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ОглавлениеKlaus Greber war auf dem Nachhauseweg. Den Abend dieses letzten Novembersonntags hatte er wie fast jeden Sonntagabend in seiner Stammkneipe verbracht, Skat gespielt, verloren und acht Bier und zwei Klare in sich hineingeschüttet. Trotz seiner ausgeprägten Pechsträhne fühlte er sich rundum wohl.
Als Anlageberater und Immobilienmakler hatten er und Voller, sein Partner, mit sauberen, halbseidenen und auch unsauberen Geschäften zunächst im Umfeld von Bonn und in den letzten Jahren durch den globalisierten Boom zunehmend auch national und international viel Geld gemacht. Entwickelten sich in den Neunzigern die durch den Regierungsumzug bedingten Konversionen und Immobilienverkäufe für sie zu einer wahren Goldgrube, so warf nach dem Millenniumswechsel der Handel mit hochspekulativen Wertpapieren exorbitante Gewinne ab. Aller Unkenrufe zum Trotz wirkten sich die Krisen der Dekade für sie nur marginal aus. Selbst ihre faulen Griechenland-Optionen brachten sie frühzeitig gewinnbringend an den Mann. Bei dem Gedanken an seine ökonomische Cleverness musste er unwillkürlich grinsen.
Die teils erheblichen Verluste ihrer Klientel hatten ihn nie gerührt. In seinen Augen war sie selbst für ihr finanzielles Desaster verantwortlich. Wer sich für hochspekulative Anlagen entscheidet, muss auch verlieren können, war seine Philosophie. Natürlich hatte er den Teufel getan, die Risiken der abenteuerlichen Transaktionen umfassend zu erläutern. Eine solche Beratung hätte sich mit Sicherheit negativ aufs Geschäft ausgewirkt.
Zufrieden stellte er fest, dass er mit dem Beginn der Immobilien- und Finanzkrise einen guten
Zeitpunkt gewählt hatte, sich zur Ruhe zu setzen. ‚Ach was, einen guten..., einen hervorragenden Zeitpunkt’, schmunzelte er. Dass dieses Ausscheiden in den Ruhestand nicht ganz freiwillig geschah, hatte er inzwischen mit Erfolg verdrängt.
Nun, achtundfünfzigjährig, genoss er hier auf dem Land mit seiner Frau seine satte Saturiertheit. Nicht nur wegen ihres pompösen Anwesens galten sie im Dorf als außergewöhnlich wohlhabend. Während seine Frau kaum Kontakte pflegte, gewann er Freunde und nahm, wann immer sich eine Gelegenheit bot, am örtlichen Leben teil. Er gehörte diversen, von ihm finanziell unterstützten Vereinen an, spendete großzügig für karitative Zwecke, kandidierte als Mitglied einer Volkspartei für den Gemeinderat, besuchte regelmäßig die sonntägliche Messe, wobei er sich, stets einige Minuten zu spät kommend, regelmäßig in eine der vordersten Bankreihen begab, und sang im Kirchenchor. Kurzum, er war anerkannt, es ging ihm gut.
Als er an seine ‚Freunde’ dachte, konnte er sich ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen. Sie waren gar nicht zu bremsen, ihm ihr Geld anzuvertrauen: Wilfried, der schwergewichtige Metzger, der sich für einen cleveren Geschäftsmann hielt; Heidi, die bauernschlaue Wirtin vom Dorfkrug und die beiden heuchlerischen Wichtigtuer Gregor und David, die keine Skrupel kannten, mit Gemeindegeld zu spekulieren. Sie wollten das schnelle Geld und hatten ihn, obwohl sie wussten, dass er sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hatte, ständig bedrängt, für sie zu investieren. Solange die satten Gewinne sprudelten, verschwendete niemand von ihnen einen Gedanken daran, woher das Geld kam. Sie wollten es wohl auch gar nicht wissen. Und der karrieregeile Walter, der seine Sparkassenzweigstelle als viel zu enges Korsett empfand, unterstützte ihn nach allen Regeln der Kunst. Er animierte unentwegt zu Neuinvestitionen und pries die Risikolosigkeit der Anlagen sogar noch, als schon die Einbußen an der Tagesordnung waren und die Gewinne sich längst in Verluste umgekehrt hatten.
Warum also sollte er sich überhaupt Gedanken machen! Ihre jetzigen Geldsorgen waren nicht sein Problem. Ein bisschen leid tat’s ihm nur für Albrecht, denn der hatte sich ihm gegenüber immer korrekt verhalten und nie die Insistenz der anderen an den Tag gelegt.
Weder der wabernde Nebel und die schleichende Kälte dieses Novemberabends noch der mit Graupeln durchsetzte Schnürlregen und die zu erwartenden Vorwürfe seiner Frau konnten ihm etwas anhaben. Hiltrud war für ihn ohnehin gestorben. Zu sagen hatten sie sich schon lange nichts mehr. Er hasste sie – und er hasste sich, dass er diese Beziehung aufrecht erhalten musste. Aber sich zu trennen, hätte ihn an den Rand des finanziellen Ruins bringen können. Und soweit käme es noch! Folglich hatten sie sich arrangiert und nach außen spielte er Theater.
Als er in Höhe der St.-Anna-Kapelle war, – von hier hatte er nur noch wenige Meter zu
laufen – vernahm er beiläufig sich ihm von hinten nähernde Schritte. Mit sich und der Welt im Reinen, spürte er so gut wie keinen Schmerz, als ihn der präzise, blitzschnell ausgeführte Schlag traf.
Ganz allmählich kehrte sein Bewusstsein zurück. Er merkte, dass er auf dem Rücken lag, sich kaum bewegen konnte und ihm irgendetwas das Atmen erschwerte. Noch ziemlich benommen und ohne zu verstehen, was mit ihm geschehen war, öffnete er die Augen und versuchte sich zu orientieren. Er sah die Deckenverzierungen und wusste augenblicklich, dass er auf dem harten Steinboden der Sankt-Anna-Kapelle lag. Ein Mann beugte sich über ihn, dessen röchelnder Atem so unangenehm seine Nase reizte, dass er seinen Kopf abwenden wollte. Doch der eiskalte, mitleidlose Blick zwang ihn, das starre, ausdruckslose Gesicht seines penetrant schweigenden Gegenübers zu betrachten. ‚Der will, dass ich ihn sehe!’, durchfuhr es ihn und irgendwie kam ihm das Gesicht auch bekannt vor. Nur zuordnen konnte er es nicht. Schwer atmend, noch immer auf das bleiche Gesicht starrend, tastete er an seinem Hals entlang und fühlte ein Seil, das ihm straff gespannt die Luft abschnürte. Erst jetzt erfasste er den Ernst der Lage und mit weit aufgerissenen Augen wurde ihm klar, dass er sterben sollte. Wie oft hatte er davon gelesen, dass Menschen Sekunden vor ihrem Ende ihr ganzes Leben Revue passieren ließen. Er sah und empfand nichts, außer der nackten Angst, die seinen Körper von den Zehen bis zu den Haarspitzen versteinerte und seine Speicheldrüsen ihren Dienst versagen ließen. ‚Auch wieder so eine Lüge‘, durchfuhr es ihn. Mit aller Macht stemmte sich sein Innerstes gegen den drohenden Tod und mit der ganzen Kraft, zu der ihn seine Verzweiflung befähigte, bäumte er sich auf, um zu schreien, doch mehr als ein kaum wahrnehmbares Krächzen brachte seine ausgedörrte Kehle nicht zustande. Mit einem heftigen Ruck zog sich die Schlinge zu.