Читать книгу Kapellensinfonie - Helmut Frevel-Gerhartz - Страница 10
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ОглавлениеHeidi Weißkirch, Gregor Dähler, Willfried Kessler und David Zelter hatten sich an diesem frühen Dienstagabend im Büro von Walter Lengen eingefunden und spekulierten lautstark, wer Klaus Greber ermordet haben könnte und was ihnen der Sparkassenleiter wohl im Einzelnen zu sagen habe. Trotz seiner reichlich indifferenten Ausdrucksweise am Telefon war jedem klar, warum er sie zwei Tage nach Grebers Tod zu einem sofortigen Treffen in die Sparkasse genötigt hatte. Es konnte nur um Geld gehen, genauer – um ihr Geld.
„Verdammt noch mal, wo bleibt der denn?“, regte sich Wilfried Kessler mit einem Blick auf seine Uhr auf und konnte ja nicht ahnen, dass sie der Zweigstellenleiter als Teil seiner Strategie ganz bewusst warten ließ. Im Ungewissen lassen war eine von Lengen regelmäßig angewandte taktische Maßnahme, um seine Ziele in Gesprächen erfolgreicher durchsetzen zu können.
Mit zehn Minuten Verzögerung betrat er sein Dienstzimmer und erst nachdem jeder mit einem Getränk versorgt war, begann er zu sprechen: „Danke, dass ihr so schnell gekommen seid. Entschuldigt meine Verspätung, aber ich wurde durch ein Telefonat aufgehalten. Ich sehe, wir sind so weit vollzählig“, schaute er in die Runde. „Albrecht, den ich ebenfalls benachrichtigt habe, kommt zirka zwanzig Minuten später.“
„Was gibt’s denn so Dringendes, dass ich meine Geschäftszeit dafür opfern soll?“, unterbrach ihn Wilfried Kessler merklich ungehalten.
„Das würde mich auch interessieren. Immerhin muss ich in einer halben Stunde den Dorfkrug öffnen und gerade du solltest wissen, dass ich zurzeit jeden Cent brauche“, meinte Heidi Weißkirch mit einem nicht zu überhörenden, vorwurfsvollen Unterton.
„Ich kann euren Unmut gut verstehen. Aber durch Klaus’ Tod ist eine Situation entstanden, deren Klärung meiner Ansicht nach keinen Aufschub duldet. Unsere Finanzen müssen schnellstens neu geregelt werden, sonst drohen uns noch gravierendere Verluste.“
„Dann sollten wir warten, bis Albrecht da ist, denn diese Problematik betrifft ihn doch auch“, warf David Zelter ein, der mit dem Chorleiter aufgrund ihrer gemeinsamen kirchlichen Arbeit freundschaftlich verbunden war.
„Ach was, komm zur Sache!“, winkte Georg Dähler, der Bürgermeister, ab.
„Sollte Albrecht Wesentliches verpassen, werden wir ihn informieren. Auch meine Zeit ist begrenzt. Wir haben doch heute Abend noch Gemeinderatssitzung.“
Zustimmendes Nicken der anderen bestätigte, dass sie ebenfalls beginnen wollten.
„Also gut, fangen wir an. David, du kannst ja Albrecht nachher das Wichtigste mitteilen“, wandte sich Lengen an Zelter, ehe er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kam.
„Ich habe um dieses Meeting gebeten, weil sich durch den plötzlichen Tod unseres Freundes Klaus – ich deutete es bereits an – eine völlig neu zu bewertende Lage ergeben hat. Ich weiß nicht, wer Klaus umgebracht hat. Aber ich bin mir sicher, dass es eine ganze Menge Leute gibt, die ebenso wie wir viel Geld durch ihn verloren haben und eine Stinkwut auf ihn hatten.“
„Vielleicht war es ja einer von uns!“, witzelte David Zelter und handelte sich augenblicklich wegen des geschmacklosen Scherzes empörte Blicke ein.
„Auch wir haben bei ihm investiert“, ließ sich Lengen durch den Zwischenruf nicht irritieren, wiederholte, ohne darauf einzugehen, seinen begonnenen Satz und fuhr dann fort, „anfangs mit hohen Gewinnen, zuletzt mit beängstigenden Verlusten. Und ich sage bewusst – wir alle, weil auch ich erhebliche Einbußen hatte. Wir sitzen also im selben Boot.“
„Was sagst du da?“, entrüstete sich der Bürgermeister und jeder konnte ihm ansehen, was er von Lengens Beteuerungen hielt. „Du willst uns allen Ernstes erzählen, dass auch du über den Tisch gezogen wurdest. Du glaubst doch nicht, dass dir das irgendjemand hier im Raum abnimmt. Für wie naiv hältst du uns eigentlich? Du warst es doch, der uns, mehr noch als Klaus, ein ums andere Mal weismachen wollte, dass unsere Geldanlage risikolos sei.
Selbst als die Immobilienblase in den USA schon geplatzt war und der Zusammenbruch der Lehmann-Bank den internationalen Finanzskandal einleitete, bekamen wir von dir zu hören, dass es sich bei der Krise lediglich um eine vorübergehende Schwäche handele. Keiner von uns müsse sich Sorgen um sein Geld machen.“
„Wenn du mich mal ausreden ließest, könnte ich euch den Sachverhalt erläutern“, versuchte Lengen das Heft wieder in die Hand zu nehmen, wurde jedoch vom energischen Läuten seines Handys unterbrochen. „Hallo Albrecht. In Ordnung. Ich mache dir sofort auf.“ Mit einem ‚Einen Moment bitte’ entfernte er sich, um zwei Minuten später mit dem Chorleiter zurückzukehren. „Tut mir leid, die Chorprobe hat länger gedauert“, entschuldigte sich Albrecht für seine Verspätung.
„Wir haben eben festgestellt, dass Klaus uns über die Risiken seiner Geldanlagen im Unklaren ließ. Zuletzt ging es um die Frage, wieweit ich in seine Geschäfte involviert war, und sie unterstützte“, setzte Lengen den Chorleiter ins Bild, ehe er mit seiner Stellungnahme fortfuhr.
„Ich gebe zu, dass ich mich von Klaus zu sehr beeinflussen ließ und meine Einschätzung der Entwicklung am Immobilien- und Finanzmarkt nicht in vollem Umfang der Realität entsprach. Genau wie ihr habe ich mich, gestützt auf unvollständige Unterlagen und Fehlinformationen, von den anfänglichen Gewinnen blenden lassen, und obwohl ich es als Finanzfachmann hätte besser wissen müssen, gelang es Klaus, meine vorgetragenen Bedenken zu zerstreuen. Er hat mit voller Absicht nicht nur Euch, sondern auch mich getäuscht.“
Lengen ließ die seinen Worten folgende Stille einen Moment wirken und unterbreitete dann in das einsetzende Raunen hinein seinen Vorschlag. „Wir können Klaus nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Was wir aber können: Wir können die Resignation beiseite schieben und neue, Erfolg versprechende finanzpolitische Wege beschreiten. Deshalb unterbreite ich euch folgendes Angebot:
Alle finanziellen Transaktionen, die Klaus für euch tätigte, übernehme ich. Ihr habt mein Versprechen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, uns wieder in die Gewinnzone zu bringen. Zukünftige Investitionen werde ich so tätigen, dass sie krisensicher sind.
Einen Teil lege ich zu den zurzeit marktüblichen Zinsen an und den Rest investiere ich mit deutlich höherer Rendite in andere marktflexiblere Formen.“
‚War das nun ausgemachte Chuzpe oder meinte dieses Schlitzohr das wirklich ehrlich?’, fragte sich Georg Dähler und laut sagte er, als sich die Spannung allmählich löste: „Ist das nicht ein bisschen billig, das Finanzdesaster Klaus allein anzulasten, denn der kann sich ja nicht mehr wehren?“
„Es mag so aussehen. Aber ich versichere euch, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Hätte ich Kenntnis vom Ausmaß der riskanten Spekulationen gehabt, hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, euer Geld zu retten. Das müsst Ihr mir glauben.“ Die Intonation mit Starkton auf ‚Ausmaß’, auf ‚Himmel und Hölle’ und auf ‚euer’ sowie der Gesichtsausdruck des ehrlichen Maklers unterstrichen eindrucksvoll seine Worte und verfehlten ihre Wirkung nicht.
Ein Blick in die Gesichter seiner Zuhörer bewies Lengen, dass er gewonnen hatte. Das aufkommende Glücksgefühl mit Gewalt unterdrückend, schaute er nacheinander jeden in der Runde aufmunternd an, sich zu seinem Vorschlag zu äußern.
David Zelter fasste sich als erster und durchbrach die Mauer des betretenen Schweigens, das den Raum ausfüllte. „Alles, was recht ist, die Überraschung ist dir gelungen! Ich möchte dir nur zu gerne glauben. Immerhin habe ich eine ganze Menge Geld in mein Observatorium gesteckt und das Segeln ist auch nicht billig. In meiner Situation, bei meinem Gehalt, kann ich mir einfach keine Pleite mehr leisten. Wer sagt uns also, dass wir nicht vom Regen in die Traufe kommen, sollten wir auf dein Angebot eingehen?“
„Richtig, und deshalb gibt’s von mir auch keinen Cent mehr. Ich habe weiß Gott keine Lust, noch mehr Geld zu verlieren“, schimpfte der Metzger mit hochrotem Kopf. „Ich weiß jetzt schon nicht, wie ich die Verluste meiner Frau erklären soll.“ Kaum verhohlenes Grinsen begegnete ihm, denn im Dorf war es ein offenes Geheimnis, wer im Hause Kessler die Hosen anhatte.
„Ich bin der gleichen Ansicht wie David. Was du sagst, hört sich nicht schlecht an. Aber welche Garantien bietest du uns? Das musst du doch verstehen. Versetze dich in unsere Lage. Wir brauchen Sicherheiten, um nicht noch einmal in einen solchen Schlamassel zu rutschen“, unterstützte Georg Dähler seinen Freund Zelter.
„Eure Skepsis ist nur zu verständlich, aber glaubt mir, sie ist vollkommen unbegründet. Ihr könnt euch vorstellen, dass auch ich unter gar keinen Umständen mehr in eine so prekäre Lage kommen möchte. Deshalb betone ich noch einmal, nur Transaktionen ins Auge zu fassen, die größtmögliche Sicherheit bieten. Ich wiederhole: größtmögliche Sicherheit. Das heißt, einen Teil des Geldes in sichere Anlagen wie Tagesgeld, Festgeld, Sparbriefe, usw. und den Rest in offenen Fonds oder ähnlichen Anlageformen, die eine hundertprozentige Einlagensicherung gewährleisten. Sollte jemand risikoreichere Anlageformen wünschen, um eine höhere Rendite zu erzielen, kann er jederzeit mit mir reden.“ Er blickte kurz in die Runde und schloss dann: „Ich hoffe, dass ich euch überzeugen konnte und eure Zusagen erhalte.“
Ein breites Nicken bestätigte ihm, die letzten Vorbehalte ausgeräumt zu haben und Albrecht unterstrich noch einmal, wie sehr ihn die Argumentation überzeugt hatte.
„Ich für meinen Teil, der wenig von finanziellen Dingen versteht, bin jetzt beruhigt und glaube, dass mein Geld bei dir in guten Händen ist. Mein Einverständnis hast du.“
„Albrecht, ich danke dir für dein Vertrauen. Was meinen die anderen?“, fragte Lengen siegessicher und Heidi Weißkirch, Gregor Dähler und David Zelter bestätigten noch einmal, dass er sie überzeugt habe. Lediglich Wilfried Kessler blieb bei seiner ablehnenden Haltung.
„Mich hast du nicht überzeugt und deshalb werde ich mich nicht mehr an diesem Geschäft beteiligen. Das geht nicht gegen dich, Walter, aber ich habe einfach zu viel Geld verloren, das ich für die Renovierung meines Geschäftes dringend benötigt hätte.“
„Ich respektiere selbstverständlich deine Entscheidung, Wilfried. Schlafe noch mal darüber. Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders. In diesem Fall weißt du ja, wo ich zu finden bin“, verbarg Lengen hinter einem verbindlichen Lächeln seinen Ärger über die Ablehnung. „Dann wären wir uns einig“, schloss er die Zusammenkunft. „In den nächsten Tagen werde ich mich bei euch melden. Ich bedanke mich für euer Kommen und wünsche euch eine gute Heimfahrt.“
Endlich war er alleine und konnte seinen Erfolg genießen. Er goss einen Cognacschwenker randvoll, nahm einen großen Schluck und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er hatte es geschafft. Na ja, – beinahe.
„Und? Wie ist es gelaufen?“, wollte die Stimme am Telefon wissen. „Glänzend! Ein Sieg auf ganzer Linie. Sie waren Wachs in meinen Händen. Das Gespräch verlief genauso, wie ich es geplant hatte. Nur ...“, zögerte Lengen einen Moment.
„Nur ...?“, wiederholte die Telefonstimme und ihrem drohenden Unterton entnahm man, dass sie keine Einschränkungen duldete.
„Nur einer …“, machte der Sparkassenleiter noch einmal eine Sprechpause, sog unüberhörbar die Luft ein und versuchte seiner Stimme Festigkeit zu verleihen, um seine Verlegenheit zu überspielen.
„Ja, ich höre?“, nahm die Stimme seines Gegenübers noch an Schärfe zu.
„Nur einer …“, nestelte Lengen mit einer fahrigen Bewegung nach seinem Taschentuch, um die auf seiner Stirn erscheinenden Schweißperlen abzutupfen. ,Wilfried Kessler, der Metzger, machte unerwartete Schwierigkeiten und tanzte aus der Reihe. Da halfen auch all meine Überredungskünste nichts. Dieser sture Esel ließ sich einfach nicht von seiner starrsinnigen Haltung abbringen. Dem müsste man eine Lektion erteilen, um ihn wieder auf Kurs zu bringen.“
„Verstehe“, kam die sachliche Antwort. „Das werden wir übernehmen“, und mit unverkennbarem Ärger fügte die Stimme hinzu: „Versuchen Sie nicht noch einmal, mir einen allenfalls halben Sieg als gewonnene Schlacht zu verkaufen. Verarschen kann ich mich selbst. In unserem Geschäft gibt es auch ohne ihr Geschwätz schon genug Schwierigkeiten. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. In Zukunft keine Fehler mehr!“
Das Gespräch war beendet. Lengens Schweißperlen wurden nicht weniger und dokumentierten mit der einsetzenden Gesichtsröte den beängstigenden Grad seiner wachsenden Besorgnis. Mit dem unangenehmen Gefühl, einen Pyrrhussieg errungen zu haben, rief er nach seiner Sekretärin.
*
Peter holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, legte sich auf die Couch und hörte gelangweilt den Anrufbeantworter ab. Im Gegensatz zu gestern bot er heute eine ungeahnte Fülle überflüssiger Nachrichten an, die nur darauf warteten, gelöscht zu werden. Zwei Meldungen ließen ihn aufhorchen. Zum einen hatte Bernd die Telefonnummer der Kanzlei Reuter durchgegeben und zum anderen teilte ihm Claire mit, dass sie am Samstag gegen neun Jean-Pierre bringe. Die Freude, seinen Sohn wiederzusehen, wurde noch durch den ungewöhnlichen Umstand verstärkt, dass die Meldung seiner Frau entgegen aller Erfahrung keinerlei Beschimpfungen enthielt. Er runzelte verwundert die Stirn und konnte sich ein bissiges Grinsen nicht verkneifen. Sollte Claire ernsthaft erkrankt sein? Sie litt doch hoffentlich nicht an partieller Amnesie. Kaum auszudenken, wenn das jetzt bei ihr Schule machte und sie zukünftig alle Gehässigkeiten unterließe. Er musste zugeben, dass ihn der Gedanke daran doch einigermaßen verunsicherte und er keine Vorstellung hatte, wie er darauf reagieren sollte. Vor seinem geistigen Auge sah er schon das subtile Geflecht ihrer über etliche Ehejahre dicht gesponnenen Nickeligkeiten und Bosheiten zerreißen. Mit dem Gedanken an den lieb gewonnenen Krieg schlief er schmunzelnd ein.