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A Day in the Life of a Fool Freitag, 23. November 2007

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Katharina hob den Kopf. Etwas hatte sie geweckt.

Auf ihrer Bettkante saß …

… Susanne, ihre Schwester. An ihrer neonblauen Haarsträhne kauend blätterte sie in einem gelbroten Buch. »Du hast es aufgehoben.«

Katharina wollte sich aufsetzen, doch irgendetwas hielt sie am Ärmel fest. Sie versuchte sich loszumachen, aber es ging nicht. Das Zerren an ihrem Ärmel wurde immer stärker. Schließlich riss sie sich mit aller Macht los und setzte sich auf.

***

Wer zum Teufel …? Laura!

Das kleine Mädchen stand neben Katharinas Bett und zupfte an ihrem Ärmel. Wie kam …? Ach ja, richtig. Laura hatte bei ihr übernachtet.

»Muss ich heute nicht in den Kindergarten?«

Kindergarten. Stimmt. Kinder müssen in den Kindergarten. Katharina blickte auf die Uhr. Zehn nach sieben. »Wann musst du denn da sein?«

»Um acht.«

Oh je. Also aufstehen. Katharina schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Bettkante.

»Wer ist denn Susanne?« Laura blickte sie mit großen, neugierigen Augen an. »Du hast gerade den Namen gesagt. Beim Schlafen.«

»Meine große Schwester.« Katharina stieß seufzend die Luft aus.

»Mama hat mir auch eine Schwester versprochen. Oder einen Bruder. Aber Jungs sind doof.«

Katharina nahm das kleine Mädchen an die Hand und ging mit ihr ins Bad, wo Laura wieder begann, sich gewissenhaft die Zähne zu putzen.

Eigentlich war Freitag. Ladyshave-Tag. Das würde Katharina wohl verschieben müssen. So duschte sie nur kurz und stieg gerade rechtzeitig zum Ende von Lauras Zahnputzritual aus der Kabine.

»Laura, willst du auch duschen?«

»Oh ja.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Nee, ich bin doch schon –«

»Ich weiß, du bist doch schon fast fünf.« Katharina drehte das Wasser auf handwarm und stellte das milde Shampoo auf die unterste Stufe der Ablage.

***

In ihrer Kleiderwahl war Laura penibler als Katharina. Endlich fanden aber doch einige der Kleidungsstücke, die Katharina mitgebracht hatte, vor ihren strengen Augen Gnade.

Frühstück musste ausfallen. Während Laura ihren Kakao trank, zapfte sich Katharina rasch einen Espresso aus ihrer italienischen Hochleistungskaffeemaschine. Ein Geburtstagsgeschenk von Antonio Kurtz, ihrem Patenonkel: »Wenn ihr Bullen schon ständig Kaffee trinkt, dann wenigstens vernünftigen.«

Oh je, sie hatte ja Montag schon wieder Geburtstag. Das würde eine feine Feier werden beim Psychologen.

Kinder nahmen doch immer etwas zu essen mit in den Kindergarten, fiel Katharina ein. Sie schaute in den Kühlschrank. Na gut, eine Tafel Schokolade. Daran würde das Kind schon nicht eingehen. In ihrer Obstschale fand sie noch zwei Äpfel, die halbwegs essbar aussahen. Vorsichtig schnupperte sie daran. Ja, das waren richtige Äpfel und keine Dekoration. Wann hatte sie die denn gekauft?

***

»Du hast aber ein lustiges Auto.« Staunend stand Laura vor Morris, während Katharina überlegte, wo sie das Kind unterbringen sollte. Sie hatte es immer wieder gepredigt, als sie in der Ausbildung Streife fuhr: Kleine Kinder gehören in Kindersitze. Aber sie hatte natürlich keinen. Es musste also so gehen.

Laura krabbelte auf den Rücksitz. Katharina schnallte sie sorgfältig an. Laura giggelte. Das Kind war aber wirklich kitzelig.

Vorsichtig fuhr Katharina aus der Parklücke. »Mein Gott, ich transportiere doch kein Nitroglyzerin«, ermahnte sie sich. Sie brachte die Tochter einer Nachbarin zum Kindergarten. Ausnahmsweise.

»Du hast ja gar kein Blaulicht.«

»Das ist ja auch kein Polizeiauto. Das ist meins. Aber ein Blaulicht habe ich trotzdem.« Sie zeigte Laura das mobile Blaulicht im Handschuhfach.

»Machst du das jetzt an?«

Das fehlte noch. Signalfahrt zum Kindergarten. Hölsung wäre begeistert.

»Aber ich bin doch gar nicht im Dienst. Dann darf ich das nicht.«

»Schade. Da würden die anderen gucken.«

***

Das taten sie auch so. Katharina hielt sich nicht lange mit der Suche nach einem Parkplatz auf, sondern fuhr mit Schwung auf den Hof des Kindergartens. Rasch bildete sich eine Traube von Kindern um das Auto. Auch ein paar Eltern gesellten sich dazu.

»Das ist ja ein echter Mini.« Katharina, die gerade versuchte, Laura aus ihrem Gurt zu befreien, drehte sich zum Sprecher um. Der junge Mann hielt ein vielleicht dreijähriges Mädchen auf dem Arm: »Der sieht aber richtig gut aus. Ihr Mann ist sicher Automechaniker, oder?«

»Ich bin nicht verheiratet«, knurrte Katharina. »Und den Wagen habe ich selbst restauriert.«

Der Mann blickte auf seine Tochter. »Siehst du, so was kannst du später auch, wenn du mit Autos spielst.« Dann wandte er sich wieder an Katharina. »Wir legen großen Wert darauf, dass Yasmin nicht mit einem traditionellen Rollenverständnis aufwächst. Leider spielt sie lieber mit Puppen.«

Katharina hätte am liebsten erwidert, sie habe als Kind immer mit Autos gespielt und vorgestern zwei Menschen erschossen. Aber vermutlich war der Mann nicht sehr humorbegabt. Das waren die wenigsten Eltern.

***

Katharina wollte das blonde Kind, das ihr immerhin bis zur Nasenspitze reichte, schon fragen, wo sie denn die Kindergärtnerin fände. Gott sei Dank sah sie ein zweites Mal hin, als Laura das »Kind« begrüßte: »Hallo, Tante Elfie.«

»Guten Morgen, Laura.« Das Wesen sah aus wie eine Elfie und sprach auch so. Es musterte Katharina wie eine Spitzmaus ein Stück Rattengift: »Ich bin Elfie LaSalle. Ich leite diesen Kindergarten. Und Sie sind?«

»Das ist Katharina. Sie ist Polizist«, mischte sich Laura stolz ein. Elfies Gesicht wurde noch spitzer. Gleich würde sie »Haut die Bullen platt wie Stullen« skandieren.

»Wo ist Lauras Mutter?« Mit ihrem Tonfall hätte Elfie LaSalle durchaus den Kurs »Verhörmethoden I« bestehen können.

Katharina fragte vorsichtig: »Kann ich Sie einen Augenblick unter vier Augen sprechen?«

Die Kindergärtnerin nickte: »Komm, Laura. Geh schon mal spielen.«

Laura sah zu Katharina hoch. »Tschüss, Katharina.«

Katharina ging in die Hocke, nahm Laura fest in den Arm und strich ihr über die blonden Locken. »Tschüss, Laura. Du bist heute ganz artig, ja? Ich hole dich nachher auch ab.«

»Echt? Toll!« Laura hüpfte mit ihrem Rucksack auf dem Rücken davon. Katharina stand auf.

»Und?« Elfie LaSalle sah sie immer noch streng an, soweit das einem kleinen, blonden, zierlichen Wesen möglich war, das sich im Herzen auf einer Altersstufe mit den von ihr behüteten Kindern befand.

»Ich bin eine Nachbarin von Lauras Mutter«, sagte Katharina. »Sie hatte gestern einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Wissen Sie zufällig, wie ich den Vater oder andere Verwandte erreichen kann?«

Elfie LaSalle antwortete eine Nuance freundlicher: »Soweit ich weiß, hat Laura nur ihre Eltern hier in der Nähe. Und der Vater ist verreist. Mit dem Segelboot quer durch die Weltgeschichte. Aber ich kann versuchen, seinen Auftragsdienst zu erreichen.«

»Das wäre sehr nett.«

»Und Laura bleibt so lange bei Ihnen?«

»Das wird das Jugendamt entscheiden. Ich fahre jetzt aber erst mal ins Krankenhaus und schaue nach Frau Wahrig.«

Katharina wollte gerade gehen, als sich ihr Jagdinstinkt meldete: »Ach … Sagen Sie … hat sich Laura in letzter Zeit irgendwie verändert? Oder die Mutter? Wirkte sie vielleicht so, als ob sie Angst hätte?«

Hundertfünfzig Zentimeter Ganzkörperstaunen. »Oh nein, im Gegenteil. Beide waren fröhlicher als je zuvor. Unter uns – ich denke, Frau Wahrig war frisch verliebt.«

»Verliebt? Wissen Sie in wen?«

»Nein, leider nicht. Aber man sieht das ja. Wenn ein Mensch verliebt ist, meine ich. – Ist das eine offizielle Ermittlung?«

»Nein, ich bin einfach nur neugierig.«

»Jaja, Katzen, die morgens neugierig sind, fressen abends den Hund.« Damit drehte sich Elfie LaSalle um und verschwand im Haus.

***

Morris war immer noch von einer Kinderhorde umringt. Direkt neben dem Mini stand jetzt ein neuer Mercedes. Der Fahrer wuchtete gerade eine rot und blau gestreifte Tonne aus dem Auto, die Katharina erst beim zweiten Hinsehen als Kind erkannte. Vater und Sohn starrten verkniffen auf die anderen Kinder, die staunend vor Morris standen.

»Immer schön im Regen fahren, vielleicht wächst er ja noch!« Endlich war dem Vater ein Kommentar eingefallen.

In das folgende eisige Schweigen hinein sagte ein kleiner Junge: »Du bist aber doof. Das ist doch ein Mini.«

Katharina stieg in ihr Auto und fuhr vorsichtig aus der Einfahrt. Im Rückspiegel sah sie, wie der düpierte Mercedes-Fahrer seinen Nachwuchs ins Gebäude schleifte. Das war fast so gut, wie einen Benz bei zweihundert Stundenkilometern abzuhängen.

***

Der Becher Automatenkaffee stellte zwar einen eklatanten Verstoß gegen die Genfer Konventionen dar, wärmte aber wenigstens ihre Finger, während Katharina angestrengt auf den großen Plan des Uniklinikums starrte.

Wo war noch mal die blöde Rechtsmedizin? Sie verfluchte sich dafür, dass sie sich immer vor den Besuchen dort gedrückt hatte. Ihr Partner Thomas hatte diesen Teil ihrer Arbeit übernommen. Ohne zu fragen. Er hatte sofort verstanden, dass Katharina das Gebäude hasste, in dem sie die Leichen ihrer Eltern und ihrer Schwester hatte identifizieren müssen.

