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Love’s Haunts Freitag, 30. November 2007

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»Wissen Sie, was der texanische Sheriff über die Leiche eines Schwarzen mit zwölf Messerstichen im Rücken sagte? – So einen grausigen Selbstmord hätte er noch nie gesehen.«

Die Reaktionen der Studenten auf Amendts Witz waren durchwachsen. Die meisten schwiegen, einige kicherten unsicher, zwei junge Frauen plusterten sich empört auf.

Andreas Amendt ließ sie nicht zu Wort kommen: »Ersetzen Sie ›texanischer Sheriff‹ durch ›deutscher Arzt‹ und den Schwarzen durch einen beliebigen Verstorbenen – dann haben Sie das typische Bild einer hiesigen Leichenschau. Darüber wollen wir heute reden. Über Bequemlichkeit, Schlamperei, Vorurteil und Unkenntnis. Also, direkt in medias res.«

Er drückte eine Taste auf der Fernbedienung in seiner Hand. Ein Projektor warf das Bild eines älteren Mannes an die Wand: »Rolf S. lag eines Morgens tot in seinem Bett im Altersheim; seine Herzprobleme waren dem herbeigerufenen Arzt bekannt. Also schrieb er Herzinfarkt auf den Totenschein, ohne sich die Leiche gründlich anzuschauen. Erst der Bestattungsunternehmer bemerkte das Blut im Bett: Rolf S. war durch einen Stich ins Herz verstorben. – Aus diesem Fall lernen Sie zwei Dinge. Erstens: Auch beim Rommé sollten Sie nicht betrügen. Zweitens?«

Er deutete ins Publikum. Der dicke Student, der in der letzten Vorlesung umgekippt war, antwortete stotternd: »Dass die Leichenschau immer gründlich sein muss? Von allen Seiten? Bei unbekleideter Leiche?«

»Sehr gut. Und unser nächster Fall: Dieser Mann …«, er zeigte ein neues Dia, »… war obdachlos. Er lebte in einem Abbruchhaus. Dort haben ihn Freunde tot aufgefunden. Die äußeren Anzeichen wiesen auf einen Schlaganfall hin. Und das wollte der Arzt auf den Totenschein schreiben, bis er Verletzungen an den Fingerknöcheln des Toten bemerkte. Tatsächlich war der Mann ein paar Tage zuvor in eine Schlägerei geraten. Todesursache, meine Herrschaften?«

Niemand meldete sich. Katharina, die bis dahin still in der ersten Reihe gesessen hatte, erbarmte sich schließlich. »Schädel-Hirn-Trauma?«

»Warum?«, fragte Amendt streng zurück.

»Schädelverletzungen sind nicht immer sofort tödlich. Äußere Verletzungen wie etwa Prellungen können durch die Haare verdeckt werden. Und oft haben die Verletzten zunächst nur Kopfschmerzen und werden selbst von erfahrenen Ärzten nach Hause geschickt.«

»Sehr gut.« Er wandte sich an die Studenten. »An dieser Stelle möchte ich Ihnen jemanden vorstellen, der diese Vorlesung heute Morgen mit mir zusammen halten wird: Kriminalhauptkommissarin Katharina Klein vom KK 11 der Frankfurter Kriminalpolizei.«

Katharina stand auf und stellte sich an die Seite von Andreas Amendt. Die Studenten schauten einander überrascht an. Einer flüsterte leise: »Die Killer Queen.«

»Wer weiß, was ein ›masurisches Handtuch‹ ist?«, fragte Katharina, ihren Spitznamen überhörend. Niemand meldete sich.

»Ein ›masurisches Handtuch‹ ist einfach ein nasses Handtuch. Eine hinterhältige Mordwaffe. Kann sich jemand denken, warum?«

Eine Studentin meldete sich schüchtern: »Wenn jemand mit einem nassen Handtuch erwürgt wird, entstehen keine Würgemale? – Das habe ich mal in einem Krimi gelesen.«

Katharina schmunzelte: »Auch wenn in Krimis meistens hanebüchener Unsinn steht: In diesem Fall haben Sie recht. In einem meiner ersten Fälle hier in Frankfurt war ein ›masurisches Handtuch‹ die Mordwaffe. Auch hier hatte der Arzt einen Herzanfall attestiert und die Leiche freigegeben. Zum Glück war sie für eine Feuerbestattung vorgesehen.«

Amendt fragte die Studenten: »Warum ›zum Glück‹?«

Keine Antwort.

»Okay! Das Testat der nächsten Woche ist ›Rechtsgrundlagen der Leichenschau‹. Die Unterlagen finden Sie auf unserer Homepage.«

Die Studenten murmelten protestierend.

»Es handelt sich um zehn Seiten, meine Herrschaften. Das sollte auch für Sie zu bewältigen sein. Also: Bei einer Feuerbestattung ist eine zweite Leichenschau durch einen Amtsarzt zwingend vorgeschrieben!«

»Und diesem Arzt …«, nahm Katharina den Ball wieder auf, »… fiel etwas auf, das sofort auf Erdrosseln hindeutete.«

Sie machte die Pause eigentlich nur, um Luft zu holen. Doch ein Student wollte offenbar seinen Kommilitonen die Amendt’sche Inquisition ersparen: »Geplatzte Äderchen in den Augen?«

»Ganz genau. Er untersuchte die Leiche also genauer und stellte einen eingedrückten Kehlkopf fest. Zudem fand er Hautspuren unter den Fingernägeln des Toten. Eine DNA-Analyse ergab, dass die Spuren von einem nahen Verwandten stammten; tatsächlich war es sein Bruder und Haupterbe.«

Andreas Amendt ergänzte: »Wenn Ihnen also eine Leiche auch nur annähernd suspekt vorkommen sollte: Achten Sie darauf, möglichst keine Spuren zu zerstören. Sichern Sie Kleidung und Umgebung. Und rufen Sie im Zweifelsfall lieber einmal mehr die Kriminalpolizei.«

Ein Mann im Publikum, älter als die anderen Studenten, meldete sich: »Wie sind Sie darauf gekommen, die DNA-Spuren mit dem Opfer zu vergleichen?«

»Das ist eigentlich das normale Verfahren«, antwortete Katharina. »Man vergleicht DNA-Spuren zunächst einmal mit dem Opfer, um sicherzustellen, dass sie wirklich von einer anderen Person stammen. Das Ergebnis in diesem Fall war auch ein wenig Glück.«

»Aber mit was vergleicht man sie sonst?«

»Natürlich mit der DNA von möglichen Verdächtigen oder eventuell bereits gespeicherten Spuren.«

»Und wenn man keine Verdächtigen hat?«

»Nun, meistens ergibt sich irgendwann eine Vergleichsmöglichkeit.«

»Aber man ist doch heute so weit, dass man mittels DNA das Aussehen eines Menschen bestimmen kann, richtig?«

Katharina wollte antworten, aber Andreas Amendt war schneller: »Das ist in der Tat möglich. Allerdings sind solche Analysen aufwendig und teuer. Und nur in Grenzen zuverlässig. Größe, Körperbau und anderes sind zwar genetisch angelegt, hängen aber genauso von der Umwelt ab. Ernährung, Sport.«

»Zudem«, ergänzte Katharina, »ist eine solche Analyse illegal. Der Gesetzgeber legt strengen Wert darauf, dass Analysen für forensische Zwecke nur sogenannte nicht codierte DNA nutzen. DNA also, die keine Erbgutinformationen trägt.«

»Aber wäre es nicht trotzdem wünschenswert, das Aussehen wenigstens ungefähr bestimmen zu können?«, fragte der Mann weiter.

