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2.6 Innehalten und die Verlangsamung der Zeit

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Kapitel 1 hat gezeigt, wie sehr ein beschleunigtes Leben für uns zur Normalität – d.h. zur Gewohnheit – geworden ist. Der ständige Begleiter eines solchen Lebens ist das Gefühl, keine Zeit zu haben. Um diesem Gefühl auf den Grund zu gehen, betrachten wir im Folgenden einige wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Zeitempfinden.

In einem Experiment wurden den Teilnehmern Bilder geometrischer Formen gezeigt. Dabei sollten die Versuchspersonen einschätzen, wie viel Zeit zwischen dem Auftauchen und dem Verschwinden der Formen auf dem Bildschirm verging. Es zeigte sich, dass ungewöhnliche – „exzentrische“ – Formen das Zeitempfinden veränderten: Für die Versuchsteilnehmer verlangsamte sich die Zeit, d.h. die entsprechenden Zeitabschnitte kamen ihnen länger vor.9

Wenn wir in zielstrebiger Weise etwas erledigen wollen, so ist das mit sehr wenig Wahrnehmung verbunden. Wie die Testperson, deren Gehirnaktivität gemessen wurde, als sie im Rahmen eines Videospiels ein Auto möglichst schnell ans Ziel steuern sollte10, blenden wir dabei alles scheinbar Unnütze einfach aus. Es laufen vorwiegend automatische Vorgänge ab, in unserem Gehirn ist wenig Aktivität.

Das oben beschriebene Experiment zum subjektiven Zeitempfinden kann uns erklären, warum wir durch zielstrebiges Handeln keine Zeit gewinnen können – zumindest nicht nach unserem eigenen Erleben, das doch dabei schließlich das Entscheidende ist: Vorausgesetzt, wir sind tätig und langweilen uns nicht, so lässt eine fehlende bewusste Wahrnehmung offensichtlich die Zeit für uns schneller vergehen, als wenn wir außergewöhnliche Sinneseindrücke erleben. Das allein schon könnte erklären, warum so viele Menschen sich wie in einem Teufelskreis bewegen, in dem sie objektiv gesehen immer schneller agieren und immer mehr an einem Tag erledigen und dennoch das Gefühl haben, keine Zeit dabei zu gewinnen.

Wie wir gesehen haben, ist Innehalten stets mit Wahrnehmung verbunden.11 Wenn wir also innehalten und mit offener Wahrnehmung einer Tätigkeit nachgehen, so wird sich das Gefühl einstellen, mehr Zeit zu haben, denn nach unserem Empfinden verläuft die Zeit dann langsamer. Wir erleben damit eine Entschleunigung, die vor allem auf einem anderen Zeitempfinden beruht. Darüber hinaus werden wir, je mehr das Innehalten uns vertraut wird, wahrscheinlich auch manche Entscheidungen in unserem Leben anders treffen12, was dann ebenfalls zur Entschleunigung beiträgt.

Die meisten Menschen nehmen selbst auf Wanderungen nur sehr wenig von dem, was ihre Sinne aufnehmen, bewusst wahr. Die folgenden Kapitel widmen sich der Frage, auf welche Weise das Innehalten mehr Raum in unserem Leben bekommen kann. So wie Gerald Hüther von der Stufenleiter der Wahrnehmung spricht, könnte man von Stufen in der Entwicklung des Innehaltens sprechen.

Es beginnt bei einem kurzen Erwachen, einem bewussten Wahrnehmen dessen, was wir gerade tun oder vor uns haben, und führt über ein häufiges, kurzes Erwachen, das zu einer Art andauerndem Halbbewusstsein führt, bei dem ein loser Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment und unserer Umgebung entsteht und wie ein entfernter Hintergrund unserer Leben begleitet, bis hin zu einer tiefen inneren Verbundenheit und einer Verankerung im Hier und Jetzt, bei der das Gewahrsein des gegenwärtigen Moments im Vordergrund steht, sodass unser Wahrnehmen und Denken aus der Perspektive der Präsenz geschieht.

Meister Eckhart spricht wohl von dieser letzten Stufe, wenn er sagt: „Das ist das Nu der Ewigkeit, wo die Seele alle Dinge in Gott erkennt, so neu und so frisch und in derselben Lust, wie ich sie jetzt gegenwärtig habe.“13

Je offener und unbefangener – man könnte auch sagen, je achtsamer – wir durchs Leben gehen, desto frischer und ungewohnter sind unsere Sinneseindrücke. Daniel Siegel beschreibt in seinem Buch „Das achtsame Gehirn“, wie die Informationen, die von unseren Sinnen ins Gehirn aufsteigen, gefiltert werden und mit abgespeicherten Bildern – „inneren Repräsentanten“ – überlagert werden.14 Er geht davon aus, dass ein achtsames Wahrnehmen, das die Information von unseren Sinnen ungestört vom Einfluss der inneren Repräsentanten in unser Bewusstsein strömen lässt, die Zeit für uns ausdehnt.15 Wir können daraus folgern, dass sich die Zeit für uns desto mehr verlangsamt, je weiter oben wir uns auf der Stufenleiter der Wahrnehmung und des Innehaltens gerade befinden. Wir „haben“ dann plötzlich Zeit.

Es ist wohl diese Verbundenheit mit dem gegenwärtigen Moment, auf die Meister Eckhart sich bezieht, wenn er sagt: „Ein Leben der Ruhe, in Gott geführt, ist gut; ein mühevolles Leben in Geduld gelebt, ist besser; aber Ruhe zu haben in einem mühevollen Leben, das ist das Allerbeste.“16

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