Sie war gerade sechzehn geworden. Der Anruf hatte sie mitten in der Nacht in Kapstadt erreicht, wo sie ein Jahr als Austauschschülerin bei Bekannten ihres Vaters leben sollte. Am Flughafen in Frankfurt hatten sie ein Polizeibeamter und ein Pfarrer abgeholt. Mit ihnen zusammen war sie zur Rechtsmedizin gefahren –

***

Katharinas Beine sackten weg. Der Kaffeebecher schlug aufs Pflaster.

Ein kräftiger Arm fing sie auf. Hielt sie fest. Führte sie zu einer Bank. Setzte sie hin. Katharina ließ sich einfach sinken. Ihre Wange berührte weiches Leder. Sie roch einen Hauch von Aftershave. So würde sie jetzt einfach sitzen bleiben, die Augen geschlossen …

»Hallo, bleiben Sie bei mir!« Sanfte Klapse auf ihre Wangen holten Katharina in die Realität zurück. Die Augen des Mannes, der sie hielt, waren grau – mit genau dem richtigen Schuss Blau.

»Sind Sie wieder da?«

Katharina setzte sich auf. Vor ihren Augen flimmerte es.

»Möchten Sie zu einem Arzt? Kann ich Sie irgendwohin bringen?« Die Stimme des Mannes war sanft, warm, freundlich.

»Zur Rechtsmedizin«, murmelte Katharina.

»So schlimm wird es doch wohl hoffentlich nicht sein.«

Katharina brauchte einen Moment, bis sie verstanden hatte. »Nein, ich muss da hin und …« Das war jetzt wirklich schwierig zu erklären.

Doch der Mann nickte nur. »Leichenschau I, nehme ich an?«

Sie bejahte leise. Sollte der Mann sie doch für eine Studentin halten.

»Da haben wir den gleichen Weg. Aber erst …«, er griff in die Tasche seiner Jacke und reichte Katharina einen Schokoriegel, »… essen Sie das. Das wird hoffentlich Ihren Kreislauf wieder auf Touren bringen. – Lassen Sie mich raten: Uniklinik-Frühstück? Automaten-Kaffee ohne Beilagen?«

»Danke«, murmelte Katharina zwischen zwei schokoladigen Bissen.

Ihr unbekannter Wohltäter stand auf. Er musste Ende zwanzig sein, hatte ein fein geschnittenes Gesicht und kurze, dunkle, verwuschelte Haare. Er trug eine herrlich altmodische Pilotenlederjacke. Und dann diese Hände: schlank und kräftig. Die Nägel seiner linken Hand war ganz kurz, die an der rechten sorgsam manikürt und etwas länger. Er spielte also Gitarre. Musiker. Arzt – gut, angehender Arzt. Und er sah verteufelt gut aus.

»Geht es wieder?« Der Mann beugte sich zu Katharina hinunter, die völlig in seinen Anblick versunken war.

Sie griff ihre Handtasche fester. »Ja, ja, klar.«

Mit Schwung stand sie auf. Sie war jung, sie war dynamisch –

»Hoppla!« Beinahe wäre sie nach vorn gegen den Mann gefallen, doch er hielt sie an den Schultern fest: »Nicht so schwungvoll.«

Als Katharina vor ihm stand, stellte sie fest, dass er nicht so groß war, wie sie gedacht hatte. Vielleicht einen Meter fünfundsiebzig.

»Kommen Sie, wir wollen doch den Anfang der Vorlesung nicht verpassen.«

***

Ihr unbekannter Wohltäter schritt zügig aus. Bald hatten sie das Ende des Uniklinik-Geländes erreicht. Wo ging der Mann nur hin? Dann fiel es Katharina wieder ein: Die Rechtsmedizin lag ja außerhalb des Geländes an der Kennedyallee. Wo war heute Morgen nur ihr Kopf?

***

Universitätsklinikum Frankfurt

Goethe-Universität

Zentrum der Rechtsmedizin

verkündeten die weißen Schilder, die im Garten einer prunkvollen Villa standen.

»Ich muss mich jetzt entschuldigen.« Der Mann eilte zu einem Nebeneingang davon. Vermutlich ein Doktorand, dachte Katharina. Bestimmt war er mit einer Sozialpädagogik-Studentin namens Nadine zusammen: blond, mit ein paar selbst gefärbten roten Strähnen. Abends schmiedeten sie gemeinsam Pläne für die Rettung der Welt. Nach Afrika würden sie gehen, wenn sie mit dem Studium fertig waren, in ein Urwaldhospiz. Armen, unschuldigen Kindern helfen.

Katharina schüttelte den Kopf, um diese albernen Gedanken zu verdrängen. Sie war schließlich hier, um eine Aufgabe zu erledigen.

***

An anderen Tagen mochte die Gründerzeit-Architektur mit ihren schweren Holztäfelungen edel aussehen, aber im trüben Licht des Novembermorgens wirkte sie einfach nur bedrückend. Wohin musste sie denn jetzt?

»Geschäftszimmer« stand an einer Tür. Sie klopfte und vernahm so etwas wie ein »Herein!«.

Der Instituts-Zerberus thronte hinter einem großen Schreibtisch und hieb heftig auf eine Computertastatur ein.

»Guten Morgen, ich bin Katharina Klein vom KK 11. Ich soll hier jemanden identifizieren.«

»Da müssen Sie sich schon an den diensthabenden Rechtsmediziner wenden.«

»Ah ja. Wo finde ich den denn?«

Der Zerberus studierte einen eingeschweißten Stundenplan: »Doktor Amendt ist unten. Autopsie III. Hat aber gleich Kurs. Werden wohl warten müssen.«

Damit war das Gespräch offenbar beendet, denn der Zerberus wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu.

»Unten?«

»Dienstbotentreppe. Den Gang lang. Dann ins Souterrain.«

Katharina bedankte sich. Der Zerberus antwortete mit einem Laut, der wie ein Zähnefletschen klang.

***

Beim nächsten Mal nehme ich rohes Fleisch mit, dachte Katharina, als sie wieder auf dem Gang stand.

Ausgerechnet Dr. Andreas Amendt musste an diesem Tag Dienst haben. Der Neue. Kaum sechs Wochen in der Rechtsmedizin Frankfurt, hatte er sich schon sämtliche Abteilungen der Kriminalpolizei zum Feind gemacht.

Katharina hatte in einem Rundschreiben seine Vita gelesen. Neurologe. Rechtsmediziner. Und mit gerade mal neununddreißig Jahren stellvertretender Chefarzt des Zentrums. Ein Karriere-Arzt, der mit Macht nach oben wollte - eindeutig.

Sie war gespannt, wie dieser Mann aussah: vermutlich früh ergraut, hager, verkniffen, die Augen hinter einer Brille mit Stahlrahmen verborgen.

Lustlos machte Katharina sich auf die Suche nach der Dienstbotentreppe.

***

»Die Leichenschau …«, fing jemand an zu reden, noch bevor er den Raum richtig betreten hatte, »… ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben für den Arzt. Was Sie finden oder nicht finden, ist für die Aufklärung eines Todesfalls von entscheidender Bedeutung.«

Autopsie III war gut besucht. Zwanzig Studenten schrieben eifrig in ihre Notizbücher, während der Sprecher hinter den mit einem Tuch abgedeckten Autopsietisch in der Mitte trat: Es war der junge Mann, der Katharina vorhin geholfen hatte.

»Mein Name ist Andreas Amendt«, stellte er sich vor. »Und die meisten von Ihnen werden bei meiner Prüfung durchfallen. In Freiburg nannte man mich auch das Exmatrikulations-Amt.«

Einige Studenten lachten unsicher. Dr. Amendt zog eine Fernbedienung aus der Tasche seines Kittels und schaltete damit zwei Monitore an. Auf blauem Hintergrund wiederholten Bullet Points seine Worte, während er weitersprach:

»Die Leichenschau stellt drei Fragen: Wodurch ist der Tod eingetreten? Wann ist der Tod eingetreten? Und, nicht zu vergessen: Ist der Tod überhaupt eingetreten?«

Dr. Amendt steckte die Fernbedienung zurück in seinen Kittel. Dann fuhr er fort: »Die erste Frage kann die äußere Leichenschau nur in sehr engen Grenzen beantworten. Aber sie kann uns wertvolle Hinweise geben. Für die Leichenschau wird eine Leiche grundsätzlich vollständig entkleidet.«

Mit diesen Worten zog er das Tuch vom Tisch und enthüllt den Körper einer jungen Frau. Sie war nackt und auch im Tode noch ausgesprochen schön: blond, schlank, wohlgeformte Brüste.

Mehrere Studenten stießen sich an. Einer pfiff leise. Dr. Amendt musterte ihn abfällig, der Student verstummte.

Der Arzt deutete auf den Pfeifer: »Sie!«

Der Student fragte erschrocken: »Ich?«

»Ja, Sie. Unsere Tote wurde letzte Nacht aufgefunden. Keine bekannte Erkrankung, keine andere medizinische oder juristische Vorgeschichte. Was fällt Ihnen auf?«

»Äh, nichts.«

»Dann treten Sie näher heran. Genaue Beobachtung ist für die Leichenschau das A und O.«

Der Student schlich an den Tisch wie ein Bombenentschärfer an einen Sprengsatz. Er starrte auf das junge Mädchen.

»Also, was fällt Ihnen auf?«

»Äh, nichts.«

»Was heißt nichts?«

»Nichts Besonderes?«

»Was wäre denn besonders?«

»Vielleicht Verletzungen?«, fragte der Student schüchtern.

»Gut. Also keine Verletzungen. Was noch?«

»Keine Hautverfärbungen?«

»Auch gut. Also, was fällt Ihnen auf?«

»Nichts.«

»Gut. Dann drehen sie die Leiche mal um.«

Der Student rieb sich die Hände am Kittel und wollte zufassen.

»Handschuhe!«, wies ihn Dr. Amendt zurecht.

Der so Vorgeführte mühte sich, seine Hände in die Einweghandschuhe zu zwängen, die ihm der Rechtsmediziner reichte. Dann fasste er die junge Frau vorsichtig an.

»Etwas mehr Kraft werden Sie wohl brauchen.«

Endlich lag die Frau auf dem Bauch.

»Also, was fällt Ihnen auf?«

»Nichts.«

»Gut, dann drehen Sie sie wieder auf den Rücken.«

Als auch das geschafft war, fragte Dr. Amendt erneut: »Was ist Ihnen aufgefallen?«

»Äh, nichts.«

»Also?«

»Nichts.« Gleich würde der Student anfangen zu weinen.

»Nichts? Und das fällt Ihnen nicht auf? Eine junge Frau, offenbar gesund? Keine Verletzungen? Sie dürfte dem äußeren Anschein nach gar nicht tot sein. – Also: Was liegt hier vor?«

Er ließ den Blick über die Studenten schweifen. Sie senkten die Häupter. Wer von ihnen würde wohl der Nächste sein? Endlich murmelte einer »Drogen«, »Gift« ein anderer. Schließlich schlug noch jemand vor: »Innere Verletzungen?«

»Bitte, geht doch. – Wer möchte es jetzt mal versuchen?«

Offenbar niemand – zumindest nicht freiwillig. Dr. Amendt deutete auf Katharina: »Sie vielleicht?«

»Ich? Aber –«

»Nicht so schüchtern. Kommen Sie.«

Katharina wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Hilfesuchend blickte sie zu den Monitoren, auf denen immer noch die letzte Frage blinkte: »Ist der Tod überhaupt eingetreten?«

Wirklich? War es so einfach? Sie betrachtete die junge Frau genauer, während sie sich ein paar Handschuhe überstreifte.

