mit guten Beziehungen sein. Immerhin hat er dafür gesorgt, dass die Lieferung bequem den Zoll passieren konnte.«

»Geheimdienst?«

»Vielleicht. Wie schon gesagt, ich weiß es nicht. Die Russen wissen es auch nicht. Waren ziemlich wütend deswegen. De Vega muss wohl die Wogen geglättet haben, wenn sie ihm trotzdem einen ihrer Problemlöser ausleihen. War wohl im beiderseitigen Interesse, die Lieferung wiederzufinden.«

»Wiederfinden? Die beiden wollten das Zeug doch an Hölsung verticken, oder nicht?«

Kurtz schüttelte den Kopf. »Nein. Der ursprüngliche Dieb muss den Deal eingefädelt haben. Und nachdem Boroffski und de Vega Junior ihm das Kokain abgenommen haben, dachten sie wohl, sie machen Papa de Vega noch eine Freude und holen sich auch noch das Geld.«

»Apropos: Was hat der Sohn von de Vega in Deutschland zu suchen?«, fragte Katharina.

»Lutz?«

Der Hüne schaute von dem Buch auf, in das er sich vertieft hatte: »Hat hier studiert. In Heidelberg. Philosophie und BWL. Angeblich guter Student.«

»Philosophie? Und wieso rennt er dann mit einer MAC-10 durch Frankfurt und pustet Leute um?«

»Ich nehme mal an, auf Anweisung von Papa de Vega«, antwortete Kurtz. »Nicht, dass Miguel eine Extra-Einladung zum Leute-Umlegen gebraucht hätte. Angeblich hat er bereits als Dreizehnjähriger als Laufbursche verkleidet ein Treffen des Kartells im Alleingang in ein Blutbad verwandelt.«

»Das Medellín-Massaker? Das war er?« Katharina zwang sich, nicht laut durch die Zähne zu pfeifen. Das Medellín-Massaker hatte zahlreiche Drogenbarone das Leben gekostet – und so Felipe de Vegas Machtposition konsolidiert.

Kurtz nickte: »Deshalb wird die ganze Angelegenheit von der Polizei als höchst geheim behandelt. Polanski hat sogar Polizeischutz für dich angeordnet.«

»Und woher weißt du dann davon?«

»Das ist nicht der Punkt … oder vielleicht gerade doch. Das Polizeipräsidium ist löchriger als ein Schweizer Käse. Wenn ich an all die Informationen komme, dann hat de Vega sie ganz sicher auch und weiß, wer den Spross seiner Lenden erschossen hat. Deshalb werden Lutz und Hans ab sofort nicht mehr von deiner Seite weichen!«

»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

Kurtz musterte sie mit einer Mischung aus väterlichem Stolz und Sorge: »Ich weiß, Katharina. Aber de Vega ist unberechenbar. Und Hans und Lutz sind einfach die Besten.«

»Ist das wirklich –?«

»Katharina! Dein Vater war mein bester Freund. Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, dass ich seine Familie schütze, wenn ihm was passiert. Und daran halte ich mich! Also sei vernünftig!«

»Na gut! – Sieht ja nicht so aus, als hätte ich eine andere Wahl.«

»Natürlich nicht. – Aber zu einem anderen Thema: Mir sind da so Gerüchte zu Ohren gekommen: Du untersuchst den Tod deiner Nachbarin?«

»Woher weißt du das denn?«

»Ich habe gute Beziehungen zum Ordnungsamt. Die erzählten mir, dass du gerade an sie ausgeliehen bist. Polanski verleiht sein bestes Pferd im Stall nicht ohne Grund.«

»Weißt du denn irgendetwas darüber?«

»Leider nein. Nicht wirklich mein Feld.«

Katharina dachte kurz nach. »Kennst du vielleicht einen Markus Henthen? Oder eine Annemarie Fischer-Lause?«

Kurtz dachte kurz nach. »Nein. Die Namen sagen mir nichts.«

Katharina erschrak, als sie Lutz’ Stimme dicht neben sich hörte. Der Hüne bewegte sich so lautlos wie ein Tänzer: »Kenne die beiden. ›Gute Gene – Chance der Zukunft‹. Hab das Buch gelesen.«

»Und?« Die drei sahen Lutz erwartungsvoll an.

»Faschistischer Unrat. Haben die was verbrochen?«

»Nichts, was wir beweisen könnten«, antwortete Andreas Amendt.

»Aber wir arbeiten dran«, ergänzte Katharina.

»Gut. Bin gern behilflich.«

»Aber keine unnötigen Knochen brechen«, sagte Katharina hastig.

»Nee. Schlimmer. Werde mit denen diskutieren.«

»Ach, Katharina, ich habe ja beinahe das Wichtigste vergessen. – Alles Gute zum Geburtstag.« Kurtz nahm Katharina in die Arme und drückte sie fest an sich.

***

Auf dem Weg zurück zur Uniklinik wählte Katharina eine defensivere Fahrweise. Andreas Amendt ließ irgendwann den Haltegriff los. Auch seine Gesichtsfarbe, die beim Einsteigen wieder zu einem unerfreulichen Grau gewechselt war, sah gesünder aus, wie Katharina mit einem Seitenblick feststellte.

Hans und Lutz folgten ihnen mit einem neuen Golf. Er musste gepanzert sein, denn er lag sehr tief auf der Straße.

Als sie an einer roten Ampel standen, brach Andreas Amendt endlich sein Schweigen: »Für einen Restaurant-Besitzer weiß dieser Antonio Kurtz ja ziemlich viel.«

»Ach, das Puccini ist sein Steckenpferd. Ich nehme auch an, dass er damit die eine oder andere Summe Geld wäscht.«

»Frau Klein, wenn ich …?« Andreas Amendt zögerte.

»Sie wollen wissen, wer Antonio Kurtz ist, oder? Es kommt darauf an, wen man fragt. Für manche ist er das Gehirn des Verbrechens, die Nemesis der Strafverfolgung.«

Amendt lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Und tatsächlich ist er was?«

»Kurtz kontrolliert einen Großteil der Prostitution und des illegalen Glücksspiels in Frankfurt. Hält seine Läden sauber, ist fair zu den Mädchen und anderen Angestellten. Sein Kapital ist das Wissen. – Nicht, dass er nicht auch schon den einen oder anderen Knochen hat brechen lassen. Aber Mord, Drogen und Waffenhandel kommen ihm nicht ins Haus. An allem anderen verdient er mit. Außerdem ist er in der Frankfurter High Society sehr beliebt. Dort schmückt man sich gern mit dem ›Paten von Frankfurt‹.«

»Und Sie?«

»Er ist mein Pate. – Also mein Patenonkel. Seit dem Tod meiner Eltern und meiner Schwester ist er so etwas wie meine Ersatzfamilie.«

In diesem Moment klingelte Andreas Amendts Mobiltelefon: Katja Meyer, die Chefärztin der Säuglingsstation.

