Читать книгу Kapellensinfonie - Helmut Frevel-Gerhartz - Страница 5
3
Оглавление„Falls Frau Greber inzwischen zu Hause ist, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit schon über den Mord an ihrem Mann informiert sein“, überlegte Peter auf der Fahrt nach Oberpleis. „Das denke ich auch. Da brodelt im Dorf die Gerüchteküche. Hoffentlich ist die bedauernswerte Frau in dieser psychischen Ausnahmesituation überhaupt ansprechbar. Na ja, wir werden sehen!“, meinte Katharina.
Gegen vierzehn Uhr läuteten sie zum zweiten Mal am Tor der protzigen Villa und dieses Mal hatten Sie Erfolg. Eine nicht unsympathische Frauenstimme meldete sich mit „Hiltrud Greber“ und fragte nach dem Zweck ihres Kommens. „Guten Tag, Frau Greber. Wir sind von der Polizei. Dürfen wir Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen?“, antwortete Katharina, und nachdem sie sich als Kripo-Beamte zu erkennen gegeben hatten, indem sie ihre Ausweise in die Überwachungskamera gehalten hatten, öffnete sich mit schrill quietschenden Scharnieren das Tor. „Ein Tropfen Öl könnte nicht schaden“, konnte Peter sich eines Kommentars nicht enthalten, während sie sich auf schneeweißem Marmorkies dem Haus näherten.
„Ich habe Sie schon erwartet“, empfing sie unter dem viersäuligen Portikus eine mit viel zu engen Jeans und einem quergestreiften, figurbetonten Sweatshirt bekleidete rundliche Frau, deren graumeliertes Haar sie älter erscheinen ließ als sie vermutlich war.
‚Ende vierzig – Anfang fünfzig‘, schätzte Katharina, die sich mal wieder wunderte, wie unvorteilhaft sich doch gerade korpulente Menschen häufig kleideten.
„Guten Tag, Frau Greber“, grüßte sie noch einmal. „Kripo Bonn-Beuel. Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Heute Nacht …“
„Ich nehme an“, fiel ihr die Frau ins Wort, „Sie kommen wegen der Ermordung meines Mannes. Darüber wurde ich schon durch eine Bekannte informiert. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass sich die Nachricht von einem solch schrecklichen Verbrechen in Windeseile im Ort verbreitet. Kommen Sie doch bitte ins Haus. Dann können wir reden. Hier draußen ist es doch empfindlich kalt.“
Peter und Katharina konnten ihre Verwunderung kaum verbergen. Die Frau war völlig gefasst, wirkte ruhig und gelassen und zeigte keinerlei Betroffenheit, geschweige denn einen Anflug von Trauer.
Das Innere des Hauses hielt, was das Äußere versprach. Sie wurden von einem riesigen Salon empfangen, der durch einen die komplette Südfront umspannenden Wintergarten, gefüllt mit exotischen Pflanzen und überwinternden Südfrüchten, den Blick auf die großzügige Terrasse freigab. Ein sich anschließender, einem Barockgarten nachempfundener Park verlor mit seinen buchsbaumumrandeten quadratischen Beeten, seinem achteckigen Pavillon und seinen patinierten Marmorskulpturen selbst in dieser Jahreszeit nichts von seiner geometrischen Schönheit. Im hinteren Teil unterbrach eine Estrade die Weitläufigkeit des Salons, damit einem cremefarbenen Steinway die ihm gebührende Beachtung geschenkt werden konnte. Eine monumentale Freitreppe führte zu einer umlaufenden Galerie, die die oberen Räume verteilte. Überall herrschte penible Sauberkeit. Trotz der Unzahl von zusammengewürfelten Antiquitäten wirkte der Raum merkwürdig steril. Außer dem Foto einer jungen Frau auf dem Kaminsims fanden sich nirgendwo persönliche Accessoires. Nichts, was auch nur im Geringsten hätte auf die Bewohner hinweisen können. Nirgends auch nur die geringste Spur von menschlicher Wärme. Keine Blumen, keine Obstschalen, keine Kerzen, – bis auf eine Leseecke rein gar nichts, das Persönlichkeit geatmet hätte. Und obwohl es dem gewaltig dimensionierten Kamin ohne große Anstrengung gelang, ausreichend Wärme zu verbreiten, empfand Katharina ein leichtes Frösteln. Dieses Haus sorgte für keinerlei Behaglichkeit und löste bei ihr ein spürbares Unbehagen aus.
Sie nahmen an einem ebenso riesigen wie geschmacklosen Eichentisch Platz.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, Wasser ...?“ Und als beide verneinten, fügte sie hinzu: „Wenn Sie erlauben, hole ich mir einen Espresso“, verschwand in der Küche und erschien nach kurzer Zeit mit ihrem Kaffee. „Gestatten Sie, dass ich rauche?“ Ohne das zustimmende Nicken ihrer Gäste abzuwarten, setzte sie sich und zündete sich gelassen eine Zigarette an. „So, jetzt stehe ich Ihnen zur Verfügung. Was haben Sie da?“
Katharina drehte den Fotoapparat und zeigte ihr die Aufnahmen der Leiche.
„Das muss Klaus sein. Zumindest trägt diese Person seine Kleidung“, glaubte Frau Greber ihren Mann zu erkennen.
„Zur einwandfreien Identifizierung“, erklärte ihr Katharina, während sie ihre Kamera zur Seite legte, „müssten Sie im Laufe der Woche zu uns ins Präsidium nach Bonn-Beuel kommen. Wir begleiten Sie dann in die Pathologie. Sehen Sie sich dazu in der Lage?“
„Ja, ich denke schon.“ Und nach einem tiefen Zug an ihrer Zigarette begann sie, von ihrer Ehe zu erzählen: „Sie werden sich sicher schon gefragt haben, warum mir der Tod meines Mannes in keiner Weise nahegeht und mich dieser abscheuliche Mord ziemlich kaltlässt. Halten Sie mich bitte nicht für herzlos, aber die Ehe mit diesem Mann war die Hölle. Er war ein Tyrann, der mich vom ersten Tag an spüren ließ, wer das Geld verdiente. Als unsere Tochter Klara geboren wurde, glaubte ich, er würde sich ändern. Kurzzeitig sah es auch so aus, er unterließ die Gemeinheiten und Dispute zumindest vor dem Kind. Sobald jedoch Klara in den Kindergarten kam, zeigte er wieder sein wahres Gesicht und suchte jede Gelegenheit, mich zu beleidigen und zu demütigen. Ständig drohte er damit, mich hinauszuwerfen und mir das Kind wegnehmen zu lassen. Nach außen versteckte er seinen Charakter hinter der Fassade des Biedermannes und Gönners. Stammtisch, Kirchenchor, Finanzberater, Parteimitglied, Spender für karitative Zwecke, um nur einiges zu nennen – Sie verstehen. Er war eine vollkommen gespaltene Persönlichkeit. Jemand, der sich selbst zutiefst hasste und der mich als Ventil für seine Wut benutzte.
Ich sehe immer noch sein hämisches Grinsen, wenn ich ihm zu verstehen gab, dass ich es bei ihm nicht mehr aushalte. ‚Wo willst du denn hin? Du hast nichts, kannst nichts, bist nichts. Sei froh, dass ich dich und Klara ernähre’, bekam ich mehr als einmal zu hören. Bis heute ist mir nicht klar, warum ich mich nicht getrennt habe. In den letzten Jahren hatten wir ein stillschweigendes Abkommen, das mich weitgehend mein Leben leben ließ. Er belästigte mich nicht und ich ließ ihn in Ruhe. Zu sagen hatten wir uns nichts mehr, abgesehen von einigen Krächen, die nach seinen Saufgelagen entstanden. Nachdem unsere Tochter ausgezogen war, lebten wir im Haus wie Fremde. Im Ort hingegen wahrten wir so gut es ging den Schein und spielten die intakte Familie.