»Keine Leichenflecken«, stellte sie fest. Dann tastete sie unauffällig nach dem Puls am Hals der vermeintlichen Leiche: Er schlug kräftig und gleichmäßig. Sie nahm einen Oralspiegel vom Instrumententisch und hielt ihn vor die Nase der „Toten“. Er beschlug sofort.

Nachdenklich trat Katharina einen Schritt zurück: »Tja …«

»Und?« Bei aller Contenance konnte sich der Rechtsmediziner ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Ich denke, wir können die Patientin als geheilt entlassen. Sie lebt und ist allem Anschein nach gesund.«

Die junge Frau auf dem Tisch öffnete die Augen und grinste zu Katharina hinauf. Sie wollte sich aufsetzen, doch Dr. Amendt hielt sie zurück: »Woher wissen Sie, dass sie wirklich gesund ist?«

»Ich weiß es nicht. Aber da Sie ein guter Arzt sind, werden Sie wohl kaum riskieren, dass die Patientin sich doch noch den Tod holt.«

Dr. Amendt nickte wohlwollend und sagte zu der auf dem Tisch Liegenden: »Es ist gut, Frau Söhnlein. Sie können sich jetzt anziehen.«

Die Angesprochene sprang schwungvoll vom Tisch und hängte sich das Tuch, das vorher auf ihr gelegen hatte, um wie eine Toga. Dann schritt sie majestätisch nach draußen.

»Das war sehr gut, Frau …?«

»Klein. Ich –«

Weiter kamen sie nicht.

Einer der Studenten war umgefallen. Katharina hatte ihn vorher schon bemerkt, weil er sehr dick war und trotz der Kühle im Autopsiesaal schwitzte. Jetzt lag er auf dem Fußboden, das Gesicht so weiß wie sein Kittel. Dr. Amendt und Katharina stürzten zu ihm. Der Arzt tastete nach dem Puls, dann bedeutete er Katharina, ihm zu helfen, den Mann in die stabile Seitenlage zu drehen. Danach rief er über ein Telefon an der Tür den Notdienst. Nachdem er aufgelegt hatte, fragte er die Studenten streng: »Die Ursache für den Kollaps, meine Damen und Herren?«

Keiner regte sich.

»Das ist ja eine Katastrophe mit Ihnen.« Andreas Amendt schüttelte den Kopf. Katharina, die noch immer neben dem Bewusstlosen kniete, sah auf: »Diabetes, würde ich sagen.« Sie zog die Brieftasche des Mannes hervor. Tatsächlich steckte ganz oben eine Diabetes-Hinweiskarte. Sie reichte sie Dr. Amendt.

»Sehr gut, Frau Klein.«

***

Endlich kamen die Sanitäter. Der Rechtsmediziner erteilte ihnen knappe Anweisungen. Dann wandte er sich an die Studenten, die ihre Schreckensstarre noch immer nicht ganz abgeschüttelt hatten: »Da es Ihnen offenbar an Grundlagen fehlt, ist nächste Woche Testat. Sichere und unsichere Todeszeichen sowie verschiedene Formen des Scheintods. Gehen Sie in die Bibliothek. Zu den Grundlagenlehrbüchern. Jetzt! Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie Antworten auf meine Fragen haben.«

Die Studenten gingen langsam aus dem Raum, leise über die Ungerechtigkeit dieser Welt lamentierend. Katharina und Dr. Amendt blieben zurück.

»Hin und wieder trifft man also doch Studenten, die wenigstens ansatzweise begriffen haben, worum es in der Medizin geht«, sagte der Arzt anerkennend.

»Tut mir leid. Aber ich bin keine Studentin. Mein Name ist Katharina Klein vom KK 11.«

»Die Killer Queen?«

Katharina hasste diesen Spitznamen. Doch sie entschloss sich, die Provokation zu überhören. »Ich bin hier, um meinen Kollegen zu identifizieren.«

Dr. Amendt musterte sie nachdenklich: »Schade. – Kommen Sie!«

***

»Wo haben wir denn …? – Ach da.«

Doktor Amendt öffnet eines des Stahlfächer in der Leichenhalle. Der Körper auf der metallenen Bahre war in einen mit einem Reißverschluss verschlossenen, dunkelblauen Sack gehüllt. Katharina fröstelte. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Kittels.

»Bereit?«

Katharina nickte stumm. Dr. Amendt zog den Reißverschluss auf und schlug das Plastik zurück: Thomas. Nackt. Katharina sah die große Ypsilon-Narbe der Autopsie, die grob vernähten Einschusslöcher im Brustkorb. Der Haut war bleich, die Bauchdecke eingesunken. Vermutlich fehlten die inneren Organe.

Früher hatten Katharina Autopsien nichts ausgemacht. Bevor sie nach Frankfurt versetzt worden war. Doch jetzt? Sie kniff die Augen zusammen. Nur nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt.

Ein Arm legte sich um ihre Schultern: »Möchten Sie einen Augenblick alleine sein?«

Alles, bloß das nicht. Nicht alleine sein. Nicht nachdenken müssen. Katharina schüttelte den Kopf. Endlich traute sie sich, Thomas ins Gesicht zu sehen.

Jeden Augenblick würde er zu ihr aufschauen, dachte sie. Dann wäre dieser Albtraum vorüber. Vielleicht war sie einfach nur in der Oper eingeschlafen? Gleich würde sie aufwachen. Wenn sie sich nur ganz fest konzentrierte.

***

»Sie müssen wirklich mal Ihren Kreislauf untersuchen lassen. – Fallen Sie immer so schnell in Ohnmacht?«

Katharina fand sich auf einem Klappstuhl wieder. Dr. Amendt hockte vor ihr. Hielt ihre Hände fest in den seinen. Katharina machte sich los. Das war ja peinlich. Sie war schließlich Kriminalbeamtin.

»Geht schon.« Katharina ignorierte das Pulsieren in ihrem Kopf und stand auf. »Ja, das ist mein Kollege.«

»Wenn es Sie beruhigt: Seine beiden Mörder sind auch hier. Rechts und links von ihm. Saubere Arbeit Ihres Killerkommandos.«

Katharina fuhr auf: »Das war Notwehr!«

»Notwehr? So präzise Schüsse? Wohl kaum. Das war Profiarbeit. Kaum zu glauben, dass das Polizisten waren. Aber vermutlich gleichen sich Jäger und Gejagte irgendwann an. – Hier, ich brauche noch eine Unterschrift.« Dr. Amendt hielt ihr einen Aktenordner hin. Katharina trug ihren Namen und ihre Dienstnummer in die dafür vorgesehenen Felder ein und unterschrieb die Identifikation. Das war also der Abschied von ihrem Kollegen. Die letzte Amtshandlung. Nicht weinen. Nicht wieder in Ohnmacht fallen.

Dr. Amendt nahm ihr die Akte ruppig aus der Hand.

»Sie mögen die Polizei nicht besonders, oder?«, fragte Katharina mürrisch.

»Nein!« Der Arzt schloss die Schublade, in der Thomas lag, mit einem lauten Knall.

***

Endlich hatte Katharina den Weg ins Freie gefunden. Sie trat mit aller Macht gegen das schmiedeeiserne Tor. Es sprang dröhnend auf. Der Tritt löste ihre Probleme zwar nicht, tat aber gut.

Das war also Dr. Andreas Amendt. Wie kam dieser Psychopath nur zu einer leitenden Position in der Rechtsmedizin?

Katharina stieß zischend die Luft aus, um sich zu beruhigen. Sie erinnerte sich, dass sie Laura versprochen hatte, nach ihrer Mutter zu sehen. Vielleicht würde alles gut werden. Vielleicht ging es Melanie Wahrig schon besser. Vielleicht.

Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke und ging mit schnellen Schritten zurück zum Gelände der Uniklinik.

***

Eine Schwester führte Katharina durch die Intensivstation. Es war still auf der Station. Sterile Überschuhe dämpften die Schritte.

In einen Raum am Ende des Gangs lag Melanie Wahrig. Sie war so blass, dass ihre Haut wirkte wie durchscheinendes Pergament. Ihr Kopf war bandagiert: Die langen Locken hatte man natürlich abrasiert. Kaum merklich hob und senkte sich der Brustkorb im Takt der Beatmungsmaschine. Die Augen der jungen Frau waren offen, doch sie starrten ins Leere.

Katharina warf einen Blick auf die Monitore neben dem Bett: Das Herz schien regelmäßig zu schlagen, doch das EEG zeigte nur ganz kleine Ausschläge.

»Sind Sie von der Kriminalpolizei?«

Katharina fuhr herum.

Alles an dem großen Mann, der vor ihr stand, schien eine Nummer zu groß zu sein und hing übermüdet an ihm herab: der Kittel, die endlosen Arme, sogar die Gesichtszüge. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Neurath, ich bin der Neurologe hier auf der Station. Sind Sie Hauptkommissarin Klein?«

Katharina bejahte.

»Ich habe schon den ganzen Morgen versucht, Sie anzurufen. Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Mit einer knappen Geste bat er sie hinaus auf den Gang und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.

Katharina fragte: »Wie geht es ihr?«

»Offen gesagt, nicht gut. Wir können nur hoffen, dass die Schwellung im Gehirn zurückgeht. Aber im Moment …«

»Wie sind die Chancen? Kann sie wieder gesund werden?«

»Sie … sie müsste schon längst tot sein. Aber ihr Körper ist stark. Das ist vielleicht noch eine Chance, aber …«

»Aber?«

»Ehrlich gesagt: Ich glaub nicht daran.«

Katharina schwieg.

Endlich fuhr Dr. Neurath fort: »Ich wollte aber noch etwas anderes mit Ihnen besprechen.«

Er zog mehrere große, dunkle Folien aus einer Akte und hielt sie gegen das Licht. Unzufrieden mit dem Ergebnis lotste er Katharina in ein kleines Büro, an dessen Wand ein Röntgenfilmbetrachter hing.

»Sehen Sie das?« Er deutete mit einem Stift auf eine Stelle des Röntgenbildes. »Das hier ist der Bruch im Schädel von Frau Wahrig. Schon bei der OP ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen.«

»Ja?«

»Ich bin kein Spezialist für so was, aber es sieht so aus, als wäre sie zweimal exakt auf die gleiche Stelle gefallen. Mit ziemlicher Wucht. Das ist sehr ungewöhnlich.«

»Und das heißt?«

»Für mich sieht es so aus, als wäre sie auf etwas geschlagen worden. Mit Absicht. Das würde auch die Tiefe der Verletzung erklären. Aber das kann Ihnen ein Rechtsmediziner besser sagen. Doktor Amendt müsste Dienst haben.«

»Ich weiß«, sagte Katharina missmutig.