***

»Wer sind Sie?«, fragte Katja Meyer Hans und Lutz streng.

»Wir sind die Leibwächter von Frau Klein«, erklärte ihr Hans.

„Leibwächter. Aha.« Katja Meyer musterte die beiden mit hochgezogener Augenbraue.

Es war schwer gewesen, eine passende Garnitur Krankenhauskleidung für Lutz zu finden, daher spannte das T-Shirt über seiner breiten Brust beängstigend. Die Hose reichte nicht einmal bis zu den Knöcheln. Hans hingegen ertrank in seiner Kluft fast: Auch die kleinste Männergröße war zu groß für ihn, doch er war natürlich zu eitel gewesen, bei der Ausgabe eine Frauengröße zu verlangen.

»Wir verhalten uns unauffällig«, sprang Lutz seinem Kollegen bei.

»So, so, unauffällig? – Na, dann benehmen Sie sich mal wie Pfleger und helfen Schwester Annegret beim Füttern.«

Hans strahlte: »Wirklich? Dürfen wir?«

Ein paar Minuten später saßen die beiden zwischen den Bettchen, jeder ein Baby auf dem Arm.

Katja Meyer kehrte zu Andreas Amendt und Katharina zurück, die auf dem Flur der Station warteten: »Kommt. Ich habe hier jemanden, der auf euch wartet.«

Sie führte sie in ihr Dienstzimmer, in dem eine junge Frau saß: Unter einer kaum zu bändigenden Haarmähne schaute ein spitzes Gesicht hervor, dessen Augen eine Nummer zu groß geraten waren.

»Svenja Taboch. Die Schwester von Alexandra Taboch«, stellte Katja Meyer sie vor. »Ich denke, ihr solltet hören, was sie zu sagen hat.«

Svenja Taboch fragte nervös: »Wo soll ich anfangen?«

»Am besten von Anfang an. Wie Sie mir das auch erzählt haben«, sagte Katja Meyer beruhigend.

»Also gut. – Ich bin die Schwester von Alexandra.«

Andreas Amendt wandte sich an Katharina: »Die Mutter der kleinen Johanna. Sie wissen, wer …?«

Natürlich: das Mordopfer. Wenn man Andreas Amendts Theorie folgte.

»Wir verstanden uns eigentlich immer ganz gut«, fuhr Svenja Taboch fort. »Aber dann hat sie sich verändert.«

»Inwiefern?«, fragte Katharina.

»Eigentlich war sie immer pleite, obwohl sie einen guten Job hatte. Webdesignerin bei einer Werbeagentur namens stop!.«

Katharina machte sich eine gedankliche Notiz: Für die Agentur hatte Melanie Wahrig doch auch gearbeitet. Eine Verbindung?

»Und mit einem Male konnte sie ihre ganzen Schulden bezahlen. Und dann war sie genauso plötzlich schwanger. Einfach so.«

»Tja, das soll vorkommen. – Neuer wohlhabender Partner?«

»Bei Alexandra? – Nun, wissen Sie … Alexandra war … hatte es mehr mit … Sie wissen schon …«

»Sie war lesbisch?«, fragte Katharina rhetorisch. War sie eigentlich die letzte heterosexuelle Frau auf diesem Planeten?

»Sie war also schwanger«, unterbrach Andreas Amendt die peinliche Pause. »Und kein Mann? Ich meine, ein Ausrutscher …«

»Alexandra fand Männer einfach nur widerlich.«

»Aber irgendwie muss sie ja schwanger geworden sein.«

»Es gibt noch andere Methoden«, warf Katja Meyer ein. »Wartet ab.«

»Also, sie war schwanger. Und dann drehte sie durch. Murmelte immer wieder, das Kind würde ihr niemand wegnehmen. Hat sich in den letzten Wochen regelrecht in ihrer Wohnung verbarrikadiert. Es war ein harter Kampf, sie überhaupt ins Krankenhaus zu bringen. Der Arzt sagte, es wäre höchste Zeit gewesen.«

»Der Arzt war Henthen?«, fragte Andreas Amendt.

Svenja Taboch nickte. »Dann ist sie bei der Operation gestorben.« Sie schluckte. »Und jetzt kam die Frage auf, was mit dem Kind wird. – Ich bin die einzige Angehörige. Also wandte sich das Jugendamt an mich. – Ich meine, ich bin Single und so, aber als ich die kleine Johanna da so liegen sah, dachte ich … Ich arbeite von zu Hause aus, kann mich also um sie kümmern. Kurz und gut, ich habe mich bereit erklärt, sie zu mir zu nehmen. Und dann kam dieser Doktor Henthen. Ich solle das Kind doch zur Adoption freigeben; er hätte da auch die passenden Eltern. Ein kinderloses Ehepaar.«

»Und Sie?«

»Ich hatte mich aber schon entschieden. Sie ist doch die Tochter meiner Schwester. Ich habe also abgelehnt.«

»Und was geschah dann?«, fragte Katharina.

»Doktor Henthen hat mir hunderttausend Euro angeboten. Aber ich kann das Kind doch nicht verkaufen. Da fing er an, mir zu drohen. Ich sei keine passende Mutter. Das würde er schon beweisen. Und ich solle lieber der Adoption zustimmen. Ich bin sofort zu meinem Anwalt. Der hat mich beruhigt. Henthen blufft, hat er gesagt. – Aber dann flattert mir diese Vorladung vom Familiengericht ins Haus. Zu einer Sorgerechtsanhörung. Am Freitag.«

In diesem Moment wurden sie durch lautes Geschrei unterbrochen: »Sie! Lassen Sie sofort das Kind los!«

Die vier liefen auf den Flur. Durch die Glasscheibe des Säuglingszimmers sahen sie, wie Markus Henthen auf Lutz losstürmte, der gerade ein Kind zurück in die Wiege legte. Katja Meyer rannte zur Tür des Säuglingszimmers und rief scharf: »Henthen!«

Henthen stoppte. Dann drehte er sich um und kam auf den Flur gerannt. Er baute sich vor Katja Meyer auf: »So, Meyer! Mir langt es. Das Kind ist die Tochter meiner Patientin! Und wenn Sie weiter –«

»Wenn ich was? Ich entscheide, wer meine Patienten füttert!«

»Aber nicht bei diesem Kind!«

»Ach? Warum?« Andreas Amendt trat streitlustig zwischen Henthen und Katja Meyer.

»Sie natürlich. Hätte ich mir ja denken können.« Henthen packte Andreas Amendt am Kragen, drückte ihn gegen die Wand und holte zum Schlag aus. Doch er kam nicht dazu. Lutz hielt seinen Arm fest. Er zog Henthen herum und hob ihn am Kragen hoch.

»Sind Sie Doktor Markus Henthen?«

Henthen nickte, soweit ihm das möglich war.

