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Einblick 2 Unser formbares Gehirn als Ergebnis der Evolution

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Der Komplexität unseres Gehirns nähert man sich am besten durch einen Blick auf seine Evolution, die sich in enger Verbindung mit der Evolution des gesamten Körpers über Millionen von Jahren entfaltet hat. Wir tragen nicht nur Spuren dieser Evolution in uns, sondern wir können uns als eine Synthese aller in der Evolutionskette vor uns liegenden Lebensformen verstehen. Das lässt sich am deutlichsten an unserem Gehirn ablesen. Seine Teile werden manchmal nach ihrer Entwicklungsgeschichte benannt: Reptiliengehirn, (Ur-)Säugetiergehirn und Primatengehirn. Die im Deutschen üblichen Bezeichnungen, die wir auch in den folgenden Kapiteln verwenden werden, sind kursiv gedruckt.

Drei Schichten unseres Gehirns wölben sich – vergleichbar den Jahresringen eines Baums – übereinander, wobei die älteste direkt über der Wirbelsäule liegt, wie eine Art Verlängerung des Rückenmarks:

• Das Stammhirn (der Hirnstamm) wird auch Reptiliengehirn1 genannt und steuert lebenserhaltende Grundfunktionen des Körpers wie Herzschlag, Atmung und Wach-Schlaf-Rhythmus2, auch Instinkte und Reflexe sind hier fest installiert.3 Es entwickelte sich vor über 500 Millionen Jahren.4 Ähnlich alt (300 bis 500 Millionen Jahre)5 ist das Kleinhirn. Es liegt hinter dem Hirnstamm, steuert Bewegungen, sorgt für ihre Feinabstimmung und empfängt eine Flut von uns unbewusst bleibenden, sensorischen Informationen über Körperhaltung und Bewegung.6

Darüber wölbt sich

• das limbische System (Mittelhirn)7, auch Vogel- und Säugetiergehirn8 oder paläomammalisches Gehirn9 (Ursäugetiergehirn) genannt. Hier werden Gefühle, aber auch so grundlegende Funktionen wie Körpertemperatur, Verdauung10 und unser unwillkürliches autonomes Nervensystem gesteuert. Es entwickelte sich vor 150 bis 300 Millionen Jahren und erreichte vor ca. 250000 Jahren den Höhepunkt seiner Entwicklung.11

Darüber legt sich

• die Großhirnrinde (kurz Kortex), auch Primatengehirn12 oder neomammalisches Gehirn13 genannt. Sie entwickelte sich vor etwa 3 Millionen Jahren.14 Hier sitzt unser Bewusstsein mit bewusster Wahrnehmung und Steuerung willkürlicher Bewegungen, mit unserem Denken und unserem Sprachvermögen.15

Bei uns Menschen hat sich insbesondere der vordere, hinter der Stirn liegende Teil dieser Schicht in einzigartiger Weise weiterentwickelt16, wir wollen ihn daher im Folgenden wie eine Extraschicht behandeln:

• Die präfrontale Rinde (Frontallappen) steuert diejenigen Funktionen, die uns als Menschen auszeichnen: Hier wird unser „Ich“ gebildet, unser Selbstbild, hier geschieht Planung.17 Unser Arbeitsgedächtnis (für kurzzeitiges Erinnern), eine übergeordnete Selbstregulation unseres Verhaltens18 und die Steuerung unserer Aufmerksamkeit haben hier ihren Sitz.19 Außerdem geschehen von hier der Ausgleich unserer Emotionen und die Einstimmung auf andere Menschen.20 Zusammenfassend könnte man es als den Ort unserer bewussten Steuerung bezeichnen.

Unser Gehirn ist ein unüberschaubares Netzwerk aus ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen21 und ihren Verbindungen untereinander. Das Erlernen neuer Verhaltensweisen entsteht durch die Fähigkeit, neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu bilden. Diese Formbarkeit des Gehirns nimmt von den älteren zu den neueren Gehirnteilen hin immer weiter zu. Daher zeichnet sich das menschliche Gehirn, bei dem die Großhirnrinde etwa zwei Drittel der gesamten Hirnmasse ausmacht, durch eine besonders hohe Plastizität aus.

Tiere wie Reptilien oder Insekten, die hauptsächlich von ihrem Stammhirn gesteuert werden, kommen mit einem fest verschalteten Gehirn auf die Welt. Das ermöglicht ihnen in einer Umgebung, für die sie die Evolution über lange Zeiträume hinweg angepasst hat, zu überleben.22 Tiere, wie Vögel, die sich auf ein stark entwickeltes limbisches System stützen können, sind anpassungsfähiger. Sie lernen am Anfang ihres Lebens vor allem durch ihre Eltern und werden damit für ihr weiteres Leben konditioniert23, denn in der frühen Kindheit erworbene Verhaltensweisen sind später kaum noch veränderbar. Diese Art früher Formbarkeit erlaubt es den Tieren, sich an den Lebensraum anzupassen, in den sie hineingeboren werden. Die Bindung an die Eltern ist für den damit verbundenen Lernprozess eine wichtige Voraussetzung.

Die Möglichkeit, lebenslang zu lernen, besitzt vor allem der Mensch. Er wird mit einem vergleichsweise unfertigen Gehirn geboren. Die Bindung an die Eltern ist beim Menschen besonders lang und intensiv. Sein Gehirn ermöglicht es ihm, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen, mitzufühlen und Verhalten vorauszuahnen. Obwohl das Gehirn des Menschen wie bei allen Lebewesen immer noch die Hauptaufgabe hat, den Körper zu steuern und am Leben zu erhalten, ist es vor allem auch ein soziales Organ24, das ein komplexes Zusammenleben in Gemeinschaften ermöglicht hat, und es ist ein kulturelles Organ25, durch das erworbenes Wissen und erlernte Fähigkeiten an andere weitergeben werden kann.

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