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„Katharina, heute Morgen keine Anrufe, kein Fax, keine E-Mail und vor allem keinen Vorgesetzten! Alles klar?“, herrschte Kriminalhauptkommissar Peter Landstuhl seine Assistentin an. Schlecht gelaunt, völlig übermüdet, unrasiert und mit unübersehbaren Ringen um die geröteten Augen räkelte er sich auf seinem Drehstuhl. Der ständigen Gefahr ausgesetzt einzuschlafen, dachte er an den vergangenen Abend.

Gegen sieben rief seine geschiedene Frau an, um ihm mitzuteilen, dass sie das alleinige Sorgerecht für Jean-Pierre, ihren gemeinsamen Sohn, beantragt habe. Er erhalte schon morgen das Schreiben ihres Anwalts. Der Anruf ging einher mit den üblichen Beschimpfungen. ‚Peter, glaube ja nicht, dass ich mich erweichen lasse. Du mit deinem verqueren Frauenbild bist bindungsunwillig, ein psychischer Krüppel und vollkommen unfähig, ein Kind zu erziehen.’

Claire, bei Paris geborene Französin mit deutscher Mutter, geriet mehr und mehr in Wut. Ihre Stimme, kurz davor, sich zu überschlagen, reichte beängstigend nahe an die Tonhöhe eines Falsetts heran. Peter, dem dieser Zustand nur allzu vertraut war, machte erst gar keinen Versuch, sie zu unterbrechen, weil er genau wusste, dass das vollkommen zwecklos war. Wenn sie sich so in Rage geredet hatte, war sie keinem auch noch so überzeugenden Argument mehr zugänglich.

Kennengelernt hatten sie sich im sommerlichen Bonn. Sie studierte Deutsch und Französisch fürs gymnasiale Lehramt und er besuchte die Polizeischule. Sie flanierte in der Innenstadt. Er starrte auf ihre langen, wohlgeformten Beine, die der gürtelbreite Mini freigab. Sie stolperte über einen hervorstehenden Pflasterstein und drohte zu stürzen. Er hielt sie davon ab und sie genossen ihren ersten gemeinsamen Kaffee. Sie war angetan von seinem männlichen Aussehen, er konnte sich nicht satt genug sehen an ihrem schulterlangen brünetten Haar, ihrem ebenmäßigen Gesicht und ihren Brüsten, die das Top nur notdürftig verbarg. Wenige Monate danach war sie schwanger. Sie heirateten und bezogen eine Wohnung am Bonner Nordrand.

Vor fünf Jahren war er auf seinen Wunsch hin nach Bonn-Beuel zur Mordkommission versetzt worden. Er kam vom Betrugsdezernat und hatte dieses langweilige Leben, das sich überwiegend am Schreibtisch abspielte, einfach satt. Tagtäglich kleine Betrügereien aufzunehmen, war einfach nicht sein Ding.

Allerdings allzu Aufregendes war hier bisher auch noch nicht passiert. Es fehlte einfach das Salz in der Suppe, der spektakuläre Mordfall, der die Monotonie seines beruflichen Alltags unterbrechen könnte.

Seit der Scheidung vor einem Jahr lebte er in Bonn-Beuel in einer kleinen Mansardenwohnung. Gerade glaubte er, die Trennung überwunden zu haben, die Erinnerung an die unschönen Seiten ihrer Beziehung schien zu verblassen – und dann das! Sie wollte ihm allen Ernstes das Kind wegnehmen. Ihm blieb keine Wahl, er musste dringend einen Anwalt einschalten.

Nach endlos langen Sekunden hatte er von ihren Tiraden genug und legte einfach auf, obwohl er genau wusste, dass sie das nur noch wütender machte. Keine zwei Minuten und das Telefon würde wieder läuten. Hastig nahm er seine Jacke und verließ die Wohnung in Richtung Stammkneipe.

Sonntagabend war Kollegenstammtisch angesagt und als er ‚Guidos Pinte‘, ihre Stammkneipe, gegen acht betrat, saßen die anderen schon am Tisch: Dr. Bernd Penter, Pathologe am rechtsmedizinischen Institut der Universität Bonn, Heimatforscher und Hobby-Astronom; Klaus Rich, der Leiter der Spurensicherung, leidenschaftlicher Segler; Mark Diestel, ein Kollege vom Dezernat für Schwerkriminalität, und wie Philipp Rossbacher, in dessen Zuständigkeit die Eigentumsdelikte fielen, glücklich verheiratet.

„Dein Auto steht gar nicht draußen. Hat dich jemand mitgenommen?“, wandte sich Peter an Bernd, nachdem er alle begrüßt hatte.

„Meinen Porsche habe ich verkauft. Er war einfach zu teuer im Unterhalt. Ich sage dir, die Scheidung frisst mich noch auf. Außerdem brauchte ich, seit meine Mutter durch den Schlaganfall im Rollstuhl sitzt, ein Fahrzeug, das Raum bietet. Hast du den schwarzen Mercedes-Kombi vor der Tür gesehen? Den fahre ich jetzt: Gebrauchtwagen, sechs Jahre alt, hundertzwanzigtausend gelaufen. Der ist doch erheblich preiswerter und in geradezu idealerweise für Rollstuhlfahrer geeignet. Darin kann ich meine Mutter samt Rollstuhl problemlos transportieren.“

Wie immer wurde viel getrunken, häufig zu viel, und wie immer drehten sich ihre Gespräche um die gleichen Themen: Sport, Arbeit, Familie, Politik und Frauen. Als Peter nach fünf Bieren und zwei Schnäpsen seiner Wut über Claires Gemeinheit freien Lauf ließ, meinte Bernd, dass er dringend einen erfahrenen Anwalt brauche.

„Ich gebe dir die Nummer von Dr. Reuter, meinem Scheidungsanwalt. Er gilt als Koryphäe auf dem Gebiet des Familien- und Scheidungsrechts. Da bist du hervorragend aufgehoben.“

Während Klaus, Marc und Philipp regelmäßig gegen zehn aufbrachen, blieben er und Bernd meist erheblich länger. Heute jedoch verabschiedete sich auch der Pathologe, und mit dem Hinweis, morgen einen schweren Tag zu haben, verließ er ganz gegen seine Gewohnheit mit den anderen das Lokal. Da Peter noch keine Lust hatte, so früh nach Hause zu gehen, um unter Umständen in einem zweiten Gespräch den Beschimpfungen seiner Exfrau ausgesetzt zu sein, entschied er sich, das ‚Palais‘, einen Edelpuff ganz in der Nähe, aufzusuchen. Seit Monaten hatte er mit niemandem geschlafen und hier bot sich ihm die Gelegenheit, wieder mal mit Désirée, der attraktivsten Hure des Hauses, eine heiße Nacht zu verbringen.

Ohne jede Rücksicht durchschnitt das hässliche Schrillen des Telefons die wohltuende Stille. Katharina Rudzinska nahm schnell den Hörer ab, meldete sich, hörte einen Moment konzentriert zu und schrie dann: „Chef, Cheeef, wir bekommen Arbeit!“ Obwohl sie per du waren, nannte sie ihn des Öfteren „Chef“.

Es dauerte eine Weile, bis er sich von Désirées wundervollen Brüsten lösen konnte und sich gedanklich wieder in ihrem nüchternen, unpersönlichen Büro befand, das mit seinen zwei Schreibtischen und deren üblichen Utensilien, den obligaten Rechnern sowie einer Wandtafel und einer Karte von Bonn und Umgebung das anheimelnde Flair einer Bahnhofsvorhalle ausstrahlte. „Verdammt noch mal, ich habe dir doch gesagt, dass ich unter gar keinen Umständen gestört werden möchte. Und montags kann ich sowieso erst ab Mittag arbeiten“, mühte er sich redlich um ein nachhaltiges Zurück in die Realität.