»Hab Ihr Buch gelesen! ›Gute Gene‹!«, erklärte Lutz freundlich. Er stellte den Arzt sanft auf seine Füße. »Hab ein Problem damit!«

Henthen schluckte und ordnete seinen Kittel.

Lutz fuhr höflich fort: »Haben Sie eigentlich bedacht, dass unser Ins-Dasein-Geworfen-Sein gerade in unserer Unvollkommenheit die Essenz unserer Existenz ausmacht?«

Katharina spürte, wie ihr jemand etwas Hartes, Eckiges aus Plastik in die Hand drückte. Hans flüsterte ihr ins Ohr: »Vielleicht willst du dich in seinem Büro ein wenig umsehen. – Keine Sorge, Lutz hält ihn so lange auf. Stunden, wenn es sein muss.«

Katharina blickte auf ihre Hand. Hans hatte einen Fächer von Sicherheitskarten hineingeschoben, die er Henthen in dem Aufruhr aus der Tasche gezogen haben musste.

Sie zupfte Katja Meyer und Andreas Amendt an den Ärmeln, zeigte ihnen unauffällig die Karten und bedeutete ihnen stumm, auf sie zu warten. Dann ging sie mit schnellen Schritten zum Ausgang der Säuglingsstation und hastete die Treppe hinunter.

***

Institut für Reproduktionsmedizin

Leitung: Prof. Dr. med. Markus Henthen

stand an der großen Stahltür. Katharina zog sie vorsichtig auf.

Sie hatte zu früh gehofft, ihren Weg ungestört zu finden. Vom eigentlichen Institut trennten sie noch eine verschlossene Glastür und eine Pförtnerloge, in der eine Schwester saß und sie mit verschränkten Armen musterte: »Sie wünschen?«

Wozu war sie Halbasiatin? Katharina verneigt sich unterwürfig. »Ich Doktor Fin-Ling Lang von Beijing University«, radebrechte sie mit ihrer höchsten Fistelstimme. »Ich verabredet mit Professor Henthen. Er sagen, ich warten vor Dienstzimmer.«

Die Schwester musterte sie von oben bis unten. Schließlich drückte sie den Türöffner. »Den Gang runter, fünfte Tür. Stühle gibt’s keine.«

Katharina verneigte sich tief. »Großen Dank Ihnen für Freundlichkeit.« Dann schlüpfte sie durch die Tür.

Vor dem Zimmer von Henthen sah sie sich vorsichtig um. Die Schwester konnte sie von ihrem Platz aus nicht sehen. Sie probierte verschiedene Karten vor dem Sensor an der Tür, bis das kleine Lämpchen von Gelb auf Grün wechselte und der Türöffner summte.

Bis auf einen Schreibtisch mit einem modernen Computer, einem Büro- und zwei Besucherstühlen und einem Regal war das Zimmer leer. Im Regal standen die Bücher von Henthen: »Gute Gene« und ein anderes, dessen zwanzig Fremdworte im Titel Katharina allein schon beim Anblick Kopfschmerzen bereiteten.

An der Wand hingen zahlreiche Fotos: Henthen mit dem Universitätspräsidenten, mit der Oberbürgermeisterin, mit dem Minister für Kunst und Wissenschaft, mit zahllosen glücklichen Müttern und kleinen Kindern sowie ein großes Bild, dass Henthen im Handschlag mit einer älteren Frau zeigte, die Katharina nicht erkannte.

Sie setzte sich an den Computer. Er war durch eine Chipkarte geschützt. Kein Problem, Katharina fand die Karte an dem Fächer in ihrer Hand. Doch der Bildschirm leuchtete nur auf, um ihr ein Passwort abzuverlangen. Verdammt! Sie sah sich um. Ihr Blick fiel wieder auf den orangefarbenen Buchumschlag. Auf gut Glück tippte sie »gutegene«.

Eine Sekunde später bestätigte ihr das System, dass sie offiziell als Dr. Markus Henthen eingeloggt war.

Der Bildschirm bot ihr nicht viele Möglichkeiten, also klickte sie auf das Icon mit der Aufschrift »Patients Medbase«. Eine Suchmaske erschien. Kein Passwort. Wie leichtsinnig. Katharina gab »Wahrig, Melanie« ein. Der Bildschirm füllte sich. Diverse Einträge, alle in Medizinchinesisch. Sie gab den Befehl, alles auszudrucken. Der Laserdrucker auf dem Schreibtisch spuckte leise Seite um Seite aus.

Sie wiederholte die Prozedur mit »Taboch, Alexandra«. Der Drucker lief weiter. Wenigstens war genug Papier drin.

Nach endlosen Minuten des Wartens lief endlich das letzte Blatt aus dem Drucker. Katharina schaltete den Computer wieder auf Stand-by. Sorgfältig wischte sie die Karten ab und ließ sie unter dem Stuhl auf den Boden fallen. Sollte Henthen doch glauben, er habe sie dort verloren. Dann nahm sie die Ausdrucke und schlich zur Tür, die sie leise öffnete. In der Ferne erklang der Türsummer. »So was Blödes, ich muss meine Karten hier irgendwo verloren haben«, hörte sie die Stimme von Henthen.

Katharina schlich in eine Toilette, die schräg gegenüber dem Büro lag. Dann bogen Henthen und die Schwester auch schon um die Ecke und blieben vor Henthens Bürotür stehen.

»Scheiße! Die Dinger liegen vermutlich da drin.«

Katharina traute sich kaum zu atmen. Sie hörte, wie Henthen von einem Handy mit dem Sicherheitsdienst telefonierte.

»Da war übrigens eine Chinesin aus Beijing.« Das war die Schwester.

»Jaja«, antwortete Henthen abwesend. Endlich entfernten sich die Schritte. »Ich brauche einen Kaffee. Und schauen Sie mal, ob Sie in der Bibliothek irgendwas von einem gewissen Peter Singer finden. – Vermutlich bei den Esoterikern oder so.«

Katharina sah, wie beide in einen Raum ganz am anderen Ende des Gangs einbogen. Das war ihre Chance. Sie lief zur Glastür, öffnete sie, schlüpfte durch die große Stahltür und spurtete die Treppe hoch zur Säuglingsstation.

***

Sie fand Andreas Amendt, Katja Meyer, Hans, Lutz und Svenja Taboch um ein Bettchen versammelt.

»Ist sie nicht schön?«, hörte sie Andreas Amendt sagen.

»Ja, das ist sie«, antwortete Svenja Taboch, die Andreas Amendt unverhohlen anstrahlte. Katharina spürte einen Stich in ihrer Brust. Nein, sie war nicht eifersüchtig!

