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2.1 Der Beobachter: Wie ein Fels in der Brandung
ОглавлениеAll den in Kapitel 1 beschriebenen Zuständen ist eines gemeinsam: der wache Beobachter fehlt. Der Beobachter – die Achtsamkeit in uns – ist nicht zu verwechseln mit einem Kommentator, der zu allem, was geschieht, Bezeichnungen, Bewertungen, Vergleiche, Befürchtungen oder Erwartungen liefert. Diese sind nämlich nur wieder Gedankenkonstruktionen, die die Realität verdecken, denn sie schieben sich zwischen uns und das Objekt unserer Wahrnehmung. Der Beobachter nimmt einfach nur wahr, d.h. alles – oder zumindest vieles –, was in uns und in unserer Umwelt auftaucht und geschieht, bringt der Beobachter zum Bewusstsein. Die inneren Objekte, die der Beobachter wahrnehmen kann, sind Gedanken- und Gefühlsmuster. Ein Gedanke und die bewusste Wahrnehmung dieses Gedankens entstehen auf unterschiedlichen Ebenen. Unsere Gedanken tauchen oft in einem dämmernden, dahinträumenden Zustand auf und werden darin fortgesponnen, doch wirklich wahrgenommen wird ein solcher Gedanke nur in dem wachen Zustand eines größeren Bewusstseins. Besonders unsere wohlvertrauten Gedankenmuster nehmen wir oft nicht wahr. Sie sind ein Teil von uns. Wir übersehen sie genauso, wie wir die Gegenstände in unserer Wohnung nicht beachten, die immer am selben Platz stehen.
So wie nur ein Teil unserer Gedanken ins Licht unseres Bewusstseins tritt, so nehmen wir auch nur einen Teil unserer Gefühle bewusst wahr. Besonders wohlvertraute Gefühlsmuster entgehen oft der Aufmerksamkeit. Das altvertraute Gefühlsklima, aus dem heraus wir urteilen und Entscheidungen treffen, ist uns oftmals nicht bewusst. Stattdessen fällt es uns leichter, Unterschiede zu gewohnt auftretenden Gefühlen wahrzunehmen – gerade so wie im Winter 8°C kein besonderes Temperaturempfinden auslösen, während wir dieselbe Temperatur in einer Sommernacht als kalt wahrnehmen. Ein wacher Beobachter unseres inneren „Klimas“ zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht nur deutliche Temperaturunterschiede spürt, sondern auch das gewohnte Klima wahrnehmen kann.
In der Außenwelt sind es vor allem visuelle Objekte sowie Geräusche und Klänge, die wahrgenommen werden können. Hier gilt eine ähnliche Unterscheidung wie in der Gedankenwelt. Selbstverständlich sehen wir die Buchstaben auf dem Bildschirm, wenn wir am Computer arbeiten. Das ist die untere Ebene der Wahrnehmung. Doch nur wenn wir zwischendurch auch den Bildschirm als Ganzes mit der Schreibtischoberfläche, auf der er steht, wahrnehmen, schützen wir uns davor, durch eine verengte Aufmerksamkeit in den Bildschirm gleichsam hineingesogen zu werden.
Ein wacher Beobachter nimmt wenigstens einen Teil der auftauchenden Gedanken wahr. Er ist sich der gerade vorherrschenden Grundstimmung seiner Gefühlswelt bewusst. Die Gegenstände seiner Außenwelt – wie beispielsweise Computer, Schränke, Stühle oder Geschirr – sieht er nicht nur in einem praktischen Sinne, um sie für seine Ziele benutzen zu können. Sie sind für ihn nicht nur Mittel zum Zweck. Er sieht Bäume nicht nur als Hindernisse, denen es auszuweichen gilt, um nicht über ihre Wurzeln zu stolpern oder von ihren Ästen verletzt zu werden, so wie er die Wolken am Himmel nicht nur als Vorboten eines Regens wahrnimmt. Vielmehr nimmt er den Baum als Baum wahr – in seiner einzigartigen Form und seinen von den momentanen Lichtverhältnissen abhängigen Farben. Er sieht die Leuchtkraft blühender Blumen und die räumliche Struktur eines Stuhls.
Der wache Beobachter kann so die Schönheit der Welt in sich aufnehmen, statt nur ihre praktische Seite zu sehen. Doch geht es nicht nur um die Schönheit, die zumindest in allem von der Natur Geschaffenen leicht zu entdecken ist, und schon gar nicht geht es um Bewertung. In unserem Zusammenhang ist vor allen Dingen Folgendes wichtig: Die hellwache Wahrnehmung macht den Menschen zu einem Fels in der Brandung, zum Ruhepol inmitten eines brausenden, rauschenden Geschehens, das man als solches erkennen kann, ohne sich in das Auf und Ab und seine Wirbel hineinziehen zu lassen.