Katharina betrachtete ihn: olivfarbener Teint, die kurzen, schwarzen Haare an den Schläfen bereits ergraut, dunkle Augen. »Woher kommen Sie ursprünglich?«

»Was hat das denn –?«

»Bitte antworten Sie. Woher kommt Ihre Familie?«

»Meine Mutter stammt aus dem Iran, mein Vater ist Deutscher.«

»Sind Sie in den letzten Jahren mal in die USA gereist?«

»Ja. Zum Urlaub.«

»Und bei der Einreise? Hat es da Probleme gegeben?«

»Ja, in der Tat. – Worauf wollen Sie hinaus?«

»Fanden Sie es richtig, dass einzig Ihr Aussehen Sie zu einem Verdächtigen macht?«

»Nein, natürlich nicht, aber –«

»Und warum sollte es dann vernünftig sein, aufgrund einer Analyse, die auf einen mittelgroßen, blonden Mann hinweist, alle mittelgroßen, blonden Männer unter Generalverdacht zu stellen?«

»Aber in einem Mordfall –«

»Wie Doktor Amendt schon sagte: Diese Profile sind sehr allgemein und können der Realität überhaupt nicht entsprechen. Auch wenn es natürlich sehr verführerisch klingt, alle Eigenschaften eines Täters in simple Zahlen übersetzt zu bekommen –«

Moment! Was hatte sie da gerade gesagt? Verflixt, warum war ihr das nicht schon längst aufgefallen?

»Ich bin gleich wieder da!« Katharina griff nach ihrer Handtasche und rannte los.

***

Torsten Kleinau fuhr erschrocken herum, als Katharina ins DNA-Labor gestürmt kam. Dann erkannte er sie: »Gut, dass Sie kommen. Ich bin durch mit –«

Katharina riss die Ausdrucke der seltsamen Mails an Melanie Wahrig aus ihrer Handtasche: »Sind das DNA-Analysen?«

Torsten Kleinau nahm die Papiere zögernd und blätterte sie durch. »Ja. Sogar ziemlich aufwendig. – Moment.« Er zog ein paar Folien aus einem Ordner und legte sie über die Ausdrucke: »Sehen Sie?«

Die Folien waren mit einem Tabellenraster bedruckt. Die scheinbar sinnlos platzierten Zahlen und Zeichen passten genau in die Felder der Tabellen.

»Was soll das denn?«, fragte Katharina.

»Verschlüsselungsmaßnahme. Steganografie für Arme. Aber jeder, der damit arbeitet, kann die Analysen bald auch ohne die Folien lesen.«

»Woher stammen diese Analysen?«

Torsten Kleinau zuckte mit den Achseln: »Nicht von hier. Wir verzichten auf diese Sperenzchen. Außerdem sehen unsere Raster anders aus.« Er deutete auf einen der Monitore.

»Und woher stammen sie dann? Können Sie das sagen?«

»Einige Forscher geben ihre Analysen nach draußen. Nach Kassel, Osnabrück oder Würzburg. Möglich, dass die Dokumente von da stammen. Kann ich aber nicht sagen. Die Analysen haben keine Seriennummern.«

»Wer an der Uni arbeitet denn mit solchen Analysen?«

»Konkret fällt mir nur Fischer-Lause ein. Sie hat ihre Analysen teilweise ausgelagert, um sich nicht mit der Rechtsmedizin herumärgern zu müssen.«

»Und Henthen?«

»Nee, der ist zu paranoid. Der arbeitet lieber hier. Das hier war ja eigentlich mal sein Labor.«

»Und das von Fischer-Lause. Ich weiß. Sie gehören doch zu ihrem Team, oder nicht?«

»Ja, in der Tat.«

»Dann sind Sie der Ein-Zell-DNA-Analytiker?«

»Genau. Das ist mein Forschungsgebiet. Warum?«

»Können Sie sich vorstellen, dass Fischer-Lause einer Patientin mit ein paar Gefälligkeitsgutachten hilft? Zum Beispiel, um aus einer Reihe von Kandidaten den passenden Vater auszuwählen?«

»Oma Lause als Verschwörerin?« Torsten Kleinau lachte. »Nun ja, für Frauen mit Fortpflanzungswunsch hat sie eigentlich immer ein offenes Ohr. Das würde auch erklären, warum diese Dokumente hier nicht offiziell sind und keine Seriennummer tragen.«

Katharina überlegte einen Moment. Dann fragte sie: »Können Sie mir einen Gefallen tun?«

»Lassen Sie mich raten? Ich soll diese Analysen hier mit den anderen Proben vergleichen? Klar, kein Problem.«

***

Andreas Amendt war bereits am Schluss seines Vortrags angekommen: »Und der Grund, warum ich Ihnen das alles erzähle und immer wieder auf eine gründliche Leichenschau dränge, ist ganz einfach: die Dunkelziffer. In Deutschland geht man davon aus, dass bei circa zehntausend Fällen im Jahr eine eigentlich indizierte Autopsie nicht durchgeführt wird. Davon sind ungefähr eintausendzweihundert Fälle Tötungsdelikte, der Rest unerkannte Krankheiten, Vergiftungen oder Verletzungen. Bei circa zweitausendfünfhundert bekannt gewordenen Tötungsdelikten liegt also allein in diesem Bereich die Dunkelziffer bei fast fünfzig Prozent. Und das ist definitiv zu hoch! – Ah, Frau Klein beehrt uns wieder mit ihrer Gesellschaft.«

Katharina nahm noch einmal ihren Platz vor der Leinwand ein: »Ich bitte die Unterbrechung zu entschuldigen.«

Andreas Amendt wandte sich wieder den Studenten zu: »Also? Hat jemand Fragen?«

Die Studentin, die zuvor mit ihren Krimikenntnissen geglänzt hatte, meldete sich: »Ich habe eine ganz blöde Frage.« Sie zögerte einen Augenblick. »Warum?«

»Warum was?«, fragte Andreas Amendt verwirrt.

