Читать книгу Durch und durch - Hendrik Asten - Страница 11
Marion
ОглавлениеIn der Kunststunde kokettieren die Schülerinnen mit Kurt. Die meisten zeichnen manierlich. Lediglich Birgit kommt über dilettantische Ansätze nicht hinaus und bittet Kurt mit verführerischem Augenaufschlag, ihre Hand zu führen. Die Mädchen kichern, aber Kurt greift ungeniert Birgits Hand und skizziert eine Figur. Das Ergebnis wird mit Applaus bedacht. Auch Eva bittet um Kurts Hilfe, als es an der Tür klopft. Direktorin Lengsdorf führt eine neue Schülerin herein.
„Dies ist Marion Wenzel aus Hamburg. Haben wir einen Platz für sie?“
Ulla zeigt neben sich. „Hier, Frau Direktor, neben uns gibt es noch zwei Plätze.“
„Marion – dort“, deutet die Direktorin in Richtung Ulla. Sie wirft noch schnell einen Blick auf die Skizzen der Schülerinnen. Es handelt sich um Entwürfe für antike Kleider. Bei Birgit bleibt sie stehen und mokiert die Länge des Kleides. Sie verabschiedet sich mit einem kurzen Kopfnicken. Die Schülerinnen beobachten die Neue. Sie ist auffallend schlicht gekleidet, wirkt dennoch attraktiv.
Gegen Ende der Stunde ist Kurt mit Marions Zeichnung sehr zufrieden und präsentiert sie den Schülerinnen. Ein Raunen geht durch die Klasse. Als die Schülerinnen den Klassenraum verlassen, hält Kurt Marion zurück.
„Sie haben wirklich Talent, Fräulein Marion. Wo haben Sie denn gelernt?“
„Gelernt? Gelernt habe ich nirgendwo. Ich habe schon immer gezeichnet und gemalt.“
„Möchten Sie Privatstunden haben? Man sollte Sie wirklich fördern.“
„Stunden? Das kann ich mir nicht leisten.“
„Betrachten Sie es als Stipendium.“
„Nee, Sonderbehandlung, das ist nicht mein Ding.“
„Schade, aber machen Sie weiter so.“
„Danke, Herr Professor.“
„Zu viel der Ehre. Herr Nollendorf reicht.“
„Herr Nollendorf. Das merk ich mir.“
Kurt lächelt, weil sie ihren Dialekt nicht ganz verbergen kann.
Birgit und Eva fangen Marion im Schulflur ab und bauen sich vor ihr auf.
„Du bist wohl was ganz Besonderes, Fräulein“, beginnt Birgit.
„Was wollt ihr von mir?“
„Dir sagen, wo es lang geht“, erklärt Eva. „Lass die Finger von Nollendorf. Verstanden?“
„Ich will nichts von ihm.“
„Dann sind wir uns ja schon einig. Jetzt noch die fünf Mark.“
„Fünf Mark? Wofür?“
„Wofür?“, äfft Birgit sie nach. „Du bist neu und du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert und wenn du im Club bist, wird dir nichts passieren. Fünf Mark sind der Clubbeitrag.“
„Ich brauche keinen Club.“
Eva greift an Marions Kinn, drückt sie gegen die Wand. Birgit pfeift, weil ein Lehrer naht. Eva lässt Marion los. „Jetzt zehn Mark, sonst …“
Der Lehrer Gellert lässt seinen Blick prüfend über die Grazien schweifen. Marion nutzt die Gelegenheit und entfernt sich. Birgit sendet ihr einen gesenkten Daumen hinterher.
Vor dem Schulgebäude fängt Iris Marion ab. „Du musst dich vor Birgit und Eva in Acht nehmen. Man darf ihnen nicht in die Quere kommen.“
„Bin ich das?“
„Es reicht, wenn ein Lehrer sich für dich interessiert und sie nicht mehr im Mittelpunkt stehen.“
Marion zuckt die Schultern. „Ich kann nichts dafür.“
„Natürlich nicht. Aber so sind sie halt!“ Iris mustert Marion.
„Ist was?“
„Nein, nein. Soll ich dir die Stadt zeigen?“
„Warum willst du das tun?“
„Na, weil du neu hier bist.“
Marion lächelt sie an. „Na, denn los!“
Iris erweist sich als kundige Stadtführerin und schafft es sogar, die etwas zurückhaltende Marion ab und an zum Lächeln zu bringen. Schließlich kehren sie in ein Café ein, nachdem Iris sich bereit erklärt hat, die Kosten zu übernehmen. Marion drücken Geldsorgen und sie erzählt.
„Nachdem mein Vater im Krieg geblieben ist, hat meine Mutter versucht, uns vier Kinder durchzubringen. Sie hat sich aufgeopfert und dann war sie über Nacht verschwunden. Wahrscheinlich ist sie irgendeinem Matrosen hinterher, der ihr in Übersee das Paradies versprochen hat.“
„Das Paradies? Gibt es das? Und deine Geschwister?“
„Sind alle älter und haben ihr Auskommen. Mehr schlecht als recht. Ich wusste nicht, wo ich wohnen sollte und bin dann zu meiner Tante nach Düsseldorf gezogen. Sie hat einen kleinen Gemüseladen.“
„Immerhin. Ach, du warst ja noch gar nicht da, als unsere neue Klassenlehrerin uns einen Aufsatz mit dem Thema ‚Die Rolle der Frau im Beruf’ hat schreiben lassen.“
„Was hast du geschrieben?“
„Frauen müssen stark sein, dürfen es sich aber nicht anmerken lassen, dass sie es sind.“
„Du meinst bei den Männern.“
„Ja. Ich hoffe, die Hollstein liest das nicht vor.“
„Wie ist sie denn?“
„Die Hollstein? Ich glaube, sie lässt sich nichts gefallen. Muss aber noch Einiges lernen. Bei dieser Klasse beneide ich sie nicht.“
„Iris, hast du eine Ahnung, wie ich nebenher etwas Geld verdienen kann?“
„Ich trage Zeitungen aus. Wär’ das was für dich?“
„Warum nicht?“
Im hinteren Bereich des Cafés wird eine Diskussion immer lautstärker. Die Mädchen kommen nicht umhin zuzuhören.
„Der Naturalismus war auch bei uns einmal vom Staat verordnet und in einem freien Staat lasse ich mir nicht vorschreiben, was Kunst ist und was nicht!“, ereifert sich eine Stimme.
„Aber genauso lasse ich mich nicht zwingen, um modern zu sein, auf das Gegenständliche zu verzichten!“, entgegnet jemand.
„Dann wirst du nichts mehr Neues zu sagen haben. Genau, wie es dieser reaktionäre Münchner Sedlmayer sieht, der den Untergang des Abendlandes befürchtet, wenn sich die Kunst befreit“, hören sie wieder die erste Stimme.
„Pah, was haben denn formale Experimente mit Befreiung zu tun? Man hat Angst …“