Sein ungehaltener Ton störte sie nicht im Geringsten. Nachdem sie schon drei Monate in der Abteilung war, kannte sie Peter sehr genau und wusste nur allzu gut, dass er das gar nicht so meinte. Sie ließ sich zwar nichts anmerken, aber er gefiel ihr – trotz seiner achtunddreißig Jahre. Er sah blendend aus – außer montags natürlich, lächelte sie in sich hinein –, war knapp 1,90 m groß, hatte mittellange blonde, leicht gewellte Haare, ein kerniges Gesicht mit klugen blauen Augen, die durch ihre Lachfältchen dezent betont wurden, eine scharfkantige Nase und einen graumelierten Drei-Tage-Bart. Dazu trug er gewohnheitsmäßig salopp-lässige Kleidung, meist Jeans, T-Shirt, Pulli und Lederjacke. Alles in allem weder Softie noch Macho, ein Mann, der wusste, was er wollte und der ihren Vorstellungen von Männern durchaus nahe kam, zudem ein guter Polizist mit einem scharfen, analytischen Verstand. Sehr zu ihrem Ärgernis hatte er sie allerdings bisher als Frau kaum wahrgenommen, obwohl auch sie sich sehen lassen konnte: Schulterlanges brünettes Haar, das im Dienst meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit vollen weich geschwungenen Lippen, einer schlanken Nase und rauchquarzbraunen Augen mit feinen natürlich ziselierten Brauen. Selbst in Uniform, in der ihre sportlich schlanke Figur kaum zur Geltung kam, übte sie eine starke Anziehung auf Männer aus.

„Wer saufen kann, kann auch arbeiten!“, meinte sie zuckersüß. Und dann ernster: „Der Dezernatsleiter war am Telefon. Eine männliche Leiche in der Kapelle in Pleiserhohn, einem Ortsteil von Oberpleis. Er hat uns den Fall übertragen. Die Spurensicherung ist schon vor Ort.“

„Wo? In einer Kapelle? Nehmen denn die Mörder von heute auf nichts mehr Rücksicht, nicht einmal mehr auf die Mutter Kirche?“, flachste er mit gespielter Entrüstung, während er sich mit der linken Hand durch die Haare fuhr. Dann sprang er auf, schnappte sich seine Jacke und rief im Hinauslaufen: „Los, komm! Endlich haben wir mal wieder ’ne Leiche!“ Er war so schnell draußen, dass sie kaum folgen konnte.

„Wir wären besser über Pützchen gefahren, anstatt uns über Niederdollendorf zu quälen“, schimpfte der Kommissar, als sie dank des Navigationsgerätes erst nach gut vierzig Minuten die St.-Anna-Kapelle, ein schmuckes, zweifarbig gestrichenes, schiefergedecktes Gotteshaus mit einem offenen Glockentürmchen, im Ortsteil Pleiserhohn erreichten.

Inzwischen hatte die örtliche Polizei den Tatort weiträumig abgeriegelt und die Kollegen von der Spurensicherung, wie der Fahrzeugpark auf dem Platz neben der Kapelle bewies, waren schon bei der Arbeit.

Sie bahnten sich mithilfe ihrer Ausweise einen Weg durch die schnatternden Menschen, die sich auf dem Vorplatz eingefunden hatten, und betraten den Innenraum. Das Halbdunkel ließ sie erst einmal blinzeln, bis sie die bizarre Szene, die sich ihnen bot, vollständig erfassen konnten. Unter den vorwurfsvollen Augen der Heiligen Anna, der Patronin der Kapelle, war auf der obersten Altarstufe in einer dunkelrot schimmernden Blutlache eine Leiche ohne Kopf abgelegt. Ihr Oberkörper lehnte halb aufrecht am Altarsockel und schien sich, um nicht umzufallen, mit Schulter und linkem Oberarm an der Altarwand abzustützen. Die Füße der angewinkelten Beine trugen ihrerseits eine Stufe tiefer zur Festigung des Oberkörpers bei. Während der rechte Arm lose am Körper herabhing, ruhte der linke Unterarm, umschlungen von einem Rosenkranz mit unscheinbarem braunem Holzkreuz, auf dem linken Oberschenkel, in der Hand ein Stück Karton mit der Aufschrift ‚mea culpa‘.

Oberhalb der Leiche thronte auf dem Altartisch der von einer dunklen Kapuze nur spärlich verhüllte Kopf und streckte respektlos jedem Betrachter seine überdimensionale Zunge heraus. Zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen, wenn man die an der Altarfront geronnene, einer Halbellipse ähnelnde Blutlache und den verhüllten Kopf darüber als Einheit betrachtete.