Für mich zunächst vollkommen unverständlich, versuchte er in den letzten Monaten mit allen Mitteln eine Trennung zu verhindern. Ich brauchte einige Zeit, bis ich sein Verhalten begriff, Wir haben keine Gütertrennung und es hätte ihn eine erhebliche Stange Geld gekostet, wenn ich gegangen wäre. Also vollführte er die wildesten Anstrengungen, mich um des lieben Geldes wegen zu halten.“ Mit einem bittersüßen Lächeln strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und kam zum Ende. „Nun wissen Sie, warum ich meinem Mann keine Träne nachweine.“
Die beiden Polizisten hatten aufmerksam zugehört, aber ohne auf das Gehörte direkt einzugehen, drückte der Kommissar sein Beileid aus und kam zur Sache: „Ich glaube, ein Schicksal wie das Ihres Mannes wünscht man auch seinem ärgsten Feind nicht. Wissen Sie schon Näheres zu seinem Tod?“
„Nein“, erwiderte Frau Greber leise, „nur dass er in der Kapelle ermordet aufgefunden wurde. Wie genau kam er denn zu Tode?“
„ Nun, dann muss ich Sie jetzt mit den schockierenden Einzelheiten des Falles konfrontieren. Soweit wir das bisher sagen können, wurde er wohl zunächst betäubt und anschließend mit einem Beil oder einer Axt enthauptet. Genauere Angaben zu seinem Tod können wir allerdings erst nach der Obduktion machen“, führte der Kommissar aus.
„Der Täter stülpte eine Kapuze über den Kopf und stellte ihn in die Mitte des Altars. Bei der Leiche fanden wir einen Rosenkranz und ein Stück Pappe mit der Aufschrift ‚mea culpa’.
Zur genauen Rekonstruktion des Tathergangs und um mehr Klarheit zu gewinnen, müssen wir wissen, was Ihr Mann gestern Abend gemacht hat.“
„Gestern war Sonntag“, überlegte Frau Greber, „da war er bestimmt im Dorfkrug und traf sich mit seinen Sauf- und Skatkumpanen zum Stammtisch. Das machte er ...“
„Wissen Sie in etwa, wann er das Haus verlassen hat?“, wurde sie von Katharina unterbrochen.
„Jeden Sonntag.“, beendete sie bedächtig ihren Satz, ehe sie antwortete. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Den Tag über war ich nämlich – wie fast jeden Sonntag – bei unserer Tochter in Bonn, die dort eine Wohnung hat. Sie studiert im sechsten Semester Betriebswirtschaftslehre. Als ich gegen zwanzig Uhr dreißig zurückkam, hatte er schon das Haus verlassen. Wie üblich wird er wohl kurz vor acht gegangen sein.“
„Können Sie mir die Namen der Personen nennen, die an diesem Stammtisch teilnehmen?“. „Alle nicht, aber den harten Kern. Von den Freunden meines Mannes, die ich kenne, sind Wilfried Kessler, Walter Lengen, Albrecht Vogt, Gregor Dähler und David Zelter weitgehend regelmäßig dabei. Die spielen nämlich in eine Kasse und machen von dem Geld einmal jährlich eine ausgedehnte Sauftour, bei der es ganz schön hoch hergeht, kann ich Ihnen sagen. Im Mai vergnügte sich diese Truppe eine Woche in Rüdesheim. Danach war es meinem Mann noch tagelang übel.“
Sie schwieg einen Augenblick, um sich zu sammeln. „Außer diesen fünfen fällt mir momentan niemand mehr ein. Wenn sie wissen möchten, wer sonst noch zu der Stammtischrunde gehört oder überhaupt in dieser Kneipe verkehrt, sollten Sie Heidi Weißkirch, die Wirtin, fragen.“
Katharina schrieb die Namen auf, die ihr von Frau Greber genannt wurden, und notierte sich auch den Namen der Wirtin.
„Wann kam ihr Mann denn normalerweise vom Stammtisch nach Hause?“, schaute sie von ihrem Block auf.
„Soweit ich das beurteilen kann, denn ich pflege um diese Zeit zu schlafen, und wir haben getrennte Schlafzimmer, müssen Sie wissen, zwischen Viertel nach zwölf und halb eins. Er geht nämlich prinzipiell immer erst, wenn der Dorfkrug schließt. Und das ist nicht vor zwölf Uhr. Von der Gaststätte bis zu uns sind es nur wenige hundert Meter, für die er kaum zehn Minuten benötigt.“
„Geht er denn alleine oder mit seinen Stammtischfreunden?“, schaltete sich der Kommissar wieder ins Gespräch ein.