***

Jeannie hielt immer noch die Stellung, inzwischen die Schlacht mit der zweiten Schachtel Kleenex schlagend. Andreas Amendt befahl ihr, endlich nach Hause zu gehen. Das sei eine ärztliche Anweisung. Dankbar packte Jeannie ihre Apotheke ein, wickelte sich in diverse Schals und verschwand. Ihre letzten Nieser verklangen leise im Flur.

Andreas Amendt setzte sich hinter seinen Schreibtisch und begann die Akten durchzublättern, die Katharina aus Henthens Büro mitgenommen hatte. Katharina kochte inzwischen Kaffee. Hans und Lutz hatten an beiden Türen des Büros Stellung bezogen.

»Eigentlich ganz normale Arztberichte. Die üblichen gynäkologischen Untersuchungen. Aber hier …« Andreas Amendt deutete auf ein Blatt, dass für Katharinas Augen nur Zahlen enthielt. »Melanie Wahrig hatte vor zehn Monaten eine Fehlgeburt. Das Kind hatte einen schweren genetischen Defekt. Henthen hat sie zu einer Diagnose und zur Beratung zu Fischer-Lause geschickt.«

»Und?«

»Von Fischer-Lauses Bericht steht hier nicht viel. Nur dass sie ein Genprofil von Melanie Wahrig gemacht hat. Ohne Befund. Der damalige Vater scheint wohl das Problem gewesen zu sein.«

»Steht da, wer das war?«

»Leider nein. Hat sich wohl nicht untersuchen lassen. Dann vor ein paar Monaten eine normale Routineuntersuchung. Aber … das ist ja interessant. Empfohlen durch Alexandra Taboch. Die beiden kannten sich.«

»Sie haben für die gleiche Werbeagentur gearbeitet – stop!«, ergänzte Katharina.

»Was?«

»So heißt die Agentur: stop! Mit Ausrufezeichen. – Was steht denn da über Alexandra Taboch?«

»Normale frauenärztliche Betreuung, normale Schwangerschaftsuntersuchungen. Die Schwangerschaft verlief sehr zufriedenstellend. Das zeigen auch die Ultraschallaufnahmen, soweit ich das sehen kann. Dann, hier: vor etwa sechs Wochen Abbruch der wöchentlichen Untersuchungen.«

»Wöchentlich? So oft?«

»Entweder ist Henthen sehr genau, oder Alexandra Taboch war sehr ängstlich.«

»Oder das Kind war besonders wertvoll. – War sie auch bei Fischer-Lause?«

»Ja. Zur genetischen Untersuchung und zur Abstimmung mit dem Kindsvater – eine Samenspende. Anonym, aber genetisch dokumentiert. Ungewöhnlich, aber möglich. – Warten Sie mal.«

Andreas Amendt stand auf und nahm einen Ordner aus dem Regal. Er blätterte schnell. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. »Tatsächlich. Alexandra Taboch hat ihre Gene untersuchen lassen. Ziemlich aufwendig. Und dann wurde ein Abgleich durchgeführt.«

»Was ist das?«

»Ich bin mir nicht sicher. Gehen wir doch mal rüber in die DNA. Vielleicht kann uns Torsten weiterhelfen.«

***

In der Mitte des Raums, umgeben von der komplexen Maschinerie des automatisierten DNA-Labors, saß ein junger Mann vor mehreren großen Monitoren.

»Hallo, Torsten«, sagte Andreas Amendt laut.

Der junge Mann reagierte nicht. Amendt tippte ihm vorsichtig auf die Schulter. Der Mann fuhr erschrocken herum. Dann tippte er eine Taste auf einem Gerät, das um seinen Hals hing. »Entschuldigung. Ich habe Musik gehört. – Manchmal hat es auch Vorteile, schwerhörig zu sein«, erklärte er und deutete auf das Kabel, das von dem Gerät zu einem CD-Spieler führte. »Ich kann mich direkt in meine Hörgeräte einklinken. Ziemlich guter Klang sogar. – Und, Andreas, kann ich was für dich tun?«

»Hier, darüber sind wir gestolpert.« Amendt hielt ihm die Blätter hin.

»Moment.« Torsten Kleinau stand auf. Erst jetzt sah Katharina, dass auf seinem Arm eine schwarze Ratte saß, die er nun behutsam hochhob und unter dem Kinn kraulte. Dann setzte er das Tier in einen Käfig.

»Haustiere am Arbeitsplatz?«, fragte Katharina belustigt.

»Leider nicht. Tierversuche. Ich werde sie später leider sezieren müssen.« Er hatte wohl gesehen, wie Katharina das Gesicht verzog, daher fügte er hinzu: »Keine Sorge, das Tier erhält vorher eine Dosis Natrium-Pentobarbital. Ganz human.«

Katharina betrachtete das Tier, das gierig an der Wasserflasche nuckelte. Traurig. Aber das war wohl nötig für den medizinischen Fortschritt.

Torsten Kleinau blätterte den Ausdruck durch, den Andreas Amendt ihm gab: »Das ist eine ziemlich umfassende Genanalyse. So ziemlich alle Risikofaktoren drin.«

»Und was ergab die Analyse?«

»Genau genommen sind das zwei. Mutter und potenzieller Vater. Und die möglichen Kombinationen, soweit wir das bestimmen können.«

»Und?«

Torsten Kleinau blätterte weiter, sah auf die Resultate. Dann lachte er auf und reichte sie Andreas Amendt zurück: »Ein Planspiel.«

»Ein Planspiel?«

»Ja, für das perfekte Kind. Egal in welcher Kombination, die Gene wären extrem gut und sehr geschützt vor Krankheiten wie Krebs oder Kreislauferkrankungen. Einige äußere Faktoren sind auch dabei. Das Kind wäre blond, blauäugig: ein ›Arier‹. Lass mich raten: Das kommt von Henthen?«

»Oder Fischer-Lause.«

»Nein, nicht Fischer-Lause. Sie hat es mehr mit den schönen Mischungen. So wie deine Kollegin.« Er stand auf und reichte Katharina die Hand. »Ich bin übrigens Torsten Kleinau. DNA.«

»Katharina Klein.«

»Die Kill–« Er stockte.

»Ja, die Killer Queen.« Schon wieder dieser verhasste Spitzname.

»Wahnsinn. Ich habe die DNA-Tests für den Spielplatz-Mörderfall gemacht.«

»Ach, dann habe ich Ihnen für die Verurteilung zu danken.«

»Aber Sie haben doch den Verdächtigen gefunden.«

»Und Sie haben bewiesen, dass er es wirklich war.«

Torsten Kleinau errötete vor Stolz, was ihn noch jünger aussehen ließ. Ein recht hübscher Junge, allerdings ziemlich klein. Bis auf seine Hände. Sie hingen an seinen dünnen Armen wie Baggerschaufeln.

»Und diese Planspiele? Wozu dienen die?«, fragte Katharina neugierig.

»Ach, das ist so ein Ding zwischen Henthen und Fischer-Lause. Ein sportlicher Wettkampf. Sie testen hier manchmal fiktive Genkombinationen. – Damit dürfte Henthen aber den Highscore haben. Eine bessere Kombination habe ich noch nicht gesehen.«

»Das hier stammt aus meinen Akten. Das sind reale Untersuchungen«, erklärte Andreas Amendt.

Torsten starrte ihn mit offenem Mund an. »Wirklich? Da muss ein Fehler passiert sein.«

»Und wenn nicht?«

»Dann könnt ihr den Eltern gratulieren. Sie werden ein genetisch perfektes Kind haben. Wenn nichts dazwischenkommt.«

»Dazwischenkommt?«, fragte Katharina.

»Nun, die Zeugung ist so eine Sache. Pater semper incertum est. Der Vater ist immer ungewiss, nicht wahr?«

»Und was würde man machen, wenn man das Kind wirklich so haben will?«

»Hundertprozentig? Dann eine In-vitro-Befruchtung unter strengsten Bedingungen. – Hätte auch den Vorteil, die besten Embryos aussuchen und implantieren zu können.«

»Wird das hier an der Klinik gemacht?«

»Wenn es nach Henthen ginge, ja. Aber die Rechtslage ist ziemlich grau. Grundsätzlich möglich ist es. Die Technik existiert, nur die Gesetze noch nicht.« Torsten Kleinau gab Andreas Amendt die Unterlagen zurück. »Ich bin mir aber sicher, dass das ein Fehler in den Akten war. Ein so perfektes Paar zu finden, ist praktisch unmöglich. Oder jemand wollte dich ärgern.«

»Nein, das hier ist gemacht worden, bevor ich angefangen habe. Da hat sich Doktor Metzel um die DNA-Genehmigungen gekümmert.«

Torsten Kleinau zuckte mit den Schultern. »Nun ja, Metzel …« Er und Andreas Amendt lachten. Doch Katharina kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.

***

»Ein perfektes Kind? Meinen Sie, Henthen hat Gott gespielt?«

»Eher Frankenstein.« Andreas Amendt lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und streckte sich.

»Da haben Sie Ihr Mordmotiv. Henthen ist ja ganz scharf auf das Kind, wie wir wissen«, sagte Katharina. Sie sah auf die Uhr. Es war schon Viertel nach drei. Um vier Uhr musste sie Laura aus dem Kindergarten abholen. »Tut mir leid, ich muss weg. – Haben Sie Lust, heute Abend zum Essen zu kommen? Laura würde sich freuen.«

Andreas Amendt antwortete unverbindlich: »Mal sehen, ob ich es einrichten kann.«

Katharina war schon an der Tür, als Amendt sie aufhielt. »Hier, die Unterlagen. Ich bin inzwischen misstrauisch, was die Uniklinik angeht. – Und was Melanie Wahrig betrifft: Haben Sie da eine Idee?«

»Vielleicht kann ich ja die Erzeugerkandidaten herausfinden. Ich werde mich morgen mal bei dieser Werbeagentur umhören. Stop!«

***

Während Katharina Morris durch den Nachmittagsverkehr steuerte, malte sie sich aus, was wohl Elfie LaSalle sagen würde, wenn nicht nur sie, sondern auch Hans und Lutz im Kindergarten aufliefen. Vermutlich würde sie sofort nach Verstärkung schreien.

Die beiden Leibwächter blieben bei Morris stehen, den Katharina wieder auf den Hof des Kindergartens gelenkt hatte. Die Sonne hatte sich hervorgetraut, deswegen spielten einige Kinder im Garten. Schnell umringten sie die beiden Männer und Morris.

Elfie LaSalle fing Katharina an der Tür ab. »Haben Sie schon etwas herausgefunden? Laura sagt, Sie wollen –«

»Die bösen Männer fangen, die ihre Mutter getötet haben? – Ich bin dran, aber mir fehlt noch eine richtige Spur.« Sie folgte der Kindergärtnerin in das große Spielzimmer. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt …«

»Ich denke schon die ganze Zeit nach. Der Auftragsdienst hat übrigens Tom Wahrig noch nicht erreicht.« Elfie LaSalle hielt so abrupt inne, dass Katharina beinahe gegen sie gelaufen wäre. »Aber da war noch etwas. Vor vielleicht einem Jahr, Laura war gerade in den Kindergarten gekommen, da ging es Melanie Wahrig nicht so gut. Sie sah sehr krank aus. Bedeutet das etwas?«

»Vielleicht. Hat Laura mal was von einem Brüderchen oder Schwesterchen erzählt?«

»Oh ja! Sie wünscht sich Geschwister. Und ihre Mutter … aber das geht ja jetzt nicht mehr«, antwortete Elfie LaSalle traurig.

»Melanie Wahrig hatte vor ungefähr zehn Monaten eine Fehlgeburt. Wussten Sie davon?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Idee, wer der Vater gewesen sein könnte?«

Elfie LaSalle dachte angestrengt nach: »Außer Tom Wahrig kann ich mir niemanden vorstellen. Die beiden waren auch nach der Scheidung oft zusammen, wissen Sie? Haben sich in Freundschaft getrennt.« Die Kindergärtnerin war zum Fenster gegangen: »Wer sind denn die beiden Männer? Gehören die zu Ihnen?«

»Das sind Freunde von mir.«

»Polizei?«

»Nein.«

»Sehen auch nicht so aus. Der eine ist ja niedlich!«

Katharina sah gleichfalls hinaus. Hans und Lutz spielten mit ein paar Kindern Ball.

»Ja, der Kleinere ist ein echter Kindernarr. Ist verheiratet und hat selbst zwei Kinder.«

»Ich meinte den Großen.«

Katharina lachte auf. Wenn Lutz wüsste, dass ihn jemand als niedlich bezeichnet hatte …

»Wissen Sie, ob …« Elfie schluckte den Rest ihrer Frage hinunter.

»Lutz? Meines Wissens ist er Single. Hat Philosophie studiert.«

»Wirklich?« Elfie sah sie mit großen, blauen Augen an, bevor sie wieder nach draußen starrte. »Mag er Kinder?«

Katharina wollte am liebsten etwas sagen wie »Am liebsten gut durch mit etwas Zitrone«, aber sie verkniff es sich. Vielleicht war ja Elfies Faszination für diesen Mann noch nützlich. »Ja, doch … ich glaube schon«, sagte sie schließlich.

***

Katharina saß mit Laura am Küchentisch. Sie spielten Mensch-ärgere-dich-nicht, während Hans und Lutz »auf die Matratzen gingen«, wie sie es ausdrückten: Sie richteten es sich in Katharinas leerem Zimmer halbwegs häuslich ein.

Katharina war froh, das leere Zimmer zu haben. So mussten Hans und Lutz wenigstens nicht im Wohnzimmer kampieren. Sie hatte immer überlegt, was sie mit dem Raum anfangen sollte; bisher hing dort nur ihr Sandsack.

Laura hatte für Katharina ein großes Bild gemalt, »zum Geburtstag«. Es zeigte, so erklärte es zumindest Laura, Katharina, wie sie mit einem großen Netz ganz viele böse Männer fing. Dann ging sie mit Laura in den Zoo. Giraffen schauen.

Katharina hatte das Bild mit Magneten an die Kühlschranktür geheftet, ein bisschen stolz … schon wieder so ein Elternklischee.

***

Laura war im Mensch-ärgere-dich-nicht wirklich nicht zu schlagen. Katharina hatte gerade das zweite Mal verloren, als es an der Tür klingelte. Hans und Lutz kamen aus ihrem Zimmer gelaufen und bedeuteten Katharina, in der Küche zu bleiben. Doch kurz darauf führten sie Andreas Amendt in die Küche.

Laura lief zu ihm: »Andreas!«

Der Arzt hob sie hoch auf seinen Arm. Katharina ertappte sich dabei, ein wenig neidisch auf Laura zu sein.

Sacht setzte Andreas Amendt das Mädchen ab, dann begrüßte er Katharina. »Alles Gute zum Geburtstag. Tut mir leid, das habe ich vorhin völlig vergessen zu sagen. – Hier, das ist für Sie.«

Er gab ihr eine eingewickelte Flasche und ein flaches Päckchen: »Nichts Besonderes. Aber vielleicht haben Sie Ihre Freude dran.«

Katharina öffnete das Päckchen vorsichtig. Es enthielt eine CD: A Voice and a Guitar. Jazz Classics. Performed by Marianne Aschhoff and Andreas Amendt.

Katharina erkannte das Cover. Die gleiche CD lag immer noch in Susannes Zimmer auf dem CD-Player, jetzt dick von Staub bedeckt. Vielleicht die letzte CD, die ihre Schwester gehört hatte. Katharina spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. »Danke«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Stimmt etwas nicht?«

»Das war … die Lieblings-CD meiner Schwester, glaube ich.«

»Entschuldigung, das … Soll ich …?«

»Nein, ich will sie hören. Ich … ich …« Ihr fehlten die Worte. Katharina legte die Arme um den Hals des Arztes und ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. Sie spürte, wie seine Arme sie fest umschlossen.

Nach einem Moment machte Andreas Amendt sich sanft los und sah sie nachdenklich an. »Was ist?«, fragte Katharina.

»Nichts. Alles in Ordnung.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. »Ich glaube, ich muss mir in Zukunft in Ihrer Nähe Gedanken über Make-up-feste Kleidung machen.«

Katharina tastete nach ihren Wangen. Hatte sie tatsächlich geweint?

Andreas Amendt ging einen Schritt weiter in die Küche. »Ich habe ein wenig eingekauft«, sagte er unsicher und deutete auf die Tüten, die Hans immer noch in der Hand hielt. »Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht keine Zeit gehabt. Ich kann Mousse au Chocolat machen.«

Katharina nickte. Dann ging sie rasch ins Bad und schloss hinter sich ab. Im Spiegel sah sie, dass ihr Make-up völlig verlaufen war. Auch das noch. Sie wusch sich das Gesicht und zog den Lidstrich nach. »Glückwunsch, Doktor Amendt«, dachte sie, »Sie sind der erste Mann, der mich zum Weinen gebracht hat.«

***

Während Katharina sich immer noch bemühte, ihr Gesicht zu restaurieren, klingelte es erneut. Wer mochte das jetzt sein?

Sie hörte, wie Hans und Lutz zur Tür gingen. »Hallo, Boss!«

Antonio Kurtz beehrte sie mit seinem Besuch?

»Wo ist Katharina?«, hörte sie ihren Patenonkel fragen.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel kam sie aus dem Bad. Antonio Kurtz begrüßte sie mit einer freundlichen Umarmung. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich gestreckt.

»Du hast geweint«, sagte er streng.

»Es ist nichts.«

»Weinen ist nicht Nichts. Hans, Lutz? Wenn jemand meiner Katharina das Herz bricht, dann brecht ihr ihm alle Finger!«

»Ach Antonio, ich kann schon auf mich selbst aufpassen.«

»Ich weiß, Kind. Aber ich wollte Hans und Lutz eine kleine Freude machen.« Er zog sie am Arm ins Wohnzimmer. »Ich habe hier was für dich. Will aber nicht, dass das jeder sieht.«

In dem Paket, das er ihr feierlich überreichte, verbarg sich ein polierter, schwarzer Holzkasten. Sie öffnete ihn. Auf rotem Samt lag eine Stockert & Rohrbacher Modell 1. Der gebürstete Stahl der Pistole glänzte matt. Die Griffe waren aus dunklem Holz gefertigt. Am unteren Ende waren mit Gold zwei Kerben eingraviert. Neben dem Beschussstempel und der Seriennummer fand sich der Schriftzug »Killer Queen«.

Jeannette Stockert und Kirsten von Rohrbacher hatten bei Heckler & Koch gelernt und sich mit einer Manufaktur für edle Präzisionswaffen selbstständig gemacht. Die Modell 1 war ihre erste Pistole, geplant für die Serienproduktion als Einsatzwaffe. Katharina hatte zu den ausgewählten Polizisten gehört, die damit Probe schießen durften.

»Hier, deine neue und hochoffizielle Waffenbesitzkarte.« Kurtz reichte ihr das blassgrüne Dokument. Alle ihre Waffen, auch die neue, waren darauf eingetragen.

»Danke.« Katharina war wirklich beeindruckt.

»Ich kann dich doch nicht unbewaffnet lassen. Außerdem schuldeten die beiden Damen mir noch einen Gefallen. Ich bin dem Kommandeur eines italienischen Scharfschützenregiments freundschaftlich und familiär verbunden und konnte ihn davon überzeugen, seine Männer bei Stockert & Rohrbacher neu auszustatten. Dafür haben die beiden Damen sich von diesem Modell getrennt. Es ist handgefertigt.«

Katharina wog die elegante Pistole in der Hand. Sie war doch etwas ganz anderes als die klobige P 2000. Vorsichtig legte sie die Waffe zurück in den Kasten. Dann umarmte sie Kurtz.

»Aber, aber! – Eigentlich wollte ich ja für dich kochen. Doch offenbar hat das schon jemand übernommen.«

Sie gingen in die Küche. Andreas Amendt stand an der Anrichte und schnitt Gemüse. Kurtz sah ihm kritisch über die Schulter. Dann nickte er gönnerhaft: »Gut. Weitermachen. Die Karotten vielleicht in Stangen und nicht in Scheiben. – Ist das Mensch-ärgere-dich-nicht?«, fragte er erstaunt, als er an den Küchentisch trat. »Das habe ich ja schon Jahrhunderte nicht mehr gesehen. – Wie läuft es?«

Hans wiegte den Kopf hin und her. »Nicht gut. Laura gewinnt immer.«

»Du bist also Laura?« Kurtz reichte dem Mädchen die Hand. Laura stand auf und machte einen Knicks wie eine Prinzessin.

»Du bist aber eine wohlerzogene junge Dame.«

»Willst du mitspielen?« fragte Laura begeistert.

»Ich weiß nicht.«

»Ach Boss, kommen Sie«, drängte ihn Hans.

Und so nahm Antonio Kurtz auf dem vierten Stuhl Platz. Laura stellte die Steine wieder auf. Sie hatten gerade ausgewürfelt, wer beginnen sollte, als es erneut klingelte.

Hans und Lutz sprangen auf und liefen hinaus.

Hans kam als Erster zurück. In der Hand hielt er eine abgegriffene Walther PPK.

»Der Besucher war bewaffnet«, sagte er.

Kurtz befahl: »Bringt ihn her.«

Lutz führte einen Mann im Polizeigriff in die Küche. Katharina erschrak: »Das ist Kriminaldirektor Polanski, mein Chef.«

Lutz ließ seinen Gefangenen los, wenn auch ungern. Polanski richtete sich auf, nahm die Walther PPK wieder an sich und ließ sie in seinem Mantel verschwinden. Natürlich. Kriminaldirektoren trugen keine Dienstwaffe. Es musste sich um Polanskis Privatpistole handeln. Na, der sollte Katharina noch mal einen Vortrag zum Thema Bewaffnung halten!

Polanski ordnete den Kragen seines Mantels, dann erkannte er Katharinas Besuch: »Kurtz! Was machen Sie denn hier?«

»Nicht hier, nicht vor der Prinzessin.« Kurtz deutete auf Laura. »Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen.«

***

»Sie schulden mir eine Erklärung, Kurtz«, blaffte Polanski, während er sich in einen Sessel fallen ließ.

»Nein, die schulden Sie mir und meinem Patenkind. Warum haben Sie Katharina nicht darüber aufgeklärt, dass sie Miguel de Vega erschossen hat?«

»Ja, Chef. Das würde mich auch interessieren.«

»Weil ich nicht wollte, dass Sie wieder Dummheiten machen. Sich eine illegale Waffe besorgen. Ich will Sie nämlich behalten, wissen Sie? Und im Augenblick …«

»Ja?«

»Hölsung sammelt alles, was er gegen Sie finden kann. Die Interne Ermittlung ist begeistert. Will aus Ihnen den Fang des Jahres machen. – Außerdem haben Sie Polizeischutz, und wir behandeln die Schießerei im Parkhaus als vertrauliche Verschlusssache.«

»Das habe ich gemerkt«, stellte Kurtz fest. »Ich habe fünf Minuten länger als sonst gebraucht, um an die Akten zu kommen.«

Polanski wollte etwas sagen, doch Katharina schnitt ihm das Wort ab: »Wer ist zu meinem Schutz eingeteilt?«

»Arne und Michael.«

»Die Klatschbasen? Wer weiß, was die Hölsung alles erzählen. – Wann ist überhaupt meine Anhörung?«

»Nächsten Montag. Und es wäre gut, wenn Sie bis dahin Punkte sammeln. Sich anständig benehmen. Und vielleicht auch keine Gesellschaft von …« Er sah zu Kurtz, der in einem Sessel saß und ihnen interessiert zuhörte.

»Meine Weste ist sauber, Polanski. Das wissen Sie.«

»Aber Ihr Ruf nicht! Und dann die beiden Schläger.«

»Hans und Lutz sind ausgebildete und offiziell zugelassene Leibwächter, die sich um den Schutz meines Patenkinds kümmern. Und ich werde schon aufpassen, dass Katharina keine Dummheiten macht.« Kurtz stand auf.

»Bleiben Sie zum Essen?«, fragte Katharina ihren Chef.

»Ich glaube …«

»Pah, Feigling«, sagte Antonio Kurtz über die Schulter.

»Bitte, Chef. Es ist doch mein Geburtstag.«

»Ach, das hatte ich schon wieder ganz vergessen. Noch mal herzlichen Glückwunsch.« Polanski schüttelte Katharina die Hand.

***

Andreas Amendt war immer noch beim Kochen, als sie in die Küche zurückkamen. Polanski stockte, als er den Arzt sah.

»Ach, Doktor Amendt«, fragte Katharina betont formal. »Herr Polanski bleibt auch zum Essen. Macht Ihnen das etwas aus?«

»Solange er nicht mit den Fingern isst.«

»Bitte. Es ist doch mein Geburtstag«, sagte Katharina schnell. »Vertragt euch.«

»Schade«, sagte Polanski. »Ich bin Doktor Amendt noch immer einen Rückkampf schuldig. – Ist das Mensch-ärgere-dich-nicht?« Er blickte fasziniert auf das Brett.

Kurtz setzte sich wieder auf seinen Platz: »Wie wär’s, Polanski? Ein Spielchen? Wie in alten Zeiten? – Katharina, dein Boss war mal ein ganz gefährlicher Zocker, bevor sie ihn befördert haben. Jetzt ist er sich wohl zu fein dafür.«

»Sie wissen genau, dass das nicht der Grund ist, Kurtz«, erwiderte Polanski knapp.

»Au ja«, rief Laura. »Ein Spiel zu sechst. Das geht nämlich. Schaut mal.« Sie drehte das Brett um. Auf der Rückseite war das sternförmige Spielfeld mit sechs Häuschen abgedruckt.

Und so spielten Hans, Lutz, Katharina, Polanski, Kurtz und Laura, während Andreas Amendt kochte. Laura gewann. Und Katharina wunderte sich, was für ein schlechter Verlierer ihr Chef doch war.

***

»Noch eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht?«, fragte Kurtz, als der Tisch nach dem Essen abgeräumt war. »Wir könnten es etwas interessanter gestalten.« Er zog ein Bündel Geldscheine hervor. »Was meint ihr? Hundert pro Spiel, der Gewinner kriegt alles?«

Polanski wand sich unsicher in seinem Stuhl.

»Ach kommen Sie, Polanski! Ein Spielchen, wie in alten Zeiten!«

»Also gut! Aber Frau Klein spielt nicht mit. Nachher erfährt noch jemand davon.«

Katharina holte ihre Keksdose aus dem Schrank. »Aber ich bin Lauras Finanzier.«

Sie lehnte sich an die Anrichte, während die anderen das Spiel aufbauten und auswürfelten, wer beginnen sollte. Das Los fiel auf Polanski, der seiner Brieftasche einen Schein entnahm und auf den Tisch legte.

Als er gerade würfeln wollte, klingelte es.

Hans und Lutz sprangen auf und begleiteten Katharina zur Wohnungstür. Katharina sah durch den Spion. Vor der Tür stand … ein Wahlplakat?