„Kein schöner Anblick, was?“, kam Bernd Penter auf Katharina zu, die sichtlich um Fassung rang und tapfer ihren Würgereiz unterdrückte. „Er hätte sich ja wenigstens in einem Stück präsentieren können.“ Sie antwortete nicht. Der Pathologe war ihr unsympathisch, nicht wegen seines Aussehens. Er war ein durchaus ansehnlicher Mann irgendwo in den Vierzigern, nur unwesentlich kleiner als Peter, sportliche Figur, mit Silberfäden durchzogene kurze pechschwarze Haare, dunkelbraune Augen, leichte Hakennase, gepflegter Oberlippenbart, energisches Kinn. Nein, sie mochte seine Art nicht und fand seine medizinertypischen Witze geschmacklos.

„Lass Katharina in Ruhe. Das ist ihre erste Leiche – und dann gleich ein solches Bild. Kein Wunder, dass sie um Fassung ringt“, mischte sich Peter ein, der sofort erkannt hatte, wie betroffen seine Assistentin war. „Kannst du uns schon Genaueres sagen?“, kam er schnell zur Sache. Knapp und präzise erfolgte die Antwort: „Todeszeitpunkt gestern Abend, irgendwann zwischen zweiundzwanzig und zwei Uhr; der Kopf wurde mit einem Beil oder etwas Ähnlichem abgetrennt; absolut dilettantisch ausgeführt, wohl keine medizinischen Kenntnisse; nach der Art der Ausführung Täter eher männlich; am Körper keine weiteren Verletzungen ersichtlich. Den Kopf konnte ich bisher nicht inspizieren, da die Spurensicherung mit ihrer Arbeit noch nicht fertig war. Den können wir uns nun gemeinsam ansehen.“

„Mach du das mal allein. Wir reden mit den Kollegen“, lehnte der Kommissar ab und ging mit Katharina zu Klaus Rich, dem Leiter der Spurensicherung.

„Habt ihr schon was gefunden, Klaus?“

„Meine Leute tun, was sie können. Bisher ist allerdings noch nicht viel dabei herausgekommen. Keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Leiche, Schild, Rosenkranz und Kopf sind – soweit wir das bis jetzt beurteilen können – völlig clean. Lediglich an den Bänken gibt es Spuren, aber die sind wohl eher von Besuchern, denn die Kapelle ist ganzjährig geöffnet.“

„Keine äußeren Verletzungen außer einer gehörigen Beule mit einem unübersehbaren Hämatom am Hinterkopf“, rief der Pathologe vom Altar, „hervorgerufen durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, einem mit Stoff umwickelten Rohr oder etwas Ähnlichem.“

„Könnte die Beule nicht auch durch einen Sturz verursacht worden sein?“, fragte Katharina, deren Gesicht allmählich wieder Farbe bekam.

„Sicherlich auch möglich“, räumte der Pathologe ein. „Aber bei einem Sturz wäre wohl eine Platzwunde entstanden. Wie es im Augenblick aussieht, wurde das Opfer durch einen Schlag auf den Kopf betäubt und anschließend erdrosselt. Das belegen die geringen Abschürfungen und Hämatome am Hals. Welchen Sinn dann noch die Enthauptung machte, erschließt sich mir nicht. Nach der Obduktion wissen wir mehr.“

„Kann mir jemand sagen, wer die Leiche gefunden hat?“, schaute Peter in die Runde, während Katharina den Toten fotografierte. „Ja, eine ältere Dame, Frau Rheinbach, Waltraud Rheinbach“, rief einer aus dem Team, „Sie wohnt nur ein paar Häuser weiter, gießt regelmäßig die Blumen in der Kapelle und fand heute Morgen gegen zehn den Toten. Die bedauernswerte Frau steht so unter Schock, dass sie kaum zu verstehen war. Sie ist jetzt zu Hause und wird von einer Nachbarin betreut. Ich glaube kaum, dass sie zurzeit vernehmungsfähig ist.“

„Also gut, dann werden wir später mit ihr reden. Weiß man schon, wer der Tote ist?“

„Wie wir seinen Papieren entnehmen konnten, handelt es sich um Klaus Greber, der gar nicht weit von hier mit Frau und Tochter wohnt.“

„Komm Katharina, dann suchen wir jetzt die Familie auf. Für uns gibt es hier ja nichts mehr zu tun. Legt mir doch bitte Schild, Kreuz und Kapuze, wenn eure Untersuchungen abgeschlossen sind, in mein Büro“, rief er noch über die Schulter, als sie die Kapelle verließen.