„Meistens geht er alleine, da er der Einzige ist, der in diese Richtung muss.“
„Welchen Beruf übte Ihr Mann aus, Frau Greber?“
„Mit seinem Partner Dirk Voller betrieb er in Bonn eine höchst profitable Anlageberatung und ein gutgehendes Immobiliengeschäft. Vor drei Jahren stieg er dort aus, ließ sich seine Anteile auszahlen und wir bauten dieses Haus. Offiziell war seitdem seine Tätigkeit als Anlageberater beendet. Für Altkunden, Freunde oder gute Bekannte blieb er allerdings mehr als aktiv. Auch wenn er immer behauptete, diese Arbeit wäre für ihn keine Belastung, sondern Ausgleich, so nahm sie ihn doch stärker in Anspruch als er sich eingestehen wollte. Jedenfalls verbrachte er tagtäglich eine nicht unerhebliche Zeit in seinem Arbeitszimmer. Wenn er vollkommen ungestört sein wollte, verzog er sich mit seinem Laptop in unseren Pavillon. Dort habe er die nötige Ruhe, betonte er ein ums andere Mal. Seine Arbeitswut ging sogar so weit, dass er schon mal den Urlaub für zwei, drei Tage unterbrach und nach Hause fuhr, um, wie er es formulierte, unaufschiebbare Termine wahrnehmen zu können.“
„Wer gehörte denn zu seinem Kundenkreis?“
„Dazu kann ich ihnen nur wenig sagen. Um die Geschäfte meines Mannes habe ich mich nie gekümmert. Von den Altkunden kenne ich persönlich niemanden.
Ich könnte mir aber vorstellen, dass zumindest einige seiner Stammtischkollegen, vielleicht auch Heidi Weißkirch, mit ihm geschäftlich verbunden waren. Mehr fällt mir dazu beim besten Willen nicht ein. Tut mir leid, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“
„Was machen denn die von Ihnen genannten Personen beruflich?“, schaute Katharina auf ihren Zettel. „Walter Lengen, Wilfried Kessler, usw.“
„Sie meinen die Skatfreunde? – Walter Lengen leitet die örtliche Sparkasse. Wilfried Kessler besitzt die Metzgerei an der Hauptstraße. Albrecht Vogt ist Leiter des hiesigen Kirchenchors, in dem auch Klaus singt – gesungen hat. Gregor Dähler und David Zelter sind Parteifreunde meines Mannes. Dähler ist der Ortsbürgermeister und Zelter Rektor der hiesigen Grundschule.“
„Kommen wir noch zu den beiden Hinweisen, die der Täter hinterlassen hat“, leitete der Kommissar das Ende der Befragung ein. „Zum einen der Rosenkranz mit dem schlichten Holzkreuz und zum anderen das Stück Pappe mit der Aufschrift ‚mea culpa’, die, wenn mich meine mageren Lateinkenntnisse nicht völlig verlassen haben, so viel bedeutet wie ‚meine Schuld’.“
„Oder – durch meine Schuld“, ergänzte Katharina.
„Haben Sie eine Idee, warum der Mörder die Leiche Ihres Mannes gerade mit diesen beiden Stücken, ja, wie soll ich mich ausdrücken, förmlich dekorierte und was hinter dieser ungewöhnlichen Inszenierung stecken könnte? Oder ist der Rosenkranz gar Eigentum Ihres Mannes?“, fuhr der Kommissar fort. „Und können Sie sich vorstellen, wer einen Grund hatte, Ihren Mann so zu hassen, dass er ihm das antun konnte?“
„Nein, ich kann es mir nicht vorstellen“, ging Frau Greber zunächst auf die letzte Frage ein. „Er hatte weiß Gott genügend enttäuschte Geschäftspartner, die durch seine unsauberen Machenschaften sicher viel Geld verloren haben. Aber dass jemand deshalb einen solchen Mord begeht, will mir nicht in den Kopf. Auch ich habe ihm oft genug die Pest an den Hals gewünscht. Und wenn er auch noch so gemein war, umbringen hätte ich ihn nicht können. Was den Rosenkranz angeht, er gehört keinesfalls meinem Mann, und ich kann mir auch keinen Reim darauf machen. So sehr Klaus auf seine Außenwirkung bedacht war, von christlichen Gegenständen oder Symbolen wollte er nie etwas wissen. Sein gesamtes religiöses Getue war reine Fassade. Für die Aufschrift ‚mea culpa’ habe ich keine Erklärung. Da bin ich überfragt. Vielleicht können Ihnen der Pastor Gerhard Oppner oder der Chorleiter Albrecht Vogt in dieser Sache weiterhelfen. Möglicherweise wissen die mehr über diese Inschrift.“