Dr. Neurath sah sie erstaunt an, dann hoben sich seine Mundwinkel um den Bruchteil eines Millimeters. »Er ist nicht so schlimm, wie er scheint. – Grüßen Sie ihn von mir. Wir sind Studienkollegen.«

***

Sie standen inzwischen wieder vor dem Zimmer, in dem Melanie Wahrig lag. Sie schien noch blasser geworden zu sein, aber vielleicht lag das an dem fahlblauen Licht und der Glasscheibe. Dr. Neurath legte Katharina die Hand auf die Schulter: »Ich rufe Sie an, sobald es etwas Neues gibt.«

Er begleitete sie zur Tür der Intensivstation. Zum Abschied schüttelte er ihr die Hand. Ganz anders als erwartet war der Händedruck warm und fest.

***

Beim Betreten der Station hatte Katharina einen sterilen Einweg-Overall überziehen müssen. Sie hatte ihn abgestreift und warf ihn gerade in den dafür vorgesehenen Behälter, als sich die Tür zur Intensivstation noch einmal öffnete. Dr. Neurath streckte ihr einen Umschlag entgegen: »Hier, ich habe die Bilder für Sie zusammengepackt. Die sollten Sie besser mitnehmen.«

***

Katharina klopfte an die Tür zu Dr. Amendts Dienstzimmer. Eine Frauenstimme rief freundlich: »Herein!«

Hinter einem Schreibtisch saß die junge Frau, die in der Vorlesung die Rolle der Leiche übernommen hatte, und verbreitete Sonnenschein.

»Ich möchte gern zu Doktor Amendt.«

»Oh, Andreas ist gerade außer Haus. Kann ich etwas ausrichten?«

Andreas? Hatte Amendt seine Geliebte als Sekretärin eingeschmuggelt? Katharina überkam das Bedürfnis, das blonde Wesen hinter dem Schreibtisch zu ohrfeigen. Mürrisch sagte sie: »Ich bin von der Kriminalpolizei und muss einen Fall mit ihm besprechen.«

»Oh, dann sind Sie sicher Katharina Klein? Doktor Neurath hat gerade angerufen. Ich habe ihm versprochen, dass ich Sie gleich zu Andreas schicke. Er ist auf der Säuglingsstation.«

»Was macht er denn da?«

»Ach, da verbringt er meistens seine Pausen. Er ist ein Kindernarr, wissen Sie? – Warten Sie, ich habe hier eine Karte.«

Die junge Frau begann, auf ihrem Schreibtisch zu kramen, und zog schließlich einen kopierten Plan hervor. Mit einem roten Kreuz markierte sie die Station und zeigte Katharina, wie sie am besten dorthin kam. Katharina bedankte sich.

»Ich bin übrigens Diana Söhnlein«, zwitscherte die junge Frau. »Aber die meisten nennen mich einfach Jeannie.«

»Nach dem Falko-Song?« Wie passend.

»Nein, nach Zauberhafte Jeannie. Sie wissen schon, diese alte Fernsehserie.«

»Oh, ich verstehe. Einen schönes Wochenende, Frau Söhnlein. Und eine beeindruckende Leiche haben Sie gespielt.«

»Wirklich?« Das Mädchen strahlte noch mehr. »Ich will nämlich Schauspielerin werden.«

***

Eine rundliche Schwester öffnete die Tür der Säuglingsstation: »Sie müssen Frau Klein sein. Jeannie hat schon angerufen, dass Sie kommen. Hier, ziehen Sie das an.« Sie drückte Katharina eine chirurgengrüne Kombination in die Hand: kurzärmeliges Hemd und Hose.

»Bitte entschuldigen Sie die Umstände, aber wir haben hier einige äußerst kritische Fälle«, erklärte die Schwester, während sie Katharina in einen Umkleideraum führte.

Nachdem Katharina sich umgezogen hatte, schloss die Schwester den Raum ab und brachte sie in einen Saal voller kleiner Betten.

An einem Tisch stand Dr. Amendt. Er hielt ein sehr kleines Baby im Arm und gab ihm die Flasche. Dabei summte er leise vor sich hin.

»Doktor Neurath hat mich zu Ihnen geschickt«, sagte Katharina vorsichtig.

»Ich weiß«, summte der Arzt im Takt seiner Melodie. Er ließ die Augen keinen Moment von dem Kind auf seinem Arm.

»Er meinte, Sie sollten sich das hier mal anschauen.« Katharina hielt den Umschlag mit den Aufnahmen hoch, den ihr Dr. Neurath gegeben hatte.

»Später«, murmelte Dr. Amendt, während er das Baby über die Schulter hob und ihm sanft auf den Rücken klopfte, bis es leise aufstieß. Dann legte er es vorsichtig in seine Wiege zurück.

»Es ist aber wichtig.«

»Sie sind völlig verspannt, wissen Sie das? Dagegen weiß ich etwas.« Im nächsten Augenblick hatte Dr. Amendt ihr den Umschlag abgenommen und ein Kind in den Arm gedrückt. Vor Schreck ließ Katharina das Baby beinahe fallen.

»Was soll ich –?«

»Füttern. Sie werden sehen, das beruhigt.«

»Schauen Sie sich bitte die Bilder an?«

»Erst füttern!« Er schob ihr einen Stuhl zu. Es half wohl nichts. Sie setzte sich vorsichtig, das Kind auf dem Arm balancierend. Es presste den Kopf an ihre Brust. Katharina schob das Mundstück der Trinkflasche vorsichtig zwischen die kleinen Lippen. Das Baby begann zufrieden daran zu nuckeln. Katharina schaukelte es sanft. Sie spürte, wie sich ihr Nacken lockerte. Sie musste sich zwingen, ihre Augen offenzuhalten.

Dr. Amendt grinste. »Das funktioniert immer. Ein angeborener Reflex, nehme ich an. Stillen wäre natürlich noch besser.«

Katharina funkelte ihn böse an. Dabei zog sie dem Kind unabsichtlich den Nuckel aus dem Mund. Es begann leise zu greinen. Rasch korrigierte sie ihren Fehler. Zufrieden trank das Kind weiter und schmiegte sich an sie.

»Werden Sie sich jetzt die Bilder ansehen?«

Dr. Amendt hob ein weiteres Kind aus seinem Bettchen. »Gleich. Und als Privatmann gern. Aber als Rechtsmediziner? – Offen gesagt, ich bin suspendiert.«

»Warum das denn?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte. Im Grunde«, sagte er und gab dem Kind auf seinem Schoß die Flasche, »ist die kleine Johanna hier schuld dran. Aber ich will Sie nicht langweilen.« Er begann wieder zu summen.

Die Schwester nahm ihr das Kind ab. Katharina fühlte sich nackt. Beinahe hätte sie gefragt, ob sie nicht noch eines füttern könnte.

Endlich war auch das Kind auf Dr. Amendts Schoß satt. Er legte es in sein Bettchen und deckte es zu: »Schlaf gut, Johanna.«

Dann nahm er den Umschlag. »Jetzt wollen wir mal schauen, was Eric so Weltbewegendes entdeckt hat. Hier entlang, bitte.«

Er führte Katharina in ein kleines Sprechzimmer. Sie blieb am Eingang stehen, während der Arzt die Bilder schweigend betrachtete. Dann schaltete er den Röntgenfilmbetrachter aus: »Ich will sie sehen. Kommen Sie!«

Er begleitete sie auf dem Weg zur Umkleidekabine und schloss ihr die Tür auf. »Ich schaue noch mal kurz nach Johanna. Klopfen Sie einfach an die Scheibe, wenn Sie fertig sind. Aber leise.«

Ein seltsamer Mann, dachte Katharina, während sie die Tür hinter sich schloss. Sie schlüpfte aus den Krankenhauskleidern.

Die Tür öffnete sich erneut. Katharina sah auf.

Eine Frau betrat den Umkleideraum, vielleicht Ende dreißig. Ihr schwarzes Haar war zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als sie Katharina erblickte, sagte sie mit der ruhigen, kühlen Autorität einer Ärztin: »Wer sind Sie?«

»Katharina Klein vom KK 11.« Eine halbe Notlüge. »Ich hatte etwas mit Doktor Amendt zu besprechen.«

»Wegen Alexandra Taboch?«

»Wegen wem? Nein, es geht um einen Fall. Seine Sekretärin hat mir gesagt, wo ich ihn finde.«

»Tja, man könnte meinen, er sei Kinderarzt, so oft, wie er hier ist. – Ich bin übrigens Katja Meyer. Ich leite diese Station.« Die Frau reichte Katharina die Hand. Der Händedruck war fest und kühl, die Hand knochig und kräftig.

»Under Her?«, fragte sie und deutete auf Katharinas seidenen, schwarzen Body. Katharina bejahte.

»Schöner Laden.« Und damit streifte Katja Meyer ihren Pullover über den Kopf. Darunter trug sie ein Schnürkorsett aus schwarzem Samt. Auch schön, dachte Katharina. Dann sah sie den Anhänger am Hals der Frau – drei verschlungene Bögen, aus denen man mit etwas gutem Willen zwei S und ein C herauslesen konnte: »Save, Sane, Consensual«, der Wahlspruch der S/M-Szene.

Katharina schlüpfte rasch in ihre Kleidung und sah in den Spiegel, der an der Wand hing. Ihr Make-up konnte etwas Auffrischung vertragen. Sie nahm den Eyeliner und die Puderdose aus ihrer Handtasche und begann, sich zu restaurieren. Die Ärztin sah ihr über die Schulter. »Ich hoffe, Sie machen sich nicht für Andreas so fein?«

Katharina schüttelte den Kopf. Wie kam sie denn auf diese Idee? Sie wollte einfach nur passabel aussehen. Das war doch nicht verboten.

»Das hätte ohnehin keinen Sinn.« Die Ärztin lachte. »So ungefähr die Hälfte aller Frauen in diesem Krankenhaus macht Jagd auf ihn. Erfolglos. Die meisten meinen, er ist schwul.«

»Und Sie?«

»Ich halte ihn für einen kinderlieben Vanilla …« Sie korrigierte sich: »Für einen kinderlieben Mann, der –«

Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen. Auf dem Flur schrien sich zwei Männer an.

Die beiden Frauen stürmten aus dem Umkleideraum. Ein Mann hielt Andreas Amendt am Kragen seines Kittels gepackt, drückte ihn gegen die Wand des Flurs und brüllte: »Lassen Sie die Finger von Johanna Taboch! Sie haben hier nichts verloren!«

Katharina wollte dazwischengehen, doch die Stimme von Katja Meyer peitschte bereits über den Flur: »Henthen! Lassen Sie sofort Doktor Amendt los!«

Der Angesprochene sah zu ihr hin. Dann nahm er die Hände von seinem Opfer. »Doktor Amendt hat auf meiner Station nichts verloren«, bellte er Katja Meyer an.

»Das hier ist meine Station«, erwiderte die Ärztin gelassen. »Die Abteilung für Reproduktionsmedizin ist eine Etage tiefer. Und dorthin bitte ich Sie jetzt zu gehen.«

»Was erlauben Sie sich?« Der Mann baute sich vor Katja Meyer auf. Sie war größer als er. »Ich bin immerhin Chefarzt der Reproduktionsmedizin.«

»Und ich bin Chefärztin der Säuglingsstation.« Katja Meyer ließ sich jede Silbe auf der Zunge zergehen. »Und wenn Sie weiter so einen Lärm machen, lasse ich Sie vom Sicherheitsdienst entfernen.«

Der Mann holte Luft, doch Katja Meyer zog gelassen einen Notfall-Piepser aus der Brusttasche ihres Kittels. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie den Mann an, bis er endlich die Schultern sinken ließ, sich umdrehte und türenknallend verschwand.

Katharina fragte in die Stille hinein: »Wer war das denn?«

»Das war Professor Doktor Markus Henthen. Wenn man dem Zentralblatt für Gynäkologie folgt, einer der ›weltweit führenden Experten für Reproduktionsmedizin‹.« Katja Meyer steckte den Piepser wieder zurück in die Brusttasche ihres Kittels.

»Und Sie teilen diese Meinung nicht?«

»Nein. Henthen ist ein übler Faschist, den man bei Gelegenheit mal ordentlich durchpeitschen sollte.«

»Ohne Safeword, nehme ich an?«, fragte Katharina.

Die Ärztin grinste böse: »Natürlich.«

»Ohne was?« Dr. Amendt hatte ihnen bis jetzt wortlos zugehört.

»Ohne Safeword«, antwortete die Ärztin sachlich. »Zeig mal deinen Hinterkopf.« Dr. Amendt ging in die Hocke. Katja Meyer taste seinen Kopf sorgsam ab. »Kleine Beule, nichts Schlimmes.«

»Hör mal, Katja, vielleicht ist es besser, wenn ich –«

»Du bist auf meiner Station immer herzlich willkommen«, unterbrach ihn Katja Meyer streng. »Schon aus ganz egoistischen Gründen. Ich kann hier jede Hand brauchen.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Katharina spürte einen kleinen Stich im Bauch. Warum auch immer.

»So, und jetzt muss ich nach meinen Kindern schauen. Ich hoffe, Henthen hat sie nicht allzu sehr aufgeregt.« Eilig ging die Ärztin davon.

Katharina und Dr. Amendt sahen ihr nach. Dann drehte sich der Arzt zu ihr um. »Dann wollen wir mal …«

Er hielt Katharina ganz selbstverständlich die Tür auf. Während sie auf den Fahrstuhl warteten, fragte sie: »Was haben Sie denn diesem Henthen angetan?«

»Nichts, was ich nicht jederzeit auch vor Gericht beeiden könnte.«

***

»Und? Was denkst du?«, fragte Dr. Neurath sofort nach der Begrüßung. Dr. Amendt öffnete den Umschlag mit den Bildern. Die beiden Ärzte traten an den Röntgenfilmbetrachter.

»Also ich sehe zwei Eindrücke. Fast im gleichen Winkel. Sturz- oder Schlagverletzung. Ohne Autopsie schwer zu sagen.«

»Außerdem hat sie eine Platzwunde am Hinterkopf«, ergänzte Dr. Neurath.

Dr. Amendt runzelte die Stirn. »Wenn Murphy zuschlägt. Ich will sie mir mal selbst anschauen. Irgendwelche Einwände?«

Dr. Neurath zuckte mit den Achseln. »Keine. Vielleicht fällt dir ja noch was ein. Ich bin ehrlich gesagt mit meiner Kunst am Ende.«

Er führte Katharina und Dr. Amendt in das Zimmer, in dem Melanie Wahrig lag. Ihre Augen waren jetzt geschlossen. Auf den ersten Blick konnte man sie für tot halten, doch das EKG zeigte immer noch einen Puls.

Dr. Amendt ging zum Bett und beugte sich über die Patientin. »Hast du die beiden blauen Flecken gesehen?«, fragte er und deutete auf den Kiefer und neben das linke Auge.

»Vielleicht Prellungen vom Sturz. Obwohl sie auf die andere Seite gefallen ist.«

»Seltsam. Frau Klein? Auf welcher Seite lag sie, als Sie sie gefunden haben?«

»Auf der rechten.«

Dr. Amendt betrachtete Melanie Wahrig weiter und schwieg. Dann hob er den Kopf. »Habt ihr eine UV-Lampe hier?«

»Ich glaube nicht.« Dr. Neurath hob ratlos die Schultern.

Der Rechtsmediziner wandte sich an Katharina. »Sie vielleicht? Haben Sie eine UV-Lampe? So eine, wie sie die Spurensicherung benutzt?«

Katharina verneinte. Sie hatte zwar ein gut ausgerüstetes Kit für alle Fälle, aber das stand im Kofferraum von Morris.

»Moment!« Dr. Neurath eilte aus dem Raum. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Geldnotenprüfgerät zurück. »Geht das? – Wir haben hier seit Neuestem Sicherheitsausweise mit UV-Kennung.«

Dr. Amendt schaltete das Gerät ein und hielt es über das Gesicht von Melanie Wahrig. »Dachte ich es mir doch. Seht ihr das?«

Die beiden Blutergüsse waren die Spitzen eines Handabdrucks, der sich klar und deutlich auf dem Gesicht abzeichnete. »Okkulte Prellungen.«

»Ich habe ihr ein paar Klapse auf die Wange gegeben«, sagte Katharina schuldbewusst.

»Nein, das waren Sie nicht. Die Hand ist gespreizt. Und größer als Ihre.« Dr. Amendt richtete sich auf. »Fremdeinwirkung. Da bin ich mir ziemlich sicher. Das erklärt auch die fast parallelen Einschläge. Jemand hat sie gepackt und gegen etwas geschlagen.«

Katharina sah, wie Andreas Amendt tief durchatmete. Schließlich fragte er den Neurologen: »Und jetzt?«

»Der Hirndruck ist einfach zu hoch. Wir können nichts tun als abzuwarten.«

Dr. Amendt sah auf den EEG-Monitor. »Kaum noch Hirntätigkeit. Vielleicht kann man den Druck noch mal reduzieren?«

»Haben wir schon versucht. Einen weiteren Eingriff überlebt sie nicht.«

»Hat sie Verwandte?«, fragte Dr. Amendt Katharina.

»In Frankfurt nur ihre Tochter. Ihre Eltern wohnen in Spanien und ihr Exmann ist verreist.«

»Wo ist die Tochter jetzt?«

»Im Kindergarten. Sie ist vier.« Verdammt, wer sollte das alles bloß Laura erklären? »Und ich werde sie bestimmt nicht hierherbringen«, fügte Katharina giftig hinzu. »Nicht in ein Krankenhaus, nicht um ihrer Mutter beim Sterben zuzusehen.« Ihre Stimme überschlug sich. Zwei Arme packten sie. Andreas Amendt drückte sie an sich.

»Ganz ruhig. Das verlangt ja auch niemand.« Er strich ihr über das Haar. Katharinas Augen füllten sich mit Tränen. Trotzig machte sie sich los und ging aus dem Raum. Dr. Neurath folgte ihr.

»Möchten Sie ein Valium?«

Katharina schüttelte den Kopf. Typisch Neurologe.

Auch Andreas Amendt kam auf den Flur. Katharina wartete auf das ärztliche »Geht’s wieder?«. Aber es kam nicht. Sie sah ihn an. »Entschuldigung«, murmelte sie.

»Kein Problem.«

Katharina atmete durch und wandte sich an Dr. Neurath: »Aber Sie müssen ihr doch irgendwie helfen können.«

»Medizinisch?« Der Neurologe blickte zu Boden. »Nein. Wir können nur warten. – Wissen Sie zufällig, was Frau Wahrig gerne liest?«

»Warum?«

»Manchmal hilft es, wenn Koma-Patienten eine Stimme hören. Ich werde ihr etwas vorlesen.«

Katharina dachte nach. Da war doch irgendetwas? Klar. »Kitschromane!« Katharina hatte das immer gewundert bei der jungen und intelligenten Frau. »Herzschmerz und wahre Liebe. Unglückliche Frauen, die von einem Prinzen auf einem weißen Pferd gerettet werden.«

»Sie haben so etwas nicht zufällig dabei?«, fragte Dr. Neurath.

Katharina schüttelte den Kopf. Doch Dr. Amendt sagte: »Jeannie liest solches Zeug dauernd. Wo ist dein Telefon?«

***

Katharina stürmte in Polanskis Büro, ohne anzuklopfen, Andreas Amendt im Schlepptau. Als sie sah, mit wem der Kriminaldirektor gerade sprach, überkam sie das dringende Bedürfnis, sofort die Flucht zu ergreifen.

»Meine Liebe!«, rief die Frau entzückt. Katharina ließ die Wangenküsschen peinlich berührt über sich ergehen.

»Frauke Müller-Burkhardt. Oberstaatsanwältin.« Die Frau streckte dem Rechtsmediziner burschikos die Hand hin.

»Das ist Doktor Andreas Amendt. Stellvertretender Chefarzt der Rechtsmedizin«, sagte Katharina. »Und das hier ist Kriminaldirektor Polanski.«

Die beiden Männer starrten sich an.

»Wir kennen uns«, sagte Dr. Amendt nach einem Moment eisigen Schweigens.

»Also, Katharina«, übernahm Polanski rasch das Gespräch. »Was wollen Sie hier?«

»Jemand hat versucht, meine Nachbarin zu töten.« Sie sprudelte die ganze Geschichte hervor. Polanski hörte ihr aufmerksam zu. Als Katharina geendet hatte, musterte er sie nachdenklich: »Und jetzt wollen Sie natürlich ermitteln?«

Katharina zögerte; dann antwortete sie kleinlaut: »Ja.«

»Das ist absolut unmöglich.«

»Warum?«, fragte sie giftiger als sie beabsichtigt hatte.

»Weil Sie vorgestern zwei Menschen erschossen haben!«, schnauzte Polanski zurück. »Und bis zur endgültigen Aufklärung der Vorgänge sind und bleiben Sie beurlaubt.«

Andreas Amendt hob beschwichtigend die Hände. »Aber –«

»Und mit Ihnen rede ich gar nicht erst«, fiel ihm Polanski ins Wort. »Ihr Chef hat schon längst ein Fax geschickt, dass Sie suspendiert sind. Wegen haltloser Verdächtigungen.«

Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Andreas Amendt den Kriminaldirektor schlagen. Doch dann machte er auf dem Absatz kehrt. Die Bürotür fiel hinter ihm knallend ins Schloss.

In das betretene Schweigen hinein klingelte Katharinas Handy. Automatisch griff sie in ihre Jackentasche und antwortete. Dr. Eric Neurath. Sie hörte noch, was er sagte. Dann rutschte ihr das Telefon aus der Hand. Die Staatsanwältin fing sie auf und führte sie zu einem Sessel.

»Melanie Wahrig ist tot«, murmelte Katharina. Verdammt, sie war doch sonst so hart im Nehmen. Polanski drückte ihr ein Glas in die Hand. Sie nahm einen Schluck. Kognak. Der Alkohol brannte wie Feuer. Aber wenigstens spürte sie ihren Körper wieder.

»Katharina?«, sagte Polanski leise. »Ich veranlasse gleich alles Notwendige. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus.«

Katharina dachte an den vorherigen Abend. Pizza. Shrek. Ein giftgrüner Teddybär.

»Jemand muss es Laura beibringen. Das ist die Tochter. Sie ist fast fünf«, erklärte sie mechanisch.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Polanski.

»Im Kindergarten.«

Polanski ging zum Telefon. Knapp gab er Anweisungen. Katharina bekam nur Bruchstücke mit: »Autopsie … sofort … keinen Aufschub … Jugendamt …«

Endlich war das Telefonat beendet. Katharina sah ihren Chef an: »Die Spurensicherung braucht sicher einen Schlüssel.«

»Katharina, erst brauche ich eine Bestätigung für das, was Sie mir erzählt haben. Aber Professor Metzel macht sich gleich an die Autopsie. Ich kümmere mich um alles.«

»Und jetzt?«, fragte Katharina.

»Jetzt fahren wir in den Kindergarten zur Tochter.«

»Sie auch?«

»Natürlich. Und Theresa Ludwig vom Jugendamt kommt auch mit.«

»Ich bin auch dabei«, verkündete Frauke Müller-Burkhardt resolut. Fast war Katharina ihr dankbar.

***

Zu viert hatten sie sich in den Mini gezwängt: Katharina, Polanski, Frauke Müller-Burkhardt und Theresa Ludwig. Katharina steuerte den Wagen durch den Frankfurter Freitagmittagsverkehr zu Lauras Kindergarten. Sie war froh über jede rote Ampel, jeden kleinen Stau – über alles, was den Moment hinauszögerte, in dem sie Laura beibringen musste, dass ihre Mutter gestorben war.

***

Elfie LaSalle empfing sie schon am Eingang der heruntergekommenen Altbauvilla. »Leise!«, flüsterte sie streng. »Mittagsschlaf.«

Polanski erklärte ihr, warum sie gekommen waren. Dann bat er die blass gewordene Kindergärtnerin, Laura zu holen. Elfie LaSalle führte sie zunächst in ein großes Spielzimmer. Dann verschwand sie.

Kurze Zeit später erschien sie mit Laura an der Hand, die sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Das Mädchen sah Katharina und stockte: »Mit Mama ist was passiert, oder?«

Polanski hockte sich vor sie hin: »Hallo Laura, ich bin Paul. Katharinas Chef.«

Sanft nahm er die kleine Hand des Mädchens in seine große Pranke und ging mit ihr zu einer Ecke des Zimmers, in der lauter große Kissen lagen. Dort setzte er sich mit ihr auf den Fußboden und begann, leise mit ihr zu sprechen.

Katharina war ihrem Chef unendlich dankbar. Doch Polanski würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Sie hatte erlebt, wie hart er Verdächtige anpackte. Mehr als einmal hatten sich von ihm Verhörte aus purer Angst in die Hosen gemacht. Es ging sogar das Gerücht, dass er in jüngeren Tagen auch das eine oder andere Mal zugeschlagen habe.

Und dann gab es diese andere Seite: Jederzeit war er bereit, seine Familie – die ihm unterstellten Beamten – zu unterstützen oder sich um die Opfer zu kümmern.

Polanski half Laura aufzustehen. Sie umklammerte seine Hand mit aller Kraft. Katharina konnte die weißen Druckstellen unter ihren Fingern sehen, als die beiden zu den Wartenden herüberkamen.

Laura ließ die Hand des Kriminaldirektors los und blieb vor Katharina stehen. Sie sah sie mit großen Augen an, ihre Haut war blass, fast grau. Katharina ging in die Knie und nahm das kleine Mädchen fest in den Arm.

Theresa Ludwig, die Jugendamtsmitarbeiterin, sprach als Erste wieder: »Tja, jetzt müssen wir uns wohl um den Verbleib des Kindes kümmern. Gibt es Angehörige in der Nähe?« Ihr Ton war kühl, geschäftsmäßig.

Elfie LaSalle antwortete: »Die Großeltern wohnen in Spanien, leider. Und ich habe zwar den Auftragsdienst des Vaters erreicht, aber die meinten, es kann ein paar Tage dauern, bis er sich meldet.«

»Dann muss die Kleine wohl in ein Heim.« Theresa Ludwig begann, in ihrer Handtasche zu kramen.

»Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Polanski. »Eine Pflegefamilie? Das Kind muss doch gut betreut werden.«

»So kurz vor dem Wochenende? Wie soll ich das denn organisieren?«

»Typisch Jugendamt«, murmelte Elfie LaSalle.

»Wie bitte?« fragte Theresa Ludwig giftig.

»Ich sagte: ›Typisch Jugendamt‹.« Elfie LaSalle baute sich vor Theresa Ludwig auf. »Nie in der Lage, rechtzeitig zu handeln, wenn es gebraucht wird. Aber ein Riesentheater um einen schwulen Vater machen.«

Polanski hob beschwichtigend die Hände: »Aber meine Damen!«

Doch Theresa Ludwig und Elfie LaSalle waren fest entschlossen, das jetzt und hier auszutragen.

»Solch eine Beurteilung übersteigt doch wohl Ihre Kompetenzen.« – »Immerhin habe ich tatsächlich Erfahrung im Umgang mit Kindern. Im Gegensatz zu Ihnen.«

Wo Elfie recht hatte, hatte sie recht, dachte Katharina. Es war wirklich nicht sehr taktvoll, vor einem Kind, das gerade seine Mutter verloren hatte, auszudiskutieren, wohin man es abschob. Sie stand auf: »Können wir jetzt wieder an Laura denken?«

»Halten Sie sich da raus! Das geht Sie nichts an«, fauchte Theresa Ludwig.

»Laura geht mich sehr wohl etwas an! Und ich will, dass sie gut untergebracht wird!« Katharina sprach leise. Doch ihr Ton ließ die beiden Frauen erschrocken einen Schritt zurück machen. Auch Polanski spannte seine Muskeln an.

Katharina spürte ein Zupfen an ihrer Jacke. Laura sah zu ihr hoch: »Kann ich nicht bei dir bleiben?«

Mit einem Schlag war Katharinas Zorn verraucht. Sie ging wieder in die Hocke, um mit dem Kind von Angesicht zu Angesicht zu reden: »Aber das geht doch nicht, Laura. Ich muss doch –«

»Warum eigentlich nicht?«, mischte sich Polanski ein. »Wäre das möglich?«, fragte er Theresa Ludwig. »Frau Klein ist eine meiner fähigsten Beamtinnen. Sie ist momentan … beurlaubt und hätte Zeit, sich um Laura zu kümmern. Außerdem ist sie eine Nachbarin. So wäre Laura in ihrer gewohnten Umgebung.«

Was machte Polanski da? Er konnte doch nicht einfach …

Theresa Ludwig musterte Katharina streng: »Das ist zwar ungewöhnlich, aber möglich ist das schon. Frau Klein? Sind Sie verheiratet?«

»Nein, warum?«

»Ich muss doch wissen, ob Sie in geordneten Verhältnissen leben.«

Katharina wollte am liebsten ihre ganz und gar ungeordneten Verhältnisse schildern, doch Polanski war schneller: »Frau Klein ist eine gute und verantwortungsbewusste Polizeibeamtin. Sie können sicher sein, dass ihre Verhältnisse geordnet sind.«

»Ja, bei ihr ist es ganz toll aufgeräumt!« Laura hatte sich fest an Katharinas Hand geklammert.

»Na dann …« Theresa Ludwig schien zufrieden.

»Ich muss energisch protestieren«, quiekte Elfie LaSalle. »Wissen Sie, was sie Laura heute zum Frühstück mitgegeben hat? Eine Tafel Schokolade. Und Laura hat erzählt, dass sie bis spät in die Nacht Filme geschaut haben. Und es gab Pizza!« Sie spuckte das Wort aus wie ein besonders ekliges Stück Knorpel.

Alle drehten sich zu Katharina um.

»Ich … ich hatte nicht eingekauft«, sagte Katharina kleinlaut. »Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass …« Theresa Ludwigs Blick war deutlich abgekühlt.

Polanski kam Katharina zu Hilfe: »Frau Klein hat sich gestern Abend spontan bereit erklärt, Laura für eine Nacht zu beherbergen. Da kann so etwas schon mal vorkommen.«

»Und der Film?«, fragte Elfie LaSalle streitlustig. »Der war nicht für Lauras Altersstufe freigegeben. Das weiß ich genau.«

Polanski wandte sich an Katharina: »Was für ein Film war das denn?«

»Shrek«, rief Laura dazwischen.

Polanski sagte freundlich: »Ach, den liebt meine Enkelin über alles. Und die ist auch vier.«

»Ich bin fast fünf«, korrigierte Laura ihn streng.

»Wie meine Enkelin.«

Polanski hatte eine Enkelin? Soweit Katharina wusste, hatte er nicht mal Kinder.

»Das ist ja völlig verantwortungslos. Und dann das Auto. Das hat ja gar keinen Kindersitz«, ereiferte Elfie sich weiter.

Das war Katharinas Chance: »Herr Polanski, so gern ich aushelfen würde, aber Frau LaSalle hat recht: Ich bin überhaupt nicht vorbereitet auf so eine Situation.«

Laura begann bitterlich zu weinen: »Bitte, ich will bei dir bleiben.«

Katharina nahm das Mädchen in den Arm. Sie wollte etwas sagen. Polanski kam ihr zuvor: »Katharina? Ein Wort unter vier Augen bitte!«

Doch Laura wollte nicht loslassen. Wo blieb nur die Ohnmacht, wenn man sie brauchte?

»Komm, Laura, zeig mir mal euer Spielzimmer.« Das war Frauke Müller-Burkhardt, die die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. Laura sah Katharina fragend an.

»Ja, zeig ihr das Spielzimmer. Ich bin gleich zurück.«

»Bitte wiederkommen«, flehte Laura mutlos.

»Natürlich komme ich wieder. Versprochen!«

Polanski fasste Katharina am Arm und zog sie hinaus. Er schloss sorgfältig die Tür.

»Katharina, wie können Sie so herzlos sein?«

Sie blickte beschämt zu Boden: »Ich kann mit Kindern nichts anfangen.«

»Haben Sie unser Gespräch von gestern schon wieder vergessen? – Genau das meinte ich. Sie weigern sich, Verantwortung zu übernehmen.«

Katharina schwieg.

Polanski fuhr fort: »Außerdem ist das Ihre Chance, Punkte zu sammeln. Und es ist ja nur für ein paar Tage, bis der Vater an Land kommt. – Und der Fall, wenn er denn einer ist …«

»Da bin ich ganz sicher.«

»Katharina! Sie kennen doch solche Fälle. Vermutlich ein simples Eifersuchtsdrama. Das kann wirklich jeder aufklären. Außerdem: Der Psychologe und die Anhörungskommission werden begeistert sein.«

Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig: Katharina zuckte mit den Achseln: »Also gut.«

***

Polanski ging zufrieden vor ihr her zurück ins Spielzimmer. Laura saß in einer Ecke und erklärte der Staatsanwältin offenbar ein Memory-Spiel. Theresa Ludwig und Elfie LaSalle schwiegen sich an.

»Also«, erhob Polanski die Stimme. »Laura bleibt zunächst einmal bei Frau Klein.«

Das Mädchen sprang auf, lief zu Katharina und klammerte sich an ihrer Hand fest.

»Und die Pizza?«, fragte Elfie LaSalle streng.

Polanski sprach mit seiner sanftesten Stimme: »Frau Klein war nicht auf Besuch eingerichtet. Ist es Ihnen noch nie passiert, dass Sie unverhofft Gäste bekommen haben?«

»Ich habe stets ausreichend gesunde, vollwertige Nahrung im Haus!«

Polanski wollte etwas sagen. Doch Katharina war schneller: »Ich fahre gleich einkaufen. Nur gesunde Dinge.«

Ihr Chef nickte zufrieden. Elfie LaSalles Gesicht nahm wieder eine normale Farbe an. »Und keine Schokolade«, sagte sie streng.

Katharina seufzte. »Versprochen! – Sie haben nicht zufällig einen Kindersitz, den ich leihen könnte?«, fragte sie die Kindergärtnerin versöhnlich.

Was kam jetzt? Der Hinweis, dass Fahrradfahren gesünder wäre? Doch Elfie LaSalle verschwand nur, um kurze Zeit später mit einem schwarzen Kindersitz zurückzukommen: »Der müsste gehen. In meinen Fiat Bambino hat er auch gepasst.«

***

Das würde die gesündeste Woche des Jahres werden. In Katharinas Einkaufswagen stapelten sich die unterschiedlichsten Obst- und Gemüsesorten, frische Kräuter, Bio-Landmilch – Laura hatte darauf bestanden – und noch weitere Dinge, die Katharina als gesund und kindgerecht einstufte. Laura ließ sich nach einer längeren Debatte doch davon überzeugen, dass Nudeln eine vollwertige Mahlzeit darstellten. Vollkorn-Nudeln natürlich. Dafür musste es Fertigsauce aus dem Glas tun. Katharina brauchte dringend einen Schokoriegel.

»Ich denke, wir dürfen keine Schokolade?«, fragte Laura neugierig. »Das hat doch Tante Elfie gesagt.«

Also gut. Keine Schokolade. Nicht schon wieder eine Debatte. Laura hatte bereits bei jedem Obststück gefragt, ob das bio sei. Konnte sie nicht einfach Quarkpackungen durch die Gegend werfen wie jedes normale Kleinkind?

An der Brottheke begann Laura eine ernsthafte Diskussion über das Nussbrot. Die freundliche Verkäuferin schien ein wenig überfragt, ob denn die Nüsse aus Afrika seien.

»Das sind nämlich die besten!«, verkündete Laura apodiktisch.

»Sie haben aber ein kluges Kind. Und ganz die Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Die Verkäuferin musste blind sein. Einerlei. Jetzt hatten sie endlich alles, wenn Katharina die Berge in ihrem Einkaufswagen richtig einschätzte. Auf zur Kasse. Wenn sie denn jemals durch dieses Labyrinth hindurchfanden.

Mit Schwung bogen die beiden um eine Ecke – und stießen beinahe mit zwei Männern zusammen.

»Katharina! Was für ein Zufall!«, rief der Kleinere.

Katharina kannte die beiden nur zu gut. Hans und Lutz hatten mehrere Jahre abgesessen und arbeiteten jetzt als Sicherheitsbeauftragte für Antonio Kurtz. Hans war klein, drahtig und immer in Bewegung. Lutz war groß, stämmig, kahl rasiert und sehr schweigsam. Katharina war erstaunt, die beiden zu sehen. Normalerweise wichen sie Antonio Kurtz nicht von der Seite.

»Was macht ihr hier?«

»Spezialauftrag!«, wollte Hans lossprudeln. Doch Lutz legte ihm die mächtige Hand auf die Schulter: »Kurtz braucht Caluha.«

»Richtig«, fuhr Hans rasch fort. »Kurtz will ein neues Rezept ausprobieren.«

»Mit Caluha?« Katharina biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Hans war ein schlechter Lügner.

»Ja, richtig. Rinderbraten mit Caluha. Ich meine Fisch. Soll Cai Piranha heißen. Weltbewegend.«

»Leute, ich bin nicht im Dienst. Ihr habt doch keine Dummheiten vor?«

»Nachforschungen. Harmlos«, erklärte Lutz. Katharina sah, dass seine Fingerspitzen weiß wurden, als er die Hand auf die Schulter seines Kollegen presste.

»Was macht die Doktorarbeit, Lutz?«, fragte Katharina, um das Thema zu wechseln. Der große Mann hatte seinen Gefängnisaufenthalt für ein Fernstudium in Philosophie genutzt. Jetzt schrieb er an seiner Dissertation, wenn es die Zeit erlaubte.

»Knifflig. Heidegger.« Wenn Lutz so schrieb, wie er sprach, würde das die kürzeste Doktorarbeit aller Zeiten werden.

Laura hatte die beiden Männer fasziniert betrachtet. »Seid ihr auch Polizisten?«

Hans ging in die Knie: »Nein, aber so was Ähnliches. Wir sind Leibwächter. Wir passen auf, dass anderen Menschen nichts passiert. – Und wer bist du?«

»Ich bin Laura.«

»Hallo Laura. Ich bin Hans. Und das ist Lutz.«

Lutz reichte ihr seine große Hand, die Laura artig schüttelte.

»Laura ist die Tochter meiner Nachbarin«, erklärte Katharina.

Hans erhob sich. »Tja, wir müssen weiter. Caluha besorgen.«

Lutz gab Katharina die Hand: »Pass auf dich auf, Katharina. Es passiert so viel in letzter Zeit.«

***

»Mama kommt nie mehr wieder, oder?«

Katharina und Laura saßen am Küchentisch. Katharina hatte tatsächlich gekocht, und Laura hatte die Nudeln für lecker befunden. Jetzt saßen sie über zwei dampfenden Tassen. Grübelnd hatte Laura in ihrem Kakao gerührt. Und dann hatte sie gefragt. Katharina wusste nicht, was sie antworten sollte. Wie sollte man einem vierjährigen Kind erklären, dass seine Mutter ermordet worden war?

»Ich fürchte, nicht«, sagte Katharina traurig.

Dicke Tränen kullerten langsam über Lauras Wangen. »Ist Mama denn jetzt eine Giraffe?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«

»Aber du weißt doch alles. Du bist doch Polizist.«

»Ach Laura, niemand weiß, was mit uns nach unserem Tod geschieht.« Katharina biss sich auf die Zunge. Durfte sie dieses Wort benutzen?

Laura schniefte und schwieg. Katharina ging um den Tisch und nahm Laura in den Arm. Wenn sie das Kind doch nur irgendwie trösten könnte.

»Weißt du …«, hörte sie sich sagen. »Meine Familie ist gestorben, als ich sechzehn war. Meine Eltern und meine Schwester. Aber manchmal besuchen sie mich. In meinen Träumen.«

»Kommt Mama mich auch besuchen, wenn ich träume?«

»Bestimmt.«

Laura lehnte sich wieder an sie und schwieg. Katharina wischte ihr mit einem Taschentuch die Tränen ab.

***

Laura befand bald, es sei Schlafenszeit für sie. Wie eine kleine Maschine zog sie sich ihren Schlafanzug an, putzte sich mechanisch und gründlich die Zähne. Katharina bot an, ihr noch etwas vorzulesen. Doch Laura wollte nicht. Lieber sollte Katharina bei ihr am Bett sitzen, bis sie eingeschlafen war. So saß Katharina auf der Bettkante und sah auf das kleine Mädchen herab, das seinen Teddy fest im Arm hielt. Bald waren Lauras Atemzüge tief und regelmäßig. Katharina stand leise auf und ging hinaus. Die Tür lehnte sie nur an; so würde sie hören, wenn etwas mit Laura nicht in Ordnung war.

Kinder waren wirklich nicht ihre Stärke. Schon gar nicht, wenn sie Angehörige von Mordopfern waren.

Angehörige von Mordopfern … Thomas hatte es immer übernommen, mit ihnen zu sprechen. Katharina spürte heiße Scham in sich aufsteigen. Sie hatte fast den ganzen Tag nicht an Thomas gedacht. An ihren Partner, der jetzt in einer Schublade in der Leichenhalle lag. Den sie nicht hatte beschützen können. Der …

Katharina schaffte es gerade noch ins Bad. Sie erbrach sich über der Kloschüssel. Kotzte sich die Seele aus dem Leib. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen brannten. Endlich rannen die ersten Tränen über ihre Wangen. Heftig schluchzend rollte sie sich auf dem Badezimmerteppich zusammen. Sie biss auf ihre Faust, damit Laura nichts hörte.

***

Sie wusste nicht, wie lange sie so gelegen hatte. Endlich riss sie sich zusammen und stand auf. Sie blickte in den Spiegel. Ihr Gesicht war aufgequollen, die Augen rot. Ihr Lidstrich war über das ganze Gesicht verschmiert.

Als sich sie gerade gründlich die Zähne putzte, um den Geschmack von Erbrochenem aus dem Mund zu bekommen, ging die Türklingel. Der Schreck fuhr Katharina in den Magen. Wer kam denn jetzt noch?

***

»Meine Liebe, Sie sehen ja furchtbar aus!«

Vor der Tür stand Frauke Müller-Burkhardt, in der Hand eine Flasche Wein und ein längliches, in Geschenkpapier eingewickeltes Paket.

Katharina war zu matt, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Also ließ sie die Oberstaatsanwältin ein.

»Ich dachte, ich leiste Ihnen beim Babysitten Gesellschaft. – Geht es Ihnen nicht gut?«

Katharina schüttelte den Kopf und führte ihren Besuch stumm ins Wohnzimmer. Sie bot Frauke Müller-Burkhardt einen Platz auf dem Sofa an. Die Oberstaatsanwältin setzte sich und stellte den Wein auf den Tisch. Katharina ließ sich ebenfalls auf das Sofa fallen. Sie war froh, nicht mehr allein zu sein.

Frauke Müller-Burkhardt rückte näher. »Sie haben geweint, nicht wahr?«

Eigentlich wollte Katharina fragen, was die Staatsanwältin das anging. Doch ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

»Es ist in Ordnung, meine Liebe.« Die Oberstaatsanwältin legte die Arme um Katharina und zog sie an sich. Katharina ließ sich gegen die Schulter sinken und schloss die Augen. Sie roch einen Hauch Chanel No 5, fühlte weiche, kühle Seide an ihrer Wange.

»Das ist schon tragisch. Erst Ihr Kollege, dann Ihre Nachbarin. Weiß man eigentlich schon, wer –?«

Mit einem Ruck machte Katharina sich los. Niemand war gekommen, um sich nach dem Schlüssel für Melanie Wahrigs Wohnung zu erkundigen. Gab es denn keine Untersuchung? Die Spuren mussten doch gesichert werden. Bei Mordfällen war Zeit der wichtigste Faktor.

Sie wollte aufstehen, doch vor ihren Augen flimmerte es. Frauke Müller-Burkhardt hielt sie zurück. »Ganz ruhig, Katharina.«

»Aber es war noch niemand hier, um Melanie Wahrigs Wohnung zu untersuchen.«

»Polanski kümmert sich darum. Das hat er mir fest versprochen. Und Sie entspannen sich jetzt!« Die Oberstaatsanwältin stand auf. »Haben Sie irgendwo Gläser und einen Korkenzieher? Sie werden sehen, ein Glas Wein wird uns guttun.«

»In der Küche«, murmelte Katharina. Sie fühlte sich zu schwach, um aufzustehen. Absätze klackerten auf den polierten Holzbohlen. Seit wann trug die Müller-Burkhardt Absätze?