Draußen war kaum noch ein Durchkommen durch die ständig wachsende Ansammlung Neugieriger. Der Kommissar zückte seinen Ausweis und sprach eine ältere Frau an, die direkt an der Absperrung stand, ob sie wisse, wo Familie Greber wohne. „Klaus Greber? Das weiß hier im Ort doch jeder. Die Grebers wohnen die Straße runter auf der rechten Seite. Das Haus ist so auffällig, dass Sie es nicht verfehlen können.“

„Übernimmst du das Gespräch? Du weißt, wie ungern ich das mache. Ich denke, du gehst da wesentlich einfühlsamer vor“, schob Peter die unangenehme Aufgabe, bevor sie das Anwesen erreichten, seiner Assistentin zu. Eine Minute später standen sie staunend vor einer weitläufigen Gartenanlage mit einer burgähnlichen, reichlich stillosen und protzigen Villa. „Schröders Agenda 2010 ist hier überflüssig; keine Hartz-IV-Empfänger“, bemerkte Peter sarkastisch. Katharina betätigte den Klingelknopf. Nichts rührte sich. Sie klingelte ein zweites Mal, dieses Mal energischer, anhaltender – nichts rührte sich. „Wohl niemand zu Hause“, drehte sie sich zu Peter um. „Lass uns zum Büro fahren. Wir versuchen es später noch mal.“

*

Die Fahrt zur Dienststelle verlief vollkommen schweigend. Bis sie das Kommissariat erreichten, hing jeder seinen Gedanken nach. Während Katharina ins Büro ging, informierte Peter in aller Kürze Herrn Petry, seinen Chef, einen im Großen und Ganzen recht umgänglichen Menschen, der sich gemeinhin keiner vernünftigen Argumentation verschloss. Sie hatten beide etwa zur gleichen Zeit ihren Dienst bei der Mordkommission aufgenommen und im Laufe der Jahre die Fachkompetenz des jeweils anderen schätzen gelernt. Dabei zeigte sich der mit seinem scheitellosen Kurzhaarschnitt, den tief in den Höhlen liegenden fast schwarzen Augen, der schlanken scharf konturierten Nase und dem länglichen Gesicht asketisch wirkende Endvierziger stets als fairer und verständnisvoller Vorgesetzter.

„Es handelt sich“, fasste Peter die Geschehnisse in aller Kürze zusammen, „um eine enthauptete männliche Leiche, die auf den Stufen vor dem Altar der Kapelle lag. Um den linken Unterarm war ein Rosenkranz mit einem schlichten Holzkreuz geschlungen und die Hand hielt ein einfaches Pappschild mit der Aufschrift „mea culpa“. Den Kopf, der vermutlich mit einem Beil, einem großen Messer oder etwas Ähnlichem abgetrennt wurde, hatte der Täter mit einer schwarzen Kapuze überzogen auf dem Altar trapiert.

Auf die Schnelle konnte die Spurensicherung keine verwertbaren Spuren, weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren, entdecken. Die Person ist identifiziert: Klaus Greber, ein wohlhabender Ortsansässiger. Das ist zunächst alles, was wir wissen. Seine Familie konnten wir noch nicht informieren, weil uns niemand öffnete. Wir werden aber heute Nachmittag noch einmal nach Oberpleis fahren, um die Angehörigen aufzusuchen und zu befragen. Außerdem schauen wir uns das gesamte Umfeld dieses Mannes an.“

„Waren schon Presseleute vor Ort?“, sorgte sich der Dezernatsleiter.