„Geben Sie uns bitte noch das Handy Ihres Mannes sowie die Adresse und die Telefonnummer seines Geschäftspartners“, zückte Katharina wieder ihr Notizbuch. „Und zu guter Letzt“, fuhr sie fort, nachdem sie das Handy erhalten und die Adresse eingetragen hatte, „müssen wir Ihnen noch die in diesem Fall unerlässliche Frage stellen, wie Sie den Sonntagabend verbracht haben.“
„Ah, verdächtigen Sie jetzt mich?“, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Wie ich zu Beginn unseres Gesprächs schon erwähnte, blieb ich nach meiner Rückkehr aus Bonn den ganzen Abend zu Hause, schaute noch bis ca. zehn Uhr dreißig fern und ging danach zu Bett. Somit habe ich kein Alibi.“
„Ich denke“, nahm Peter ihre Erklärung kommentarlos hin, „dass wir Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen haben. Wir sprechen Ihnen noch einmal unser Beileid aus und bedanken uns für Ihr gar nicht so selbstverständliches Entgegenkommen, uns trotz der ungewöhnlichen Situation so bereitwillig und ausführlich Auskunft gegeben zu haben. Wir erwarten Sie dann in den nächsten Tagen im Präsidium.“ Sie verabschiedeten sich und Frau Greber geleitete sie noch bis zur Eingangspforte.
*
Sobald sie außer Hörweite waren, fragte Peter: „Und, was meinst du zu dem Gespräch? Was hältst du von der Frau?“
„Ich fand die Unterhaltung ausgesprochen informativ und konstruktiv. Auf mich wirkte Frau Greber in allem, was sie sagte, ehrlich und überzeugend“, fasste Katharina ihren Eindruck des Gesprächs zusammen. „Ihre Ausführungen klangen ausgesprochen glaubwürdig. Am meisten hat mir ihre Offenheit imponiert und dass Sie überhaupt keinen Versuch unternahm, uns die trauernde Witwe vorzuspielen.
Das Haus allerdings würde mich depressiv machen. Es wirkt auf mich gesichtslos und strahlt eine merkwürdige Kälte aus. – Welchen Eindruck hast du von ihr gewonnen?“
„Wie du schon sagtest, sie wirkt offen, ehrlich …“; und fügte nach kurzer Überlegung hinzu, „…und stark. Einen solchen Mistkerl über all die Jahre zu ertragen. Das heißt schon was. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich liege zurzeit im Clinch mit meiner Ex und das ist kein Zuckerschlecken. Die lässt keine sich bietende Gelegenheit aus, mich zu beschimpfen und zu demütigen. Und das, obwohl wir jetzt schon über ein Jahr geschieden sind. Besonders schlimm ist, dass sie sich nicht einmal mehr vor Jean-Pierre, unserem neunjährigen Sohn, zurückhält. Um einen Keil zwischen mich und den Jungen zu treiben, zieht sie alle Register. Wieder und wieder betont sie, was für ein schlechter Vater ich sei. Ihre neueste Gemeinheit: Sie möchte mir das Sorgerecht, das wir gemeinsam besitzen, entziehen lassen. Nun brauche ich dringend einen versierten Anwalt. Gestern Abend hat mir Bernd Penter, du weißt schon, der Pathologe, einen Dr. Reuter empfohlen. Er hat ihn wohl bei dessen Scheidung vertreten. – Womit ich wieder bei Frau Greber bin. Für mich bleiben zwei Ungereimtheiten: Erstens frage ich mich, warum sich eine so starke Frau nicht die Kraft aufbrachte, sich zu trennen. Und zweitens hat sie ein beachtliches Motiv und kein Alibi.“
Katharina blieb stehen und schaute ihn ungläubig an: „Du bist doch nicht allen Ernstes der Ansicht, dass sie als Täterin in Frage käme. Das halte ich nun wirklich für absurd. Du solltest abends nicht so viel saufen. Der Alkohol scheint dir das Hirn zu vernebeln.“
„Eine solche Kritik an ihrem Vorgesetzten“, drohte er grinsend, „steht einer Assistentin nicht zu. Noch eine von diesen Frechheiten und es gibt eine Abmahnung.“
„Also gut, ich entschuldige mich und nehme meine Äußerung zurück“, spielte Katharina die Ängstliche, um nach einigen Schritten das Gespräch auf seinen Sohn zu lenken.