»Warum töten so viele Menschen? In Krimis klingt das immer so durchdacht, aber im realen Leben, in Zeitungsmeldungen –«

»– klingt es immer entsetzlich banal«, führte Katharina den Satz zu Ende. »Gut beobachtet: der Mann, der seine Frau verprügelt, bis sie stirbt; der arme Schlucker, der für fünfzig Euro eine Tankstelle überfällt; die Messerstecherei vor der Disco. Und fast alle Täter werden noch am selben Tag überführt und verhaftet. Sie haben recht. Die Motive erscheinen schrecklich banal. Ich könnte Ihnen jetzt die wichtigsten Motive aufzählen, aber das hat man bereits vor vielen Hundert Jahren gemacht.«

Sie schrieb an die Tafel:

SUPERBIA

AVARITIA

INVIDIA

IRA

LUXURIA

GULA

ACEDIA

»Erkennt das jemand?«, fragte sie.

Der Mann, der nach den DNA-Analysen gefragt hatte, meldete sich: »Die sieben Todsünden.«

»Sehr gut. Superbia: Hochmut und Arroganz lassen den Täter glauben, er kommt mit einem Mord durch. Avaritia: Habgier finden Sie als Mordmerkmal sogar im Strafgesetzbuch. Invidia: Neid und Eifersucht; fast sechzig Prozent aller Tötungsdelikte sind das, was die Presse gern Eifersuchtsdramen nennt. Ira: Zorn und Rache; Motiv für Totschlag im Affekt, aber auch für sogenannte Ehrenmorde. Luxuria: die Wollust, der überbordende Sexualtrieb. Gula: die Maßlosigkeit und Selbstsucht. Und nicht zuletzt Acedia: Faulheit und Feigheit; die unterlassene Hilfeleistung, das Weghören, wenn der Nachbar wieder einmal seine Frau oder sein Kind verprügelt. – Ich würde noch zwei wesentliche Motive hinzufügen.«

Sie schrieb:

HERRSCHSUCHT

»Die Sucht nach Macht – Töten ist die ultimative Machtausübung – ist der wesentliche Kern praktisch aller sogenannten sexuell motivierten Verbrechen. Und …«

STUPIDITAS

»Die meisten Kapitalverbrechen werden aus Dummheit begangen. Und sie werden aus Dummheit übersehen, aus Naivität und Unwissen. – Aber um Ihre Frage zu beantworten: ja. Mir ist noch kein Mord untergekommen, der nicht banal und idiotisch gewesen wäre.«

***

Nachdenklich hatten die Studenten den Raum verlassen. Katharina und Andreas Amendt blieben alleine zurück.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie theologisch so gebildet sind«, sagte der Arzt schließlich.

»Bin ich auch nicht. Das habe ich von einem Kommilitonen an der Polizeihochschule, der eigentlich geweihter Priester war. Ach, Sie wissen nicht zufällig, was Herrschsucht auf Lateinisch heißt?«

Andreas Amendt schmunzelte und wollte etwas erwidern, doch sie wurden jäh unterbrochen.

»Doktor Amendt?« Der Mann, der so aufdringlich nach den DNA-Analysen gefragt hatte, steckte den Kopf durch die Tür.

»Herr von Kunert! Hat Ihnen die Vorlesung gefallen?«

»Doch. Durchaus.« Der Mann kam die Stufen des Hörsaals hinunter und streckte Katharina seine Hand hin: »Alirezah von Kunert. Ich bin freier Journalist und –«

»Und er hängt immer in der Rechtsmedizin herum auf der Suche nach einer Schlagzeile«, unterbrach ihn Andreas Amendt.

»Gestatten Sie, dass ich nachfrage, Doktor Amendt?«

»Wenn es sein muss.«

»Als Sie die Zahlen erwähnten: zehntausend übersehene Morde.«

»Zehntausend Tote, bei denen man besser eine Autopsie durchgeführt hätte. Zwölfhundert Tötungsdelikte.«

»Meinetwegen. War das Polemik?«

»Leider nicht. Das ist die bittere Realität.«

»Aber das ist ja ein Skandal. Was kann man denn dagegen tun, Ihrer Meinung nach?«

»Das Übliche. Mehr Mittel. Mehr Stellen. Und besser ausgebildete Ärzte. – Aber wenn Sie uns nun entschuldigen würden: Frau Klein und ich haben zu arbeiten.«

***

Sie waren ein paarmal durch das Gebäude gelaufen, bis sie sicher waren, Alirezah von Kunert wirklich abgehängt zu haben, bevor sie ihre Schritte erneut ins DNA-Labor lenkten.

Torsten Kleinau erwartete sie schon: »Dank der Unterlagen gibt es jetzt für alle eure Proben Gegenstücke. Bis auf eine.«

Katharina sah sich die Ergebnisse an. Für Wigo Bach gab es keine Gegenprobe. Wenig überraschend. Er war schließlich schwul.

»Aber ich habe noch mal über Ihre Frage nachgedacht«, unterbrach Torsten Kleinau ihre Gedanken. »Über Oma Lause.«

»Ja? Und?«

»Ich will ja meine Doktormutter nicht in Schwierigkeiten bringen, aber sie kam mal mit einem ganzen Satz Proben an. Vor ein paar Wochen. Allerdings war hier gerade Hochbetrieb. Der Massentest für diesen Kindermord in Marburg. Sie hat dann irgendwas davon gemurmelt, dass sie sich besser ein anderes Labor sucht.«

»War das ungewöhnlich?«

»Nicht unbedingt. Aber normalerweise hat sie nur eine oder zwei Proben zur Analyse, und das müssen zehn Stück oder so gewesen sein. Und sie war irgendwie … ich weiß nicht … geheimniskrämerisch. Ich habe damals nur gedacht, das wäre für ein Forschungsprojekt.«

Irgendwie schmeckte Katharina Oma Lause – was für ein passender Spitzname – nicht als Verdächtige. Andererseits …

»Kennt sich Frau Fischer-Lause gut mit Computern aus?«

Torsten Kleinau lachte so sehr, dass er beinahe von seinem ergonomischen Bürostuhl fiel: »Oh je, nein. Einschalten ja. Aber den Rest muss ein Assistent machen.«

»Und wer ist das?«

»Bisher meistens ich. Aber in letzter Zeit weniger. Sie hat wohl jemand anderen gefunden. Soll mir recht sein.«

Andreas Amendt hatte schweigend zugehört. Jetzt sagte er: »Wir sollten noch mal mit ihr sprechen. Gehen wir doch gleich mal –«

»Spart euch den Weg. Sie ist nicht da«, unterbrach ihn Torsten Kleinau.

