Читать книгу Durch und durch - Hendrik Asten - Страница 9
Die Schule
ОглавлениеMartha hat ihr ein Fahrrad geliehen. Lisa wird sich vom ersten Gehalt selbst eins kaufen. Schon von weitem sieht sie das große Jugendstilgebäude, in dem sich die Schule befindet - gebaut als Deutschland noch ein Kaiserreich war. Es hat hohe, verzierte Fenster und ein großes Tor als Eingang. Im Foyer fragt sie eine der umherstehenden Schülerinnen nach dem Weg zum Zimmer der Direktorin. Begleitet von neugierigen Blicken begibt sie sich in das erste Stockwerk. Im Treppenhaus scheint das Sonnenlicht durch farbiges Fensterglas. An einer Wand sind so Farbtupfer entstanden. Lisa hebt eine Hand in die Lichtstrahlen und bewegt sie langsam auf und ab. Mal Blau, mal Gelb, mal Rot. Sie entscheidet sich für Gelb. Sie möchte, dass die Schule für sie Gelb ist. Sie klopft an die Tür zum Sekretariat und öffnet die Tür, ohne auf eine Aufforderung zu warten.
„Können Sie nicht … Ach so. Kommen Sie herein“, krächzt eine hohe, unangenehme Stimme. „Haben Sie einen Termin?“
Eine etwa fünfzigjährige, äußerst hagere Gestalt mit strenger Frisur sitzt vor einer Schreibmaschine und mustert Lisa.
„Die Frau Direktorin erwartet mich. Lisa Hollstein, ich bin eine neue Kollegin.“
„Hahnfeld, Sekretariat. Haben Sie Ihre Unterlagen dabei?“
„Guten Tag, Frau Hahnfeld.“ Lisa geht auf die Sekretärin zu und reicht ihr die Hand. Die wischt zunächst ihre Hand an ihrem Rock ab und erwidert dann den Gruß. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt Lisa, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Als ob ein Händedruck eine Art unverdiente Auszeichnung für sie sei.
„Meine Unterlagen? Natürlich!“ Lisa überreicht ihr die Einstellungsurkunde. Die Hahnfeld nimmt sie und deutet auf eine Tür.
„Dort!“
Eine Zeit lang steht Lisa vor dem Schreibtisch der Direktorin Lengsdorf, ohne dass sie angesprochen wird. Die Direktorin blättert in einer Akte, schreibt Bemerkungen. Lisa blickt sich um. Schränke und Regale an drei Wänden. Die Regale sind nur zum Teil gefüllt. An der Wand hinter dem Schreibtisch ein Porträt eines älteren Mannes, den sie nicht kennt. Zur Linken eine Sitzecke mit einem Tisch.
„So! Entschuldigen Sie, aber das hier hat keinen Aufschub geduldet. Manchmal denke ich, wir arbeiten nur für die Akten.“ Lengsdorf steht auf und begrüßt Lisa mit einem Handschlag. „Fräulein Hollstein, Deutsch und Geschichte?“
„Guten Tag, Frau Direktorin.“
„Nehmen Sie Platz.“ Sie deutet auf die Sitzecke und beide setzen sich. „Es ist ungewöhnlich, dass eine neue Kollegin gleich eine Unterprima übernimmt, aber wir haben halt einen Engpass, nachdem ein Kollege plötzlich ausgefallen ist. Macht Ihnen das etwas aus?“
„Nein, ich bin sogar stolz.“
„Na, ja. Eines ist wichtig: Die jungen Damen haben unendlich Flausen im Kopf. Der Wirtschaftsaufschwung führt sie in Versuchung. Plötzlich gibt es alles zu kaufen, alles zu haben. Ihre Aufgabe ist es, Grenzen aufzuzeigen. Haben wir uns verstanden?“
„Aber ja, natürlich - Grenzen.“ Während die Direktorin weiter redet, mustert Lisa sie. Blonde lockige Haare, stahlblaue Augen mit leichtem Faltenansatz, ein hellblaues Kostüm und echte Nylonstrümpfe. Sie mag vielleicht Mitte vierzig sein, ist jedoch schlank wie eine Jüngere.