„Jean-Pierre“, nachdenklich wiederholte sie den Namen des Jungen, „ein schöner Name. Wieso hat euer Sohn einen französischen Vornamen?“
„Meine Exfrau ist Französin, genau genommen Halbfranzösin, da ihre Mutter hier aus der Bonner Gegend stammt. Sie bestand unbedingt darauf, dass unser Kind, wenn es ein Junge würde, die Vornamen ihres Vaters und Großvaters erhalten sollte. Es wurde ein Junge und er erhielt die Namen ‚Jean’ vom Vater und ‚Pierre’ vom Großvater.“
„Und du hattest gar keinen Einfluss auf die Namensgebung?“, wunderte sich Katharina.
„Es reicht“, beendete er, ohne auf die Frage einzugehen, das ihm offensichtlich unangenehme Thema. „Lass uns von was anderem reden. Es ist jetzt Viertel nach vier. Ins Präsidium fahren lohnt kaum noch“, schaute er auf seine Uhr, als sie am Wagen standen. „Was hältst du davon, wenn wir uns mal an der Kapelle umsehen und anschließend zum Dorfkrug gehen, um mit der Wirtin zu reden?“
„Einverstanden“, fragte Katharina nicht mehr nach, „wir sind ja schon kurz vor der Kapelle.“
Sie mussten noch an einer Streuobstwiese vorbei, deren uralte Apfelbäume voller Stolz ihre Misteln präsentierten, eilten eine mannshohe Ligusterhecke entlang und erreichten nach wenigen Minuten über eine gepflegte Grünfläche mit einer einsamen, traurig vor sich hin dösenden Parkbank ihr verlassen wirkendes Ziel. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen – weder auf dem säuberlich gepflasterten Vorplatz, den ein ockerfarbenes Schild als St. Anna-Platz auswies, noch auf dem mit einem dichten Wall aus Thujen eingefassten Parkplatz neben der Kapelle.
„Dass mir nicht schon beim ersten Mal aufgefallen ist, welche idealen Bedingungen dieser Parkplatz bietet“, wunderte sich Peter, während sie den Vorplatz überquerten. „Der Mörder konnte sein Auto direkt an der Kapelle parken, ohne dass es von der Straße aus einsehbar war, und seelenruhig abwarten. Als sein Opfer erschien, brauchte er es nur durch den Schlag auf den Kopf zu betäuben und die wenigen Stufen hinauf in die Kapelle zu schleppen.“
„Mag sein“, stimmte ihm Katharina zu. „Für mich sind aber noch zwei Fragen offen. Erstens: Woher wusste der Täter, welchen Nachhauseweg sein Opfer nimmt und zu welcher Uhrzeit es aus der Gaststätte aufbricht? Und zweitens: Wie kam er in die Kapelle, wenn diese zu diesem Zeitpunkt verschlossen war?“
„Gute Fragen. Zu erstens: Der Mörder war nicht nur mit den Örtlichkeiten, sondern auch mit den Gepflogenheiten seines Opfers bestens vertraut. Zu zweitens: Er besitzt einen Schlüssel oder besaß einen, da das Schloss laut Spurensicherung unversehrt ist. Überzeuge dich selbst“, wies Peter auf die schwere Eichentür hin. „Hier kannst du deutlich sehen, dass das zutrifft. Tür und Schloss sind vollkommen unbeschädigt. Es liegt also kein Einbruch vor.“
„Das leuchtet mir ein. Dann sollten wir uns zunächst über den Personenkreis Gedanken machen, der Grebers Gewohnheiten genauestens kannte, und der Frage nachgehen, wie der Täter an den Schlüssel kam. Hierzu könnten uns der Pfarrer oder die Dame, die die Blumen in der Kapelle gießt, Auskunft geben.“
„Genau“, nahm er Katharina, die sich fröstelnd in ihren pelzbesetzten Jackenkragen schmiegte, am Arm und zog sie sanft in Richtung Gaststätte. „Und darum suchen wir noch, bevor wir für heute Feierabend machen, den Dorfkrug auf. Sicher kann uns die Wirtin – wie heißt sie noch gleich? Heidi ...?“ „Heidi Weißkirch“, half ihm Katharina auf die Sprünge, indem sie ihr Notizbuch zurate zog. „Ach ja, Weißkirch. Also sicher kann uns Frau Weißkirch einiges über ihre Gäste erzählen.“
Das Schild war unübersehbar: ‚Montag Ruhetag’.