„Möglich“, meinte der Kommissar achselzuckend. „Wir wurden zwar von niemandem angesprochen, aber eine solche Sensation verbreitet sich doch wie ein Lauffeuer und folglich bekommt auch die Presse Wind davon.“

„Allzu lange wird das Rudel sicher nicht auf sich warten lassen.“, nickte der Chef zustimmend. „Sehen Sie zu, dass Sie mir in den nächsten Tagen wenigstens etwas geben können, dass ich der Meute zum Fraß vorwerfen kann. Haben Sie schon eine Vorstellung, was dahinter stecken könnte?“

„Nein, ich habe noch keinen blassen Schimmer“, wunderte sich Peter über diese völlig überflüssige Frage, „dazu ist die Faktenlage noch viel zu dünn. Ich hoffe, dass wir mehr wissen, wenn wir mit der Familie gesprochen und uns im Ort umgehört haben.“

„Herr Landstuhl, setzen Sie um Himmels willen alles daran, diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären“, beschwor ihn sein Chef, „ und halten Sie mich auf dem Laufenden. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Wellen ein solch ungewöhnlicher Mord schlagen wird – insbesondere hier bei uns in der Provinz. Die Boulevardpresse wird jedes Detail genüsslich ausschlachten und wie Traubenmaische breittreten. Ich sehe die Aufmacher schon vor mir: ‚Ritualmord in Oberpleis? – Die Polizei steht vor einem Rätsel’ oder ‚Mafia-Mord in Oberpleis? – Die Polizei tappt im Dunkeln’

oder ... Sie werden gewiss mit mir einer Meinung sein, dass es nicht in unserem Interesse sein kann, ständig negative Schlagzeilen zu produzieren. Also setzen Sie ihre ganze Kraft in die Verfolgung dieses Falles. Sie erhalten von mir jede Unterstützung, die Sie benötigen. Ich rede mit dem Staatsanwalt und Sie leiten ab jetzt die SOKO ‚Kapelle‘.“

Der Kommissar bedankte sich höflich für die zugesagte Hilfe und verabschiedete sich. Wohl wissend, dass die sprichwörtliche Personalknappheit bei der Polizei dieser Zusage enge Grenzen setzte. „Es wird wohl mal wieder“, machte er sich auf dem Weg zum Büro so seine Gedanken, „ – wie so häufig – darauf hinauslaufen, dass Katharina und ich die Arbeit weitgehend alleine bewältigen müssen.“

Als er das Zimmer betrat, stand Katharina nachdenklich vor der Wandtafel, die sie in der Zwischenzeit fein säuberlich in die Spalten Fakten, Vermutungen und ‚Was ist zu tun?‘ aufgeteilt hatte, und betrachtete ihre Notizen.

Fakten: Männliche Leiche; dilettantisch enthauptet; mit einem Beil, schwerem Messer (Machete) oder Ähnlichem; abgetrennter Kopf mit Maske auf Altar trapiert; Rosenkranz mit braunem Holzkreuz und Pappschild mit der Aufschrift „mea culpa“ in der linken Hand; noch keine verwertbaren Spuren; weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren; Person identifiziert; wohnhaft im Ort; Familie noch nicht informiert; bisher keine Vernehmungen

Vermutungen: Ritualmord?

Was ist zu tun? Familie informieren und vernehmen; Umfeld befragen

„Ich habe mich während deiner Abwesenheit schon mal nützlich gemacht“, wies Katharina auf ihre Aufstellung hin und stellte erst jetzt verwundert fest, dass Peter immer noch lächelte.

„Der Chef hat mal wieder auf den Putz gehauen. Wie üblich macht ihm bei einem so ungewöhnlichen Fall die Presse Sorgen. Und er hat uns – wie nicht anders zu erwarten – seine Unterstützung zugesagt. Was bisher immer hieß, dass wir erst mal auf uns allein gestellt sind“, grinste Peter und sah nun erst zur Tafel.

„Respekt, Katharina, gute Arbeit“, meinte er anerkennend, ließ sich in seinen Stuhl fallen, schlug die Beine auf dem Schreibtisch übereinander, überflog mit baumelnden Armen die Aufzeichnungen und fragte sich stirnrunzelnd, was noch fehlt.