Kurze Zeit später kam sie zurück, in der Hand zwei Gläser und einen Korkenzieher. Während die Staatsanwältin die Weinflasche öffnete, betrachtete Katharina sie genauer. Frauke Müller-Burkhardt trug ihr sonst streng zu einem Dutt frisiertes Haar offen. Es fiel in dunkelblonden Korkenzieherlocken über eine schwarze Seidenbluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren und den Blick auf die obere Kante eines mit Spitze besetzten BHs freigaben. Der schwarze Minilederrock gab den Blick auf mindestens zwei Drittel der seidenbestrumpften Beine frei. Die Füße steckten in schwarzen Pumps mit hohen Absätzen.

Vielleicht wollte die Oberstaatsanwältin später noch ausgehen? Oder …? Katharina verdrängte ihren albernen Verdacht gleich wieder. Nur, weil eine Frau unverheiratet war, musste sie doch nicht gleich lesbisch sein.

»Schwesternschaft!« Frauke Müller-Burkhardt reichte Katharina ein Glas und schlang ihren Arm um den von Katharina. »Ich heiße übrigens Frauke.«

»Was?«, fragte Katharina verwirrt. »Ach ja. Katharina.«

Eigentlich duzte sich Katharina nur ungern, vor allem mit Kollegen. Aber im Augenblick konnte sie wirklich jeden Verbündeten brauchen. Sie tranken. Ihre neue Schwester beugte sich vor und küsste Katharina auf den Mund. Viel zu lang. Viel zu zärtlich. Katharina war zu verdattert, um sich zu wehren.

Gottseidank klingelte es in diesem Augenblick erneut.

»Noch Besuch? So spät?« Katharina sprang auf, eilte zur Tür und drückte den Türöffner. Ihre frischgebacken-selbsternannte Schwester konnte ihr kaum folgen.

Kurze Zeit später klopfte es sachte. Vor der Tür stand Andreas Amendt, in den Händen eine Akte und eine Flasche Wein: »Ich … ich wollte mich entschuldigen. – Außerdem …« Er hob schwach den Arm mit der Akte.

Katharina hätte nicht gedacht, dass sie so froh über den Anblick eines Rechtsmediziners sein konnte. »Kommen Sie doch rein«, sagte sie fröhlicher, als es vermutlich angemessen war.

Als Katharina ihm die Jacke abnahm, öffnete sich die Tür zum Gästezimmer. Laura kam auf den Flur getapst; sie rieb sich im hellen Licht die Augen: »Ich kann nicht schlafen.«

Zum wiederholten Mal an diesem Tag wünschte sich Katharina, es hätte auf der Polizeischule einen Kurs »Kinder für Anfänger« gegeben.

Andreas Amendt ging in die Hocke: »Guten Abend. Du bist bestimmt Laura!«

»Und wer bist du?«

»Ich heiße Andreas und bin Arzt. Weißt du, was das ist?«

»Klar. Du machst Menschen gesund.«

»Du bist aber schlau, Laura.«

»Ich bin ja auch schon fast fünf! Was bist du denn für ein Arzt?«

»Ich werde immer gerufen, wenn kleine Mädchen wie du nicht schlafen können.«

»Echt?«

»Echt! – Und du kannst also nicht schlafen?«

Laura nickte schüchtern.

»Dann wollen wir doch mal sehen, was ich für dich tun kann.« Er stand auf und reichte Laura die Hand. Über die Schulter sagte er: »Sie entschuldigen mich? Ich muss mich um eine wichtige Patientin kümmern.«

Mit diesen Worten führte er Laura ins Gästezimmer. Seine sanfte Stimme drang durch die angelehnte Tür. Laura kicherte. Katharina war dankbar. Sie begleitete Frauke zurück ins Wohnzimmer. Sie setzten sich wieder, jede auf eine Seite des Sofas.

***

So saßen sie vielleicht eine halbe Stunde, bevor Andreas Amendt leise ins Wohnzimmer kam und die Tür anlehnte.

»Ein liebes Kind«, sagte er traurig.

»Schläft sie jetzt?«, fragte Katharina.

»Ja. Hoffentlich kann sie durchschlafen. – Hier, der Autopsiebericht von Lauras Mutter. Ich dachte, Sie wollten ihn vielleicht sehen.«

Katharina öffnete den Aktendeckel, den ihr Andreas Amendt gereicht hatte. Die Staatsanwältin eilte rasch in die Küche, um ein drittes Glas zu holen. Als sie zurückkam, war Katharina schon bei den Schlussfolgerungen.

»Der Tod ist vermutlich durch einen Unfall eingetreten«, wiederholte sie zweifelnd. »Aber wenigstens empfiehlt er eine polizeiliche Untersuchung. – Merkwürdig. Die Prellungen, die wir gefunden haben und die zwei Eindrücke werden gar nicht erwähnt.«

»Genau deswegen bin ich hier. Die Röntgenbilder und MRTs sind nämlich weg.«

»Weg?«

»Ja. Ich habe sie Professor Metzel ins Fach gelegt. Aber er behauptet, sie nicht bekommen zu haben. Und bei der Autopsie war nichts festzustellen. Eric hat bei seiner OP die Knochenränder glätten müssen. Leider.«

»Und die Prellungen?«

»Ich hatte auch einen kurzen Brief mit meinem Befund zu den Bildern gelegt. Anscheinend ist der auch verschwunden. – Hat die kriminalpolizeiliche Untersuchung irgendetwas ergeben?«

»Die Untersuchung?«, fragte Katharina erstaunt. »Bisher waren die noch gar nicht da.«

»Das ist aber seltsam. Die Tür von Frau Wahrigs Wohnung ist polizeilich versiegelt. – Oder waren Sie das?«

Katharina schüttelte den Kopf. Wie waren denn die Kollegen in die Wohnung gekommen? »Das ist wirklich merkwürdig. Ich habe nämlich den Wohnungsschlüssel. – Ich rufe Polanski an.«

Katharina holte ihr Telefon. Doch im Büro meldete sich niemand und auf dem Handy erreichte sie nur die Mailbox. Katharina bat um Rückruf. Aber sie kannte Polanski. Die wenigen Momente, die er seinem Privatleben gönnte, waren heilig. So rasch würde er sich nicht melden. Sie stand auf: »Ich gehe mich selbst in der Wohnung umschauen.«

Frauke hielt sie am Arm zurück. »Katharina, das ist keine gute Idee. Du bist suspendiert. Ohne offiziellen Auftrag die Siegel zu öffnen, ist eine Straftat.«

»Aber …« Katharina setzte sich halbherzig wieder.

»Lass mich das machen. Ich spreche morgen mit Polanski. Und die chronisch überbelastete Staatsanwaltschaft wird einfach sehr lange brauchen, bis die Akte bearbeitet und die Leiche freigegeben ist.« Frauke zwinkerte Katharina zu.

»Und jetzt?«

Katharina sah zu Andreas Amendt, der sich nachdenklich seine Bartstoppeln kratzte. »Die Schädelaufnahmen müssten in der Radiologie noch gespeichert sein. Aber da komme ich erst am Montag ran, vorher ist da niemand im Archiv.«

Sie schwiegen. Schließlich fragte Katharina erneut: »Und jetzt?«

»Jetzt …«, sprudelte die Staatsanwältin hervor. »Jetzt spielen wir eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht.«

Sie zeigte auf das Paket, das sie mitgebracht hatte und das immer noch eingepackt auf dem Wohnzimmertisch lag: »Ich dachte, Katharina hat vielleicht nichts zum Spielen im Haus.« Sie begann, das Papier von dem Paket zu entfernen.

»Ich weiß nicht«, sagte Katharina zweifelnd.

»Ach komm – eine Partie. Das bringt euch auf andere Gedanken. Den Fall werden wir heute Abend sowieso nicht lösen.«

***

Sechs Partien und zwei Flaschen Wein später stand es ausgeglichen. Katharina war an der Reihe. Mit etwas Glück … Tatsächlich konnte sie ihren letzten roten Stein ins Haus befördern. Sie hatte gewonnen. Entspannt lehnte sie sich zurück. Polanski wäre stolz auf sie: zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen Alkohol – und jetzt auch noch in geselliger Runde mit Kollegen!

Frauke wollte aufstehen. »Ich glaube, ich muss dann mal …« Ihre Beine gaben nach. Sie hatte wohl etwas viel Wein getrunken.

»Also so kann ich euch wirklich nicht nach Hause fahren lassen«, sagte Katharina. »Warum übernachtet ihr nicht einfach hier?«

Sie war selbst überrascht von ihrem spontanen Anfall von Geselligkeit. Aber sie wollte nicht allein sein.

Andreas Amendt erhob sich: »Ich kann wirklich …«

»Ach bitte. Dann können wir morgen gleich mit Polanski reden. Und Laura ist sicher froh.«

»Ich finde, das ist eine prima Idee«, verkündete Frauke. »Und wo sollen wir …?«

»Also das Sofa hier ist ein Schlafsofa. Man kann es ausklappen.«

»Au fein, und wir Mädchen teilen uns dein Bett. Dann feiern wir noch eine kleine Pyjamaparty.«

Das hatte Katharina gerade noch gefehlt. Aber es war wohl die einzige Möglichkeit. Dr. Amendt konnte sie ja schlecht zu sich ins Bett einladen.

***

Es dauerte eine Weile, bis Katharina ihre Gäste mit T-Shirts, Zahnbürsten und sonstigem Zubehör für die Nacht versorgt hatte.

Andreas Amendt lag auf dem ausgeklappten Schlafsofa unter eine Wolldecke. Frauke war bereits im Schlafzimmer verschwunden.

Katharina wollte noch einmal nach Laura sehen. Je länger sie brauchte, desto eher war Frauke bereits eingeschlafen.

Leise öffnete Katharina die Tür zum Gästezimmer. Sie ging im Dunkeln zu Lauras Bett und strich ihr sanft über die Haare. Das Kind sah so zerbrechlich aus, so klein. Sie bemerkte, dass Lauras Augen offen waren. »Hab ich dich geweckt?«

»Nein. Ich bin wieder aufgewacht. Und jetzt kann ich nicht mehr einschlafen.«

»Aber warum sagst du denn nichts?«

Laura setzte sich auf und fragte leise: »Du? Deine Familie – kommt die dich jede Nacht besuchen?«

»Nein, nur manchmal.« Katharina hielt inne. »Du wartest darauf, dass deine Mama dich besuchen kommt, wenn du träumst, oder? Dann musst du aber schlafen.«

»Ich weiß. Ich will ja auch.« Laura ließ den Kopf hängen. Katharina nahm sie in den Arm.

»Du, Katharina? Das mit meiner Mama – waren das böse Menschen?«

Katharina seufzte.

Laura verstand sie richtig. »Fängst du die und sperrst sie ein für immer? Versprichst du mir das?«

***

Jazz-Trilogie

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