Читать книгу Durch und durch - Hendrik Asten - Страница 7
Düsseldorf
ОглавлениеEs ist 1953 als sie ihre Ausbildung mit dem Lehrerexamen beendet hat. Sie besucht noch einmal den Hof der Eltern. Da der Vater kaum noch arbeiten kann, haben sie den Hof verkleinert. Sie halten keine Tiere mehr. Das hat den Vorteil, dass sie nicht regelmäßig früh aufstehen müssen. Die Mutter träumt davon, auch den Rest zu verkaufen und den Lebensabend in Italien zu verbringen. Von Italien hat sie viel von ihrem Schwager gehört, der dort schon länger lebt. Aber das kann Vater sich nicht vorstellen. Er, als Sauerländer, kann seinen Hof nicht verlassen. Und der Knecht Alfred ist immer noch da. Nicht da, sondern in der Nähe. Er hat die Tierhaltung übernommen und kauft sich nach und nach frei. Demnächst wird ihm ein Teil des Hofes gehören. Er hat sich mit den Engländern arrangiert und beliefert deren Kasernen mit Milch und Fleisch. Auch hat er jetzt eine Frau, die ihm hilft. Der Alfred grämt nicht mehr.
Für die Mutter tut es Lisa leid, aber sie muss nach Düsseldorf und steigt in den Zug. Neben einem Koffer führt sie eine Mappe mit ihren Bildern mit sich. Vielleicht kann sie die Bilder verkaufen, denn sie hat nicht viel Geld und das Leben in einer Großstadt ist bestimmt nicht billig. Herberts Eltern, die Mühlbecks, haben ihr eine preisgünstige Pension besorgt. Sie sind nach dem Krieg nach Düsseldorf gezogen, wo Mühlbeck sich wieder selbständig gemacht hat. In der Umgebung des Dorfes hatte er als ehemaliger Nazi keine Chance. Obwohl er kein Hundertprozentiger gewesen war, mieden die Leute den Kontakt zu ihm und kauften lieber woanders ihre Lebensmittel. Das fand Lisa feige, weil die meisten nicht anders dachten als er und jetzt drehten sie ihr Fähnlein nach dem Wind.
Die Mühlbecks, die es inzwischen wieder zu einigem Wohlstand gebracht haben, hatten ihr angeboten, bei ihnen zu wohnen. Doch sie hatte abgelehnt. Nein, das wäre ihr doch zu nah und zu ungewiss gewesen. Was, wenn Herbert nicht mehr zurückkäme?
Der Dampf der Lokomotive verklärt den Blick auf vorbeihuschende Dörfer und Felder. Im Abteil sitzen zwei weitere Frauen, etwa in Lisas Alter. Die eine ganz elegant in einem glockenförmigen Kostüm und mit einer Frisur, wie sie sicher nur ein Großstadtfriseur zustande bringt. Die andere schlicht und unauffällig. Ihr gehört ein großer Karton, der mit einer Schnur zusammengebunden ist. Die Schlichte rutscht immer wieder auf der Sitzbank hin und her, als wüsste sie nicht, wie sie richtig sitzen soll. Die Elegante betrachtet selbstzufrieden ihre Fingernägel, zupft den Rock zurecht und fährt sich vergewissernd über die Haare. In ihrer Vorstellung tauscht Lisa die Kleidung der Frauen und gibt der Schlichten eine andere Frisur. Obwohl ihrem Gesicht etwas Herbes innewohnt, könnte sie sich durchaus als Schönheit behaupten. Aber das hat sie offensichtlich gar nicht vor, denn sie will nur ein Paket ausliefern und nicht in der Stadt bleiben. Lisa kommