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2.4 Wahrnehmung der Außenwelt

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Über die Augen, die Ohren und unseren Tast- und Geschmackssinn erfahren wir die Welt. Unsere Sprache weist darauf hin, dass für unsere Wahrnehmung der Außenwelt – aber auch für unsere Einstellung zu einer Situation, einer Sache oder dem Leben – das Sehen besonders wichtig ist. „Das kann man so oder so betrachten“, „das kann man auch anders sehen“, „eine einseitige Betrachtung“, „ein verengter Blick“, „den Überblick bewahren“, „eine wunderbare Einsicht“, „ein tiefer Einblick“, „etwas übersehen“ sind nur einige der Redewendungen, in denen das Sehen in übertragenem Sinne gebraucht wird. Interessanterweise verweist auch eine Bezeichnung für den gegenwärtigen Moment, der uns so kostbar sein sollte und den wir so oft übersehen, auf das Sehen: der Augenblick.

Wie wir die Welt sehen oder wie wir eine Situation betrachten, bestimmt unseren Zustand. Dies gilt nicht nur im übertragenen Sinne. Die im Kapitel 1 beschriebene Zielstrebigkeit ist stets verbunden mit einem eingeengten Blickfeld und einem stark fokussierten Sehen. Wir gehen dann wie mit Scheuklappen durch die Welt. Wollen wir um jeden Preis an ein Ziel gelangen, so verschärft sich das fokussierte Sehen zu einer Art Tunnelblick: Wir sehen zwar ein Ziel vor uns, alles andere blenden wir jedoch aus. Wie beim sprichwörtlichen „Licht am Ende des Tunnels“ hoffen wir auf einen besseren zukünftigen Moment, befinden uns selbst aber in tiefer Dunkelheit, denn wir nehmen den jetzigen Moment mit all seiner Schönheit nicht wahr.

Unser Zustand wirkt auf unser Sehen, aber umgekehrt beeinflusst unser Sehen auch unsere Verfassung. Unser Zustand und unser Sehen scheinen einander zu entsprechen. Daher können wir durch bewussteren Umgang mit dem Schauen auf unseren Zustand einwirken. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Wir können durch häufiges Praktizieren eines „offenen Schauens“ mit dieser Art zu sehen vertraut werden und sie sich nach und nach zu einer Art guten Gewohnheit entwickeln lassen. Außerdem können wir, wenn uns eine zu starke Zielfixierung in unserem Verhalten auffällt, unseren verengten Blick bewusst öffnen. Das Zweite setzt einen wachen Beobachter voraus, der den Zustand wahrnimmt, in dem wir uns befinden. Ein erwachender Beobachter, der erkennt, in welchem Zustand wir uns gerade befinden, befreit uns bereits teilweise aus der Enge des Zielstrebens. Das Öffnen des Blicks vollendet diese Befreiung.

Betrachten wir ein Beispiel: Gehen wir schnellen Schrittes zum Bahnhof, um einen Zug zu erreichen, so werden wir wahrscheinlich stark fokussiert und wie mit Scheuklappen unserem Ziel entgegenstreben. Sind wir sehr spät dran und wollen wir unbedingt einen bestimmten Zug erreichen, so werden wir eilig vorwärtsdrängen, mit einem Tunnelblick, der auf die in der Ferne bereits sichtbare Uhr am Bahnhofsgebäude gerichtet ist. Erwacht der Beobachter in uns, so können wir den Blick öffnen: Ohne uns langsamer fortzubewegen, nehmen wir plötzlich die Bäume am Straßenrand und die anderen Menschen wahr. Das Bild, das sich uns bietet, bekommt Weite und Tiefe. Wir sind mit dem jetzigen Moment stärker verbunden. Wir gehen oder laufen und sind mit unserer Aufmerksamkeit bei der Bewegung, vielleicht genießen wir sie jetzt, denn es macht Spaß, sich zu bewegen, wenn die Bewegung nicht allein Mittel zum Zweck ist.

Das Beispiel des Wegs zum Bahnhof zeigt das Zielstreben besonders deutlich. Es erinnert an das Experiment der Hirnforscher, in dem ein Proband mithilfe eines Videospiels in zwei ähnlich unterschiedliche Zustände gebracht wird. Die Einengung der Sinneswahrnehmung beim Zielstreben ist offenbar verbunden mit einer eingeengten Hirnaktivität. Das Mehr an Leben in uns und um uns herum, das wir wahrnehmen können, wenn wir die Enge des Zielstrebens verlassen, scheint einer umfassender angeregten Gehirnaktivität zu entsprechen.

Experiment: So wie im Beispiel des Wegs zum Bahnhof beschrieben, können wir unseren Blick in jeder Situation öffnen: Sitzen wir am Computer, so können wir wenigstens zwischenzeitlich, statt nur auf die Buchstaben zu starren, den Computer als Ganzes zusammen mit dem Schreibtisch wahrnehmen und uns für die weitere Umgebung öffnen, vielleicht können wir dabei sogar aus dem Fenster schauen. Kaufen wir Lebensmittel, so können wir zum Beispiel für einen Moment das Obst- und Gemüseregal in seiner ganzen Pracht und Fülle betrachten. Sitzen wir als Beifahrer im Auto, so können wir die Landschaft um uns herum wahrnehmen, statt nur auf die Straße zu schauen.

Experiment: Das Öffnen des Blicks führt manchmal zu beeindruckenden Erlebnissen. Sitzen wir in einem Bus auf den hinteren Bänken, so können wir durch das offene Schauen das Innere des Busses und die Umgebung, durch die wir fahren, gleichzeitig wahrnehmen. Gewöhnlich betrachten wir entweder das Innere des Busses, indem wir z.B. die Fahrgäste beobachten, oder wir schauen aus dem Fenster nach draußen. Mit dem offenen Schauen können wir wahrnehmen, wie sich der von innen betrachtete Bus durch die Landschaft bewegt.

Experiment: Beim Hören von Musik können wir unsere Ohren in vergleichbarer Weise wie unsere Augen beim Schauen öffnen: Statt Musik eindimensional zu hören, können wir mehr von der Vielfalt der Klänge wahrnehmen, wenn wir uns nicht nur auf die Melodie konzentrieren. Die Vielfalt der einzelnen Stimmen lässt dabei ein Beziehungsgeflecht in der Musik entstehen, und die unterschiedlichen Töne, die gemeinsam erklingen, lassen uns immer neue Klänge und Klangfarben wahrnehmen.

Experiment: Auch sonst können wir offen lauschend durchs Leben gehen. Statt nur zu schauen, wenn wir uns draußen bewegen, können wir die auftretende Geräuschkulisse wahrnehmen. Das kann auf einem Bahnhof erdrückend wirken und dazu führen, dass wir uns, wenn möglich eine ruhigere Stelle suchen. Nehmen wir jedoch durch unsere offenere Wahrnehmung den Gesang eines Vogels wahr, so schenkt uns das Genüsse, die uns durch das zielfixierte, am Praktischen orientierte Hören entgehen.

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