»Lass mich raten: Barcelona?«

»Nein, sie ist wirklich nicht da. Ihre Enkelin hat Geburtstag. Sie ist heute früh nach Köln gefahren. Kommt erst am Montag zurück.«

Katharina hasste es, eine heiße Spur nicht gleich verfolgen zu können. Dann würde sie sich eben erst einmal die anderen Verdächtigen vornehmen müssen. Also, auf zu stop!.

***

Hasko Beyer hatte Katharina schon erspäht, noch bevor Stop!-Mein-Name-ist-Sarah sie anmelden konnte. Er lotste Katharina wieder in das Konferenzzimmer.

Na, wenn das kein Glücksfall war: fast alle Verdächtigen in einem Raum beisammen. Um den Tisch standen Wigo, Hartmut Farber, der Grafiker, und Ernesto Langmann. Hasko Beyer schloss vorsichtig die Tür: »Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen, Frau Klein.«

War sie aufgeflogen? Sicherheitshalber ließ Katharina einen Riemen ihrer Handtasche von der Schulter rutschen. Wer wusste, ob sie nicht ihre Waffe brauchte.

»Die zweite Präsentation bei Stockert & Rohrbacher war ein voller Erfolg. Alle waren sehr angetan von Ihrer Arbeit«, begann Hasko Beyer ohne Übergang.

»Aber?«

»Kein Aber. Wir wollen Sie fest an die Agency binden. Commanding Conceptioner for Defence Goods.«

Katharina verstand zwar nur die Hälfte, aber offensichtlich wollten die vier ihr einen Job anbieten. »Das ist –«

»Diese Campaign kann unser Einstieg in ein völlig neues Segment sein. Wir haben schon ein Appointment mit Heckler & Koch nächste Woche.«

»Und ich?«

»Sie werden Creative Head dieser Accounts. Text, Konzept und so weiter.«

»Ich weiß gar nicht –«

»You can thank us later. Sie müssten allerdings sofort anfangen.«

Hasko streckte ihr siegesgewiss die Hand hin. Was jetzt? Am besten mit dem Kopf durch die Wand.

»Nein. Das geht leider nicht.«

»But why?«

»Weil ich immer noch Polizistin bin. Und ich bin hier, weil Melanie Wahrig aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden ist. Daher müsste ich von Ihnen allen wissen, wo Sie letzten Donnerstag waren.«

Hasko Beyer war bleich geworden: »Aber … Sie glauben doch nicht, dass einer von uns …?«

»Ich habe DNA-Spuren von Ihnen.«

»Von uns allen?«

»Bis auf Wigo, ja. – Vielleicht setzen Sie sich besser.«

Die vier Männer nahmen gehorsam Platz.

»Sie, Ernesto und Hartmut haben offenbar mit Melanie –«, begann Katharina.

»Wir alle? Colleagues? Im Ernst?«, unterbrach Hasko Beyer sie.

Ernesto zuckte mit den Schultern: »Ach Gottchen, das eine Mal. Und sie hat es ja darauf angelegt. Das war eindeutig freiwillig.«

»Und?«, fragte Katharina.

»Nett. Aber nichts Besonderes.« Das klang zu abgebrüht, um gelogen zu sein.

»Und danach wollte Melanie nichts mehr von Ihnen wissen, stimmt’s?«

»Andere Mütter haben auch hübsche Töchter.«

»Und bei dir?«, fragte sie Hartmut Farber. Hatte der sich nicht mit Melanie gestritten? Das hatte Laura doch erzählt.

»Oh je. Ja. Leider. Ich verstehe es auch nicht so ganz. In einem Augenblick streiten wir uns noch über den richtigen Schriftschnitt, und im nächsten liegen wir in ihrem Bett.«

»Und bei mir …«, beichtete Hasko Beyer, »… war es nach der Office-Messe in Köln. Zu viel Sekt. – Warten Sie! Donnerstag, sagten Sie? Dann kann es keiner von uns vieren gewesen sein. Wir waren den ganzen Tag bei Stockert & Rohrbacher. The fucked-up first presentation. Wir sind Mittwochabend rübergefahren und erst am Freitagmorgen zurückgekommen.«

Die anderen atmeten erleichtert auf. Ein Alibi.

»Moment«, widersprach Katharina. »Wir haben doch am Donnerstag miteinander telefoniert.«

»Richtig«, erwiderte Hasko Beyer. »Aber wenn niemand mehr im Office ist, werden alle Calls entweder auf mein Handy oder das von André Meyer umgeleitet. Das können Sie aber bestimmt an unseren Logs erkennen.«

Katharina nickte. Die Geschichte klang glaubwürdig. Sie konnte das Alibi immer noch überprüfen. »War André auch dabei?«

Hasko zuckte mit den Schultern. »Nicht sein Account.«

»Gut. Dann würde ich gern mit ihm sprechen.«

»Ist erst am Montag wieder im Office. – Sie glauben uns also?«

»Ja, ich glaube Ihnen. Tut mir leid, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe. Aber ich muss Sie bitten, über dieses Gespräch erst mal Stillschweigen zu bewahren.«

»Natürlich.« Mit wem sollten sie auch darüber reden? So angenehm war die Situation wirklich nicht.

»Ist die Angelegenheit erledigt?«, wechselte Hasko Beyer das Thema. »Dann kommen wir doch wieder auf unser Angebot zurück. Undercover oder nicht, Sie haben einen sehr guten Job gemacht. Und im War for Talent siegt der Early Bird. Also: Unsere Offer steht.«

»Leider ist das alles nicht so einfach.«

»Schade.«

»Aber …« Man sollte Türen ja nicht unnötig zuschlagen. »Ich habe zurzeit ein Disziplinarverfahren am Hals. Kann sein, dass ich wirklich gefeuert werde.«

Hasko Beyers Miene hellte sich auf: »Gorgious! Wann ist denn die Decision?«

»Montag.«

«Please, call me first thing!«

***

Nur Wigo und Katharina waren in dem kleinen Besprechungsraum zurückgeblieben.

»Denkst du wirklich darüber nach, den Job anzunehmen?«, wollte Wigo wissen.

»Vielleicht. Mal sehen, was meine Anhörung ergibt.«

»Darf ich fragen, was du angestellt hast?«

»Ich habe zwei Drogendealer erschossen.«

Wigo wirkte nicht sonderlich geschockt. »Notwehr?«

»Ich sage Ja, andere sagen Nein.«

»Egal. Elendes Pack. Zwei tote Drogendealer sind zwei gelöste Probleme.« Er zögerte. »Ein Lover von mir ist an einer Überdosis krepiert.«

»Das tut mir leid.«

Wigo schwieg kurz. Dann fragte er: »Und … Hast du schon irgendeinen Verdacht? Wegen Melanie, meine ich?«

Katharina zuckte mit den Schultern. »Ein paar Spuren. Aber nichts Handfestes.«

»Ich habe Melanie wirklich gemocht. Scheint aber trotzdem, dass an den Gerüchten etwas dran war, nicht wahr?«

»Welche Gerüchte?«

»Ich meine den Kondomfetisch. Und die ganzen Männer.«

»Irgendeinen Tipp?«

»Ganz ehrlich? André!«

»Warum?«

»Hat eine Neigung zur Gewalt. Guckt sich in unserem Kinosaal hier immer Horrorfilme an. Von der übelsten Sorte. Hostel und so. Hast du auch Spuren von dem?«

»Ja. Aber das bleibt unter uns.«

»Natürlich. Du solltest aber unbedingt auch noch mit Sandra sprechen.«

»Warum? Denkst du, dass sie …?«

»Die zarte Seele? Nein. Aber sie war Melanies beste Freundin. Kann sein, dass sie noch etwas weiß, was dir weiterhilft.«

***

Katharina hatte gehofft, verschwinden zu können, doch Hasko Beyer bat sie, noch zu der kleinen internen Trauerfeier für Melanie Wahrig zu bleiben, die er hatte arrangieren lassen.

Fast die gesamte Agentur hatte sich in der Church versammelt. Nur André Meyer fehlte. Und Sven Langstroem. Mit ihm würde Katharina auch noch reden müssen.

Hasko Beyer hielt eine Rede. Auf Deutsch und erstaunlich einfühlsam. »… und so werden wir dich stets in Erinnerung behalten. Gut gelaunt mit wehender Mähne durch die Agentur laufend. Immer das Schöne auch noch in den seltsamsten Dingen sehend. Ich glaube, keiner von uns konnte Abwasserrohre und Gummidichtungen so ästhetisch in Szene setzen wie du.«

Ein leises Kichern im Publikum.

»Melanie, wo auch immer du jetzt sein magst: Vermutlich gestaltest du eine fröhliche Kampagne oder diskutierst über die richtige Schattierung von Weiß für deine persönliche Engelswolke. – Melanie, wir vermissen dich!«, schloss er seine Ansprache.

Nach einem Moment der Stille begann einer der Zuhörenden zu klatschen, die anderen fielen ein, bis der Beifall sich zu stehenden Ovationen gesteigert hatte.

Endlich war der Applaus verklungen. Hasko Beyer deutete mit den Händen an, dass sich alle wieder hinsetzen sollten. »Liebe Colleagues, gestattet mir noch einen Nachsatz. Ich weiß aus berufener Quelle, dass – und das wird für viele von euch ein Schock sein –, dass die Polizei Melanies Tod eingehender untersucht.«

Die Zuhörer atmeten alle hörbar ein.

»Ich erwarte von euch, dass ihr die Ermittlungen in vollem Rahmen unterstützt. Das sind wir Melanie schuldig. Danke.«

Er verließ das Rednerpult. Die Anwesenden begannen leise, aber aufgeregt durcheinanderzusprechen. »Ich habe es ja gesagt …«, hörte Katharina. »Kein Unfall … Mord … Entsetzlich … Wer … Na ja, Melanie und die Männer … ich dachte, sie …«

»Wo ist denn eigentlich Laura?«

Katharina hatte zunächst nicht registriert, dass die Frage ihr galt.

»Hallo? Laura?« Jemand stupste sie an der Schulter. Katharina drehte sich um. Neben ihrem Stuhl stand Sandra Beckmann.

»Oh, Entschuldigung«, antwortete Katharina endlich. »Laura geht es gut, das heißt den Umständen entsprechend. Sie ist zurzeit bei mir.«

»Aha.«

»Sie hätten nicht zufällig eine Zigarette für mich?« Irgendwie musste sie ja das Gespräch mit Sandra Beckmann beginnen.

***

Die Raucherecke war leer. Sie stellten sich an einen Stehtisch. Sandra Beckmann hielt Katharina die Schachtel hin. Ihre Hand zitterte so sehr, dass Katharina ihr endlich das Feuerzeug abnahm und ihnen beiden Feuer gab.

»Stimmt das, was die anderen sagen?«, fragte Sandra Beckmann, als ihre Zigarette brannte. »Dass Melanie ermordet wurde?«

»Es sieht danach aus, ja.«

Sandra Beckmann starrte konzentriert auf den Aschenbecher. Katharina konnte sich denken, wie sie sich fühlte. Sie sagte leise: »Ich bin hier, um die Geschichte zu untersuchen.«

»Das habe ich mir schon fast gedacht.«

»Warum?«

»Weil es zu schön war, um wahr zu sein: Wir brauchen einen Texter, der sich mit Waffen auskennt. Und rein zufällig taucht eine ehemalige Polizistin auf. Polizeischützenmeisterin sogar. Ich war so frei und habe Sie gegoogelt.«

»Und Sie haben nichts gesagt?«

»Ich wollte die Ermittlungen nicht stören. Melanie war meine beste Freundin.«

Sie schwiegen und bliesen Rauch in die Luft. Schließlich fragte Sandra Beckmann: »Haben Sie schon einen Verdacht?«

»Nichts Konkretes. Ein paar Spuren.«

Sandra Beckmann drückte ihre Zigarette aus. Zwei Tränen rannen über ihre Wangen. »Sie wollte doch nur ein zweites Kind. Das ist doch kein Verbrechen.«

»Sie wussten von Melanies Plan?«

»Klar. Ich war doch ihre beste Freundin.«

Weinende Frauen. Fast so schlimm wie weinende Kinder. Katharina legte ihr den Arm um die Schulter, fast erwartend, dass Sandra Beckmann sich losmachte und weglief. Aber sie lehnte den Kopf an Katharinas Schulter und schluchzte noch heftiger. Was jetzt?

Katharina beförderte ein Taschentuch aus den Tiefen ihrer Handtasche zutage und gab es ihr. Sandra Beckmann schnäuzte sich und tupfte ihre Tränen ab.

»Ich weiß, es ist schwierig für Sie«, fragte Katharina vorsichtig. »Aber haben Sie irgendeinen Verdacht?«

»Nein. Nur … einer von den Kerlen, die sie getestet hat, vielleicht.«

»Welcher?«

»Ich weiß nicht. Das waren ja viele. Zwölf oder mehr.«

»Wissen Sie, wer alles?«

»Vermutlich vor allem unsere Agenturbelegschaft.«

»Die haben alle ein Alibi, wie es scheint.«

Sandra Beckmann atmete auf: »Wirklich?«

»Ja, ich denke schon.«

»Gut. Das wäre furchtbar, wenn hier …«

»Ich habe schon verstanden, dass Sie hier so etwas wie eine Familie sind. – Gab es noch andere Kandidaten?«

»Ein Vater aus Lauras Kindergarten. Architekt oder so.«

Thomas Hartmann. »Ja, ich weiß. Hat auch ein Alibi.«

»Und vermutlich ein paar Kunden. Kann ich auch nicht so genau sagen. Aber ich kann es vielleicht herausfinden.«

»Das wäre gut.« Katharina zog eine ihrer Visitenkarten heraus und schrieb ihre Handynummer auf die Rückseite. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt? Vielleicht möchten Sie auch vorbeikommen. Laura würde sich freuen.«

»Was passiert jetzt eigentlich mit Laura?«

»Ihr Vater hat das Sorgerecht. Ist aber noch auf Weltreise.«

»Richtig. – Nun, hoffen wir, dass …« Sandra Beckmann unterbrach sich und zündete eine weitere Zigarette an. Katharina lehnte die hingehaltene Schachtel dankend ab.

»Aber …« Sandra Beckmann blies den Rauch kräftig aus. »Da war noch was. Das hat mir Melanie erzählt. Am Telefon. Sie hatte wohl den Idealkandidaten gefunden.«

»Wissen Sie, wer das war?«

»Nein, leider.«

Das würden Andreas Amendt und Torsten Kleinau herausfinden können. Katharina griff nach ihrem Handy und wählte.

»Frau Klein!«, schallte ihr Amendts Stimme entgegen. »Können Sie ganz schnell in die Säuglingsstation kommen?«

***

»Na endlich.« Andreas Amendt schob Katharina in das Dienstzimmer von Katja Meyer. Neben der Ärztin saß Svenja Taboch. Ihre Augen waren rotgeweint. Andreas Amendt kniete sich neben sie wie für einen völlig verkorksten Heiratsantrag: »Bitte, erzähl Frau Klein, was du mir erzählt hast.«

Leise begann Svenja Taboch: »Vorhin war die Anhörung. Wegen Johanna. Er weiß einfach alles. Hat mich ausspioniert.«

»Wer?«, fragte Katharina.

»Henthen natürlich«, sagte Amendt schroff. »Weiter.«

»Hat mich als totale Kinderhasserin dargestellt. Und … er hat erzählt, dass ich zwei Abtreibungen hinter mir habe.«

»Stimmt das?«

»Ja. Leider. Aber aus gesundheitlichen Gründen. Ich hätte die Kinder verloren. Und wäre vermutlich selbst gestorben.«

Katharina kaute auf der Unterlippe: »Das hat er vermutlich verschwiegen, nicht wahr?«

Svenja Taboch nickte. Katharina schoss es durch den Kopf, dass es spätestens beim zweiten Mal klüger gewesen wäre, gar nicht erst schwanger zu werden.

»Waren die Abtreibungen hier in der Klinik?«

»Ja. Aber nicht bei Henthen oder in seiner Abteilung.«

Katharina wandte sich an Katja Meyer: »Kommt hier jeder an die Patientenakten?«

»Nein, nur nach spezieller Freigabe. Und der Arzt von Svenja hasst Henthen.«

»Vielleicht trotzdem eine Konsultation? Immerhin ist Henthen ja Spezialist für Fruchtbarkeit und so.«

»Sie haben mir nicht richtig zugehört, Frau Klein. Ich sagte ›hassen‹. Doktor Barlik und Henthen sind mit Infusionsständern aufeinander losgegangen.«

»Also ist jemand für Henthen in das Computersystem des Kollegen eingedrungen?«

»Vermutlich.«

»Ein Hacker, der sich gut mit dem Computersystem der Uniklinik auskennt. – Doktor Amendt? Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor?«

»Was?« Andreas Amendt sah auf. Er war damit beschäftigt gewesen, Svenja Taboch zu trösten, die wieder zu weinen begonnen hatte.

Katharina spürte einen Stich im Magen. Schnell sprach sie weiter: »Ich sagte, Henthen hat sich entweder selbst in ein gut gesichertes Computersystem gehackt oder kennt jemanden, der das für ihn macht. Es ist doch interessant, wie viele Querverbindungen es zwischen unseren beiden Fällen gibt.«

»Ja. In der Tat. Und vielleicht gibt uns der Rest von Svenjas Geschichte noch mehr Aufschluss.«

Svenja? Sie waren also schon per Du? Katharina biss die Zähne zusammen.

»Erzähl weiter«, bat Andreas Amendt.

»Und dann präsentiert er die Traumeltern«, fuhr Svenja Taboch stockend fort. »Kinderlos. Reich. Tolles Anwesen. Der Richter war total begeistert.«

»Und?«

»Er entscheidet bis Mittwoch. So lange muss Johanna noch hierbleiben.« Sie fing wieder an zu weinen. Andreas Amendt nahm sie tröstend in den Arm.

»Und die Namen der Adoptiveltern?«, fragte Katharina streng.

»Frau Klein, bitte. Sie sehen doch …«

»Die Namen, verdammt!«, bellte Katharina.

»Ulf und Monika Marbert«, antwortete Svenja Taboch tonlos.

»Bitte. Geht doch.« Zufrieden notierte sich Katharina die Namen. Irgendwo hatte sie sie schon mal gehört.

»Frau Klein, auf ein Wort bitte.« Andreas Amendt zog sie am Ärmel auf den Flur und schloss die Tür sorgfältig. »Was fällt Ihnen eigentlich ein, so mit Svenja zu reden?«

»Ich rede mit ihr so, dass ich Antworten bekomme«, fauchte Katharina zurück.

»Und das ging nicht etwas freundlicher?«

»Ich musste die Namen wissen. Und ich habe keine Zeit für Kuscheltherapie.«

»Aber dass man mit Feinfühligkeit und Sensibilität manchmal weiterkommt …«

»Ich weiß, was ich tue. Hundert Prozent Aufklärungsquote, schon vergessen?«

»Und wie viele Unschuldige waren dabei?«

»Das ist doch … Lassen Sie mich meinen Job machen, wenn Sie Henthen hinter Gittern sehen wollen. Und machen Sie Ihren. Finden Sie heraus, wer von unseren Kandidaten der Idealvater ist. Fragen Sie den Kleinau. Aber bitte so, dass Sie auch eine Antwort bekommen.«

»Das werde ich. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Ach ja, wir brauchen die Antwort heute noch. Nicht nächstes Jahr!«

»Aber erst bringe ich Svenja nach Hause. Die ist völlig verstört. Und da kommen Sie …«

»Sie wird es überleben. Machen Sie sich nicht gleich ins Hemd. Manchmal muss man Zeugen hart anpacken.«

»Sie klingen wie Polanski, wissen Sie das?«

»Na, damit haben Sie ja Erfahrung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass Polanski Sie mal in der Mangel gehabt hat!«

Andreas Amendt stockte: »Was wissen Sie darüber?«

»Ich? Nichts.«

»Gut! Dann sprechen Sie nicht über Dinge, die Sie nichts angehen!« Er lehnte sich an die Wand, atmete heftig aus und schwieg.

Schließlich sagte Katharina: »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht –«

»Schon gut«, schnitt Amendt ihr das Wort ab.

»Könnt ihr nicht einfach miteinander ins Bett gehen wie normale Menschen?« Katja Meyer lehnte im Türrahmen; sie amüsierte sich offenbar blendend. »Ihr weckt mir noch die ganzen Kinder auf.«

»Fang du nicht auch noch an!«, sagte Andreas Amendt rasch.

»Außerdem sind wir nicht –«, ergänzte Katharina.

»Jaja. – Habt ihr keine Morde aufzuklären oder so? Oder wollt ihr euch noch ein wenig weiterstreiten?«

»Wir streiten uns nicht!«, sagten Katharina und Andreas Amendt gleichzeitig.

Katja Meyer zuckte mit den Achseln. »Wenn ihr meint …«

»Kannst du mir ein Taxi rufen, Katja? Ist vielleicht besser, wenn jemand Svenja nach Hause bringt«, fragte Andreas Amendt.

»Sie können doch mit uns fahren«, bot Katharina versöhnlich an. »Im Panzer ist genug Platz.«

»’ne Fahrt mit einer dauerzornigen Polizistin und zwei bewaffneten Leibwächtern? Svenja hat für heute schon genug erlebt, glaube ich.« Und damit ging Andreas Amendt wieder ins Zimmer zurück und schloss energisch die Tür.

Katja Meyer grinste. Katharina fragte unwirsch: »Was?«

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Springen Sie in den Swimmingpool, bevor er zufriert. Wird sonst ’ne harte Landung. – Ich glaube übrigens nicht, dass Svenja ein Grund zur Eifersucht ist.«

***

Eifersüchtig? Sie war nicht eifersüchtig! Katharina saß an ihrem Küchentisch und hieb mit einem großen Messer auf die Zwiebel ein, die vor ihr lag.

»Würfel, Katharina. Kein Zwiebelmus.«

Antonio Kurtz war überraschend zu Besuch gekommen, mit mehreren Körben voller Lebensmittel. Vergnügt hatte er zu kochen begonnen, als Katharinas Handy klingelte. Ausgerechnet Andreas Amendt.

»Hören Sie, ich wollte nur sagen, dass Torsten an der Analyse sitzt. Versucht rauszufinden, wer von den Kandidaten der genetisch optimale Vater ist.«

»Danke.«

»Ach, und ich habe mit Paul Leydth telefoniert. Er holt ein paar Erkundigungen über die potenziellen Adoptiveltern ein, diese Marberts. – Wie wäre es, wenn wir morgen Vormittag hinfahren? Paul würde sich freuen. Und wir könnten auch gleich den Idealvater –«

»Aber die Vernehmung überlassen Sie mir.«

»Wenn Sie nicht die Daumenschrauben auspacken.«

»Na gut. Ausnahmsweise.«

»Dann … bis morgen.«

Katharina wollte sich gleichfalls verabschieden, als sie durch das Telefon eine Frauenstimme hörte: »Wo hast du denn die Geschirrhandtücher?«

»Wer …?«

»Svenja war extrem aufgewühlt. Deswegen ist sie erst mal mit zu mir gekommen.«

»Aha!« Katharina legte auf, ohne sich zu verabschieden. »Antonio, gib mir was zum Kleinschneiden.«

Kurtz gab ihr Zwiebeln und ein Messer: »Im Zweifelsfall wissen Hans und Lutz ja, was zu tun ist. Nicht wahr?«

»Klar, Boss. Herz brechen, Finger brechen.«

»Gehe hin und paare dich«, sagte Hans leise. Und wenn in diesem Augenblick nicht schon wieder das Telefon geklingelt hätte, hätte er sicher einen Finger verloren. Schließlich hatte Katharina ein sehr scharfes Messer in der Hand.

»Klein!«, blaffte sie ins Telefon, halb in Erwartung, noch einmal Andreas Amendts Stimme zu hören.

»Guten Tag, ich hoffe ich bin richtig bei Ihnen.« Eine sonore Männerstimme. »Elfie LaSalle hat mir Ihre Nummer gegeben und …«

»Ja?«

»Ich bin Tom Wahrig, Lauras Vater.«

Katharina brauchte einen Moment zum Umschalten und schwieg.

»Frau Klein? Ist alles in Ordnung mit Laura?«

»Was? Doch, doch. Natürlich. Ich war nur …« Was eigentlich?

»Dann bin ich ja beruhigt. Hören Sie, ich bin schon in London, aber die Flüge nach Deutschland fallen heute Nacht wegen Nebels aus. Ich setze mich aber in die erste Maschine nach Frankfurt, die ich kriege.«

»Das ist doch mal eine gute Nachricht. Möchten Sie Laura sprechen?« Katharina wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern wanderte mit dem Telefon in ihr Gästezimmer, wo sich Laura in ihre Spielecke verzogen hatte. Sie hielt dem Mädchen das Telefon hin: »Dein Vater.«

Laura sprang sofort auf und riss ihr den Hörer aus der Hand: »Papa!«

***

Katharina ließ sie in Ruhe telefonieren, ging zurück in die Küche und setzte ihr Zwiebelgemetzel fort.

Es klingelte an der Haustür. Sie wollte hinlaufen, aber Hans und Lutz waren schneller. Kurze Zeit später führten sie Polanski in die Küche.

»Kurtz«, seufzte der Kriminaldirektor. »Nun machen Sie es Katharina doch nicht noch schwerer als nötig.«

Kurtz zuckte mit den Achseln: »Wieso? Ich denke, es ist ohnehin schon beschlossene Sache, dass sie fliegt?«

»Was?« Katharina sprang auf.

»Ganz mit der Ruhe. Darüber wollte ich mit Katharina gerade sprechen. Aber vielleicht besser unter vier Augen.«

***

»Also, was ist nun?« Katharina saß gespannt auf der vordersten Kante ihres Wohnzimmersofas.

»Hölsung hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Und die Interne Ermittlung braucht dringend einen Sieg.«

»Warum werfen Sie mich dann nicht gleich raus? Dann können wir uns die Show am Montag sparen.«

»Weil ich Sie nicht kampflos aufgebe. Kriminalbeamte mit Ihren Qualifikationen sind rar. Und ich will Sie behalten. Aber dazu müssen Sie sich unbedingt zusammenreißen.«

»Ich werde mich bemühen.«

»Bemühen ist nicht genug, Katharina. Es geht nicht nur um Ihre Entlassung. Mit etwas Pech werden Sie wegen Mordes angeklagt. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern.«

»Und wie?«

»Lassen Sie mich nur machen. Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Geschichte sauber auf die Reihe kriegen. Und benehmen Sie sich. Ziehen Sie was Anständiges an. Sie haben doch ein Kostüm oder so?«

»Ja.«

»Gut. Also: Sie beantworten erst mal nur Fragen. Ansonsten halten Sie sich raus.«

»Aber wenn Hölsung –«

»Selbst dann. Sie hatten Ihre Chance, ihn zu erschießen. Jetzt ist Diplomatie angesagt.«

Katharina seufzte: »Na gut. Sonst noch was?«

»Eigentlich nicht. – Ach ja, die Beerdigung von Thomas ist am Sonntag … Ich möchte, dass Sie nicht hingehen. Aus Sicherheitsgründen.«

»Kommt nicht infrage. Thomas war mein Kollege. Und mein bester Freund.«

»Wenn Sie da auftauchen, bringen Sie nicht nur sich in Gefahr, sondern die ganze Trauergemeinde.«

»Warum?«

»Sie haben eine Bombenlegerin am Hals, Katharina. Diesmal wird sie auf Nummer sicher gehen.«

»Dann wird sie die Bombe in jedem Fall legen. Bombenleger sind feige. Sie wird nicht abwarten, ob ich wirklich auftauche. Wenn sie überhaupt von der Beerdigung weiß.«

»Wieso sollte sie es nicht wissen? Ihre Auftraggeber sind gut informiert.«

»Sie ist abgetaucht. Kurtz hat den Russen klargemacht, was passiert, wenn er noch mal einen von ihren Problemlösern in meiner Nähe sieht. Seitdem ist sie verschwunden.«

»Manchmal ist so ein Patenonkel bei der Mafia doch recht nützlich.«

»Kurtz ist nicht –«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Katharina wechselte lieber das Thema: »Ich glaube nicht, dass das Risiko auf der Beerdigung allzu groß ist, wenn Sie das Gelände vernünftig bewachen lassen. Außerdem werden mindestens zweihundert Polizisten vor Ort sein.«

Polanski nickte langsam: »Na meinetwegen. Ich lasse die Kapelle und das Grab gleich absperren und rund um die Uhr bewachen.«

»Kann ich dann kommen?«

»Mir wäre es lieber, wenn …«

»Chef, ich kann dort auch nützlich sein. Ich bin die Einzige, die die Bombenlegerin bisher gesehen hat.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber das konnte Polanski ja nicht wissen.

»Also gut. Aber kleiden Sie sich unauffällig. Halten Sie sich im Hintergrund. Und die Personenschützer vom BKA sind immer in Ihrer Nähe, verstanden?«

»Versprochen. Danke, Chef. – Möchten Sie etwas mitessen? Kurtz hat gekocht.«

»Ach, Pflicht und Gewissen.«

***

Es war schon ziemlich spät, als Polanski sich verabschiedete.

»Zeit fürs Bett, Laura«, sagte Katharina, nachdem sie hinter ihm die Tür abgeschlossen und die Sicherheitskette vorgelegt hatte.

Das Kind putzte sich wie immer gründlich die Zähne, schlüpfte in ihren Pyjama und krabbelte zwischen die zahllosen grünen Yodas ihrer Bettwäsche.

»Liest du mir noch was vor?«

Katharina setzte sich auf die Bettkante und schlug das große Märchenbuch auf. »Es war einmal …«, setzte sie an.

Weiter kam sie nicht, denn Laura fragte: »Wird der Andreas jetzt doch nicht dein Freund?«

Wie kam das Kind denn jetzt darauf? »Nein, Laura. Ich glaube nicht.«

»Bist du deshalb so traurig?«

»Ich bin doch nicht …«

»Doch, den ganzen Abend schon.«

Verdammt gute Beobachterin, die Kleine.

»Warum bist du denn dann so traurig?«

»Ach, weißt du …«, fing Katharina an. Besser gleich die Wahrheit. Laura kriegte sie ja auch so heraus. »Ich hab was Dummes gemacht. Und ich darf vielleicht nicht mehr Polizistin sein.«

»Hmhm.« Das Kind hatte die Stirn angestrengt in Falten gelegt.

»Laura, was denkst du?«

»Wenn du nicht mehr Polizistin bist, dann kannst du doch mit mir und Papa nach Brasilien kommen.«

Was hatte das Kind sich denn jetzt schon wieder ausgedacht?

»Wie kommst du darauf, Laura?«

»Also, der Papa hat keine Freundin. Und du hast keinen Freund. Und da könnt ihr doch …«

Daher wehte also der Wind. Oh Hilfe!

»Aber ich kenne deinen Vater doch gar nicht.«

»Der ist ganz doll lieb. Den magst du bestimmt.«

»Aber wenn er mich nicht mag?«

»Natürlich mag er dich.«

»Ich kann doch nicht einfach so –«

»Du kannst doch auch in Brasilien Polizistin sein!«

Unwillkürlich sah Katharina sich am Strand liegen, einen Longdrink in der Hand, jeden Tag Sonne … Aufs Stichwort trieb der Wind einen Schauer schweren Winterregens gegen das Fenster des Gästezimmers.

Laura flehte leise: »Bitte komm mit.«

Katharina schwieg. Lauras Haar strich über ihre Wange. Das Mädchen hatte ihre Arme um sie geschlungen. »Ich will, dass du meine neue Mama wirst. Dann sind wir eine Familie.«

Familie. Katharina spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen.

»Nicht weinen.« Laura strich ihr über das Haar.

Katharina tastete nach ihren Wangen. Tatsächlich. Sie weinte. Trotzig wischte sie mit dem Handrücken über ihr Gesicht.

Schließlich ließ Laura sie los und kuschelte sich wieder zwischen ihre Decken. »Du wirst meine neue Mama! – Liest du mir jetzt noch was vor?«

Laura hatte gesprochen. Um Himmels willen.

***

Jazz-Trilogie

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