»Ihr könnt zum Spiel zurück, Jungs. Das ist die Oberbürgermeisterin.«

Katharina öffnete die Tür. Davor stand tatsächlich Walpurga Grüngoldt. Hinter ihr stand ein junger Mann, der Katharina vage bekannt vorkam. Er war groß, hager und blass.

»Das ist sie, Mama«, sagte er.

Ohne Vorwarnung fiel die Oberbürgermeisterin Katharina um den Hals: »Danke! Sie haben meinem Sohn das Leben gerettet. – Das ist Frank, mein Sohn«, stellte die glückliche Mutter vor, nachdem sie Katharina endlich losgelassen hatte. Katharina hatte schon gefürchtet, zwischen den üppigen Brüsten der Politikerin erstickt zu werden.

Frank grinste linkisch und streckte Katharina die Hand entgegen: »Das war cool. Wie bei Counter Strike.«

So viel zum Thema »Trauma fürs Leben«, dachte Katharina. »Wollen Sie nicht reinkommen?«

Sie entschloss sich, die Oberbürgermeisterin lieber nicht in die Küche zu führen. Die selbsternannte »Frau für ein sicheres, sauberes Frankfurt« wäre vermutlich entsetzt, wenn sie einen leitenden Kriminaldirektor beim Zocken mit dem bekanntesten Unterweltler der Stadt sah. Sie lotste den Besuch lieber ins Wohnzimmer.

»Mein Sohn will jetzt unbedingt auch zur Polizei«, verkündete Walpurga Grüngoldt stolz, nachdem das Mutter-Sohn-Gespann Platz genommen hatte.

Oh Hilfe, der leptosome Spargel würde bei der Sportausbildung wirklich seine Freude haben.

»Nun ja, das ist natürlich schon hin und wieder ziemlich gefährlich«, sagte Katharina deshalb vorsichtig.

»Ach, er will irgendwie in die Abteilung für Computerkriminalität. Er kennt sich gut mit Computern aus. Neulich hat er sogar einen EDV-Ausfall im Rathaus behoben. – Vielleicht kann er ja mal bei Ihnen ein Praktikum machen?«

»Ich bin leider beim KK 11. Kapitalverbrechen. Da haben wir nicht so viel mit Computerkriminalität zu tun. Aber ich kann mich ja ein wenig umhören.«

»Das wäre lieb.« Katharina fürchtete schon eine neue Umarmung, aber die blieb ihr erspart. Walpurga Grüngoldt fuhr fort: »Ich wäre schon früher gekommen, aber es war schwierig, Sie zu finden. Gott sei Dank hat der Innenminister einen Golfpartner im Präsidium.«

Danke, Hölsung, dachte Katharina. Warum hast du es nicht gleich als Postwurfsendung verteilt?

»Und Sie? Schon wieder an einem neuen Fall?«, fragte die Oberbürgermeisterin neugierig.

»Nun, ehrlich gesagt …«

»Ich verstehe schon, Sie dürfen nicht darüber reden.«

»Nein, ich bin suspendiert.«

»Suspendiert? Doch nicht wegen …«

»Doch! Leider.«

Walpurga Grüngoldt sprang auf. »Das ist ja ein Skandal! Ich werde sofort mit Kriminaldirektor Polanski reden. Seine beste Beamtin – eine Heldin – suspendiert.«

»Ach, Polanski sitzt in der Küche!« Katharina wusste nicht, was sie ritt. Vielleicht wollte sie sich dafür rächen, dass ihr Chef ihr die Identität der Toten verschwiegen hatte. Walpurga Grüngoldt stürmte aus dem Wohnzimmer.

»Polanski! Das ist ja ein Skandal!«, drang ihre Stimme aus der Küche. »Suspendiert! Eine Heldin suspendiert!«

Ein paar Sekunden später schleifte die Oberbürgermeisterin Polanski ins Wohnzimmer und schubste ihn auf einen Sessel. »Suspendiert? Einen Orden hat Frau Klein verdient. Sie hat meinem Sohn das Leben gerettet.«

Polanski fasste sich wieder: »Ganz meine Meinung, Frau Grüngoldt. Aber leider steht Aussage gegen Aussage. Der verdeckt ermittelnde Beamte, den Frau Klein festgenommen hat …«

»Der Typ mit dem Geldkoffer war Polizist?« Frank Grüngoldts Stimme überschlug sich fast.

»Ja. Er sagt, er hatte die Situation unter Kontrolle.«

»Was?«, riefen Mutter und Sohn gleichzeitig schrill.

Frank Grüngoldt erklärte: »Der Typ hat sich doch angepisst vor Angst. – Entschuldigung, Mama.«

»Weiter, Frank! Erzähl, was passiert ist.«

»Der hat sich doch in seine Ecke verkrochen. Und gewimmert wie ein Kind. Erst hat der eine einen Mann erschossen …«

»Meinen Partner. Thomas Henrich«, warf Katharina ein.

»Und dann wollten die abhauen. Uns Männer erschießen und die Mädchen als Geiseln nehmen. Doch da kam Gottseidank Frau Klein.«

Polanski hatte aufmerksam zugehört. »Und so ist es wirklich gewesen?«

»Mein Sohn denkt sich so was doch nicht aus. Da können sie auch die anderen drei fragen«, sagte Walpurga Grüngoldt entrüstet.

»Keine Sorge, das werde ich tun. Frau Grüngoldt, wären Sie damit einverstanden, dass Ihr Sohn eine offizielle Aussage vor dem Untersuchungsausschuss macht?«

»Mein Sohn ist volljährig, Herr Polanski.«

»Natürlich sage ich aus. Und meine Freunde auch.« Frank Grüngoldt hatte trotzig die Arme verschränkt.

»Hervorragend.« Der Kriminaldirektor nickte anerkennend.

***

Nach und nach gingen die Gäste. Walpurga Grüngoldt gab Katharina zum Abschied ihre Visitenkarte. Sie solle sich melden, wenn sie irgendetwas brauche. Katharina steckte die Karte in den Rahmen des Spiegels im Flur.

Andreas Amendt verabschiedete sich als Letzter. Katharina brachte ihn zur Tür. »Danke«, sagte sie leise. »Für das Essen, für die CD.«

»Das ist mir …«

»Nein. Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit.«

Andreas Amendt musterte sie. Sein Blick war undurchdringlich.

»Was ist?«, fragte Katharina.

»Ach nichts. – Vielleicht wirklich.«

Ohne nachzudenken stellte sich Katharina auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange: »Tschüss. Bis morgen.«

Andreas Amendt nickte ihr noch einmal zu. Dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Katharina wartete, bis sie die Haustür klappen hörte. Dann schloss sie die Tür und legte die Kette vor.

Morgen würde sie sich die CD anhören. Von Anfang bis Ende.

***

Jazz-Trilogie

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