„Achten Sie auf Disziplin! Aber das haben Sie sicher gelernt.“
„Disziplin? Aber ja.“
Lisa fühlt sich beengt. Es gibt keine richtigen Fragen, nur Feststellungen und Anordnungen. Kann sie die Frau um Hilfe bitten, wenn sie es nötig hat? Hoffentlich gibt es nette Kollegen.
Im Lehrerzimmer wird sie gerade den Kollegen vorgestellt, als die Tür geöffnet wird und der junge Mann aus der Galerie eintritt. Lisa ist verblüfft, er nicht minder. Kopfschüttelnd lächelt er sie an. Nachdem sie alle Kollegen mit Handschlag begrüßt hat, kommt er auf sie zu.
„Welch eine Überraschung! Sie … eine Kollegin? Wenn ich das gewusst hätte.“
„Hätten Sie mich nicht übers Ohr gehauen.“
„Seien Sie nicht so streng mit mir.“
„Ich war Ihnen nicht viel wert“, spielt Lisa lächelnd die Beleidigte.
„Dann übernehmen Sie die Unterprima?“, fragt er und hebt eine Augenbraue.
Lisa nickt. „Gibt es da ein Problem?“
„Nein, nein. Die Klasse ist recht durchwachsen.“
„Das klingt doch schon mal gut.“
„Deutsch und Geschichte? Warum nicht Kunst?“
„Das Kapitel ist für mich abgeschlossen.“
„Warum eigentlich? Herr Meisenberg, der ältere Herr aus der Galerie, hält Ihre Bilder für ausgezeichnet.“
„Ich habe gemalt, als ich jung und naiv und der Krieg weit entfernt war.“
„Verstehe.“
Nollendorf bietet an, sie zum Klassenzimmer zu bringen. Die Mädels juchzen, als er als erster den Raum betritt. Beschwichtigend winkt er ab.
„Meine Damen, ich darf Ihnen Ihre neue Klassenlehrerin vorstellen. Das ist Fräulein Hollstein. Sie wird Sie in Deutsch und Geschichte unterrichten. Behandeln Sie sie anständig.“
„Versprochen, Herr Nollendorf“, lässt eine Schülerin verlauten.
„Sie sind verantwortlich, Fräulein Gudrun.“
„O.K., I’ll try.“
Nollendorf verlässt das Klassenzimmer und Lisa steht jetzt das erste Mal alleine vor den 22 Mädchen, die meist adrett gekleidet sind. Besonders chic Birgit und Eva, relativ schlicht dagegen Ulla und Christl. Zunächst geht Lisa zur Tafel und schreibt ihren Namen an. Die Mädchen verhalten sich abtastend reserviert.
„Es braucht ein wenig Zeit, bis ich Sie alle mit Namen kenne, aber es wird nicht all zu lange dauern.“
Lisa erzählt kurz, wo sie herkommt, was sie unterrichtet und was die Schülerinnen bis zum Abitur erwartet. Die Schülerinnen dürfen Fragen stellen. Birgit meldet sich.
„Kann denn eine Frau überhaupt Geschichte unterrichten?“
„Alexander, der Große, Friedrich, der II., Napoleon und andere waren alles Männer. Über die wird viel erzählt. Aber es gab auch viele Frauen, die Geschichte geschrieben haben. Nennen Sie mir einige!“
Am Ende der Stunde ist die Tafel voll mit historischen Frauennamen: Kleopatra, Jean d’Arc, Marie Antoinette, Maria Theresia, Rosa Luxemburg, Bertha von Suttner, Paula Modersohn-Becker u.a. …
„Übrigens gab es auch eine Frau, die kaum einer kennt, die aber die erste zugelassene Ärztin in Deutschland war – Dorothea von Erxleben – Friedrich, der II. hat ihr seinerzeit, um 1860 das Medizinstudium ermöglicht. Allerdings dauerte es bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts bis die nächste Frau Medizin studieren konnte. “
Lisa blickt in die Klasse. Die Gesichter der Mädchen sind gespannt.