„Ok, machen wir Schluss für heute und fahren zurück. Der gestrige Abend hat mich ganz schön geschlaucht“, gähnte Peter und spürte auf einmal, wie wenig er geschlafen hatte. „Einerseits vermisse ich mein Bett, andererseits könnten wir beide auf dem Bonner Weihnachtsmarkt noch einen Glühwein trinken. Was meinst du?“
„Schade. Montags kann ich leider nicht. Da bin ich immer beim Training. An jedem anderen Tag gerne“, lehnte Katharina das Angebot bedauernd ab und ärgerte sich im Stillen über sich selbst.
„Welche Sportart übst du denn aus?“, hakte Peter interessiert nach.
„Du wirst es kaum glauben: Aikido. Seit meinem achten Lebensjahr bin ich in Bonn im Verein. Inzwischen besitze ich eine Trainerlizenz und trainiere montags zunächst die Kinder und Jugendlichen und anschließend die Erwachsenen. Danach gehe ich oft noch zum Shiatsu, einer japanischen Druckmassage zum Lockern der Muskeln.“
„Na, toll“, spöttelte Peter, „nun, da ich das weiß, habe ich auch keine Angst mehr, wenn wir beide im Einsatz sind.“
„Mach dich nur lustig. Ich war zwar noch nie in einer bedrohlichen Situation. Aber es ist einfach ein gutes Gefühl, sich wehren zu können“, und mit einer blitzschnellen ansatzlosen Bewegung befand sich Peters Oberkörper für einen kurzen Augenblick in der Horizontalen und ebenso schnell wieder in der Senkrechten.
„Ich denke, du weißt nun, wovon ich rede“, grinste sie den verdutzten, nach Luft schnappenden Peter an, der noch immer unter dem Eindruck dieser pfeilschnellen Aktion stand. „Was hältst du denn davon“, unternahm sie einen Versuch der Wiedergutmachung, „wenn ich dir am Freitagabend einen Glühwein spendiere. Dann kann ich mich wenigstens vorher umziehen und muss nicht in Uniform am Stand stehen. Und falls du Lust hast, können wir anschließend irgendwo noch was essen.“
„Das ist doch mal ein konstruktiver Vorschlag. Freitagabend passt. Ich hole dich, wenn es dir recht ist, gegen halb acht ab.
Allerdings nur unter der Voraussetzung“, fuhr er fort, ohne Katharinas zustimmendes Nicken abzuwarten, „dass du mir hoch und heilig versprichst, mich nicht noch einmal von deinen Kampfkünsten zu überzeugen.“ Und demonstrativ rieb er sich die linke Schulter, die offenbar etwas abbekommen hatte.
„Da kannst du ganz beruhigt sein. Ich laufe ja ansonsten Gefahr, von dir hier stehen gelassen zu werden. Und wie soll ich in diesem Fall nach Hause kommen? Du hast mich also in der Hand“, stöhnte sie mit gespielter Verzweiflung, als sie ins Auto stieg.
Er setzte sie am Präsidium ab und fuhr, inzwischen völlig übermüdet, ohne noch irgendwo ein Bier zu trinken, auf direktem Weg nach Hause.
Sein Anrufbeantworter freute sich, ihn wiederzusehen, und war ausgesprochen nett: Er musste sich weder die üblichen Gemeinheiten von Claire noch irgendwelche sonstigen Belanglosigkeiten anhören. Nicht einmal sein Chef, wie es seine Art war, hatte sich gemeldet. Mit dem Ausgang des Abends nicht unzufrieden, schaute er sich, nachdem er der Dusche einen Besuch abgestattet hatte, noch den Montagsfilm im ZDF an, schlief ständig dabei ein und suchte endlich sein Bett auf.