„Mir ist nichts mehr eingefallen. Sicher hast du noch Ergänzungen“, forderte ihn Katharina auf, die Notizen zu vervollständigen.

„Erinnerst du dich, dass Bernd Penter erwähnte, der Täter habe höchstwahrscheinlich keine medizinischen Kenntnisse, da der Kopf, wie die Wundränder belegen, vollkommen unsachgemäß abgetrennt wurde?“

Er hatte den Satz noch nicht vollendet, da fügte seine Assistentin zur Rubrik Fakten „Täter keine medizinischen Kenntnisse“ hinzu. „Wieso unter ‚Fakten’? Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass der Mörder keinerlei medizinische Kenntnisse besitzt, so haben wir für diese These bisher zumindest keine hundertprozentige Gewissheit. Folglich...“ Er brauchte gar nicht weiter zu reden. Katharina hielt ihn zwar in diesem Fall für ziemlich kleinlich, änderte aber kommentarlos ihren Eintrag und nun stand unter „Ritualmord“ „Täter keine medizinischen Kenntnisse“.

„Kommen wir zu den Vermutungen. Auf ‚Ritualmord’ und ‚Mafia-Mord’ spielte der Chef an, als er sich Gedanken über die möglichen Presseveröffentlichungen machte. Wenn wir den Drogenbereich dazurechnen, käme eine nicht unübliche Abrechnung im Milieu etwa aus Rache in Frage.“ An der Tafel erschienen die Begriffe ‚Mafia-Mord’, Mord im Drogenmilieu’, ‚Abrechnung’ und ‚Rache’.

„Ritualmord war mein erster Gedanke. Aber Mafia?“, runzelte Katharina die Stirn. „Und wenn ja - welche? Wie denkst du darüber? Die Mafia hier im Bereich Westerwald-Siegerland? Nein, kann ich mir nicht vorstellen“, schaute sie Peter zweifelnd an.

„Ganz so abwegig ist der Gedanke nicht. Wir wissen sehr genau, dass die Mafia bürgerliche Wohngegenden im Nahbereich der Großstädte als Rückzugs- und Operationsgebiet nutzt. Sind es um Frankfurt bevorzugt Taunus, Spessart und Odenwald, so werden hier im Köln-Bonner Raum Eifel, Westerwald, Siegerland, Bergisches Land und das Sauerland präferiert. Bei uns in Nordrhein-Westfalen unterhält vor allem die ’Ndrangheta, die kalabrische Mafia, feste Stützpunkte. Deren Mitglieder treten als Biedermänner auf, führen ein normales bürgerliches Leben und gehen gleichzeitig ihren schmutzigen Geschäften nach. Dabei achten sie sehr genau auf ihre Vorgehensweise und sind peinlich darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen, um möglichst ungestört arbeiten zu können. Ein so spektakulärer Mord wie unserer würde die Geschäfte erheblich stören und passt sicher nicht ins Konzept dieser Organisation.

Es kommt zwar ab und an vor, dass man gegen dieses Prinzip verstößt, wie etwa 2007, als in Duisburg durch ein Killerkommando der Mafia bei einem Anschlag auf ein italienisches Restaurant sechs Menschen starben. Aber das ist nicht die Regel.

Anders sieht es bei osteuropäischen Mafia-Organisationen aus. Die neigen eher dazu, durch rücksichtslose und äußerst brutale Aktionen Angst und Panik zu verbreiten. Also wenn es ein Mord aus Rache war, dann geht er wohl eher auf das Konto einer solchen Organisation“, stellte der Kommissar fest. „Und was die Drogengeschichte angeht – da müssen wir uns bei den Kollegen der Drogenfahndung schlaumachen.“

„Da der Platz auf der Tafel bei Weitem nicht ausreicht, fügen wir alles Weitere sukzessive hinzu, wenn du die Daten in den Rechner eingegeben hast“, sprang Peter von seinem Stuhl auf. „Jetzt habe ich Hunger und ich denke, es wird dir nicht anders ergehen. Deshalb schlage ich vor, dass wir in der Kantine essen und anschließend noch mal nach Oberpleis fahren.“

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