„Also, warum sollte dann nicht auch eine Frau Geschichte unterrichten?“
Die Schülerinnen scheinen mit der Antwort zufrieden und Lisa möchte eine Brücke zur Gegenwart schlagen. „Was denken Sie denn über die Rolle der Frau in unserer Zeit? Kann oder sollte eine Frau heutzutage einen Beruf ergreifen? Gibt es Berufe, die nicht für Frauen geeignet sind? Und, wenn ja, ist der Beruf wirklich für Frauen nicht geeignet oder liegt es an den Männern, die dies nicht wollen? Damit hätten wir ein erstes Thema für eine Erörterung, die wir in der nächsten Stunde verfertigen wollen.“
„Ja, Birgit?“
„Darf ich Sie etwas Privates fragen?“ Lisa nickt. „Sind Sie verheiratet?“
„Nein, aber verlobt.“
„Wo ist ihr Ring?“
„Mein Verlobter ist in Gefangenschaft.“
Da zurzeit keine weiteren Fragen auftauchen, prüft Lisa nach der Liste aus dem Klassenbuch die Anwesenheit der Schülerinnen und fragt sie nach ihrem Lieblingsfach. Die meisten nennen Kunst als Lieblingsfach.
„Ich nehme an, dass Herr Nollendorf ihr Kunstlehrer ist“, mutmaßt Lisa. Es erfolgt eine einhellige Bestätigung.
„Ulla und Christl haben Mathematik genannt. Das finde ich mutig.“
„Amyhuren!“, ruft jemand in die Klasse, ohne dass Lisa erkennen kann, wer es ist.
„Was soll das heißen?“, fragt Lisa. Schweigen. „Kann das jemand erklären?“
Eva meldet sich. „Die hängen immer mit den Besatzungssoldaten rum.“
Ulla meldet sich. „Erstens sind es Engländer und außerdem haben wir einen Putzjob im Hauptquartier, sonst nichts.“
„Putzjob nennt sich das also“, ruft Birgit in die Klasse.
„Fräulein Birgit. Ich möchte keine unaufgeforderten Kommentare hören. Haben Sie das verstanden?“
„Ja, Fräulein Hollstein.“ Birgit wirft Eva einen verschwörerischen Blick zu und senkt ihren Daumen nach unten.
„Auch nicht sehen!“, fügt Lisa hinzu. Birgit presst irgendetwas Unverständliches durch die Zähne.
Und jetzt ist Lisa mittendrin in der ‚Hölle’ wie manche Kollegen, die sie kennen gelernt hat, den Unterricht bezeichnen. Der hat nur am Rande mit reiner Wissensvermittlung zu tun, sondern eher mit Behauptungs- und Durchsetzungsstrategien. Mit ihrer ersten Stunde ist sie recht zufrieden, denn es gab keine größeren Probleme. Jedoch ahnt sie, dass es nicht immer so reibungslos ablaufen wird. Nachdem die Schülerinnen den Klassenraum verlassen haben, atmet sie erst einmal tief durch.
Nach dem Unterricht begegnen sich Lisa und Kurt Nollendorf auf dem Flur.
„Und?“, fragt Kurt.
„Die Mädels sind nicht ganz ohne. Wie sind sie denn in Kunst?“
„Alle sehr talentiert.“ Kurt lächelt ironisch.
„Das habe ich mir gedacht.“
„Ihr Vorgänger hat sich versetzen lassen. Es gab da einige unangenehme Vorfälle.“
„Ach?“
„Es hatte mit Jungen aus der Nachbarschule zu tun. Sie haben wohl einige der Mädchen dazu animiert, englische Soldaten zu bestehlen. Er hat es herausgefunden und die Jungen zur Rede gestellt. Daraufhin ist er bedroht worden.“
„Und hat es vorgezogen, den Rückzug anzutreten.“
„Nicht nur deswegen, sagen wir mal sein Unterricht war auch nicht gerade der Modernste. Sie müssen mal das Thema Deutsche Klassik aufgreifen. Es wird Ihnen Angst und Bange werden.“
„Da steht ja noch einiges vor mir.“
Kurt blickt ihr in die Augen, lächelt. „Wenn es jemand schafft, dann Sie.“
„Danke Herr Kollege, so viele Lorbeeren …“
„Falls Sie doch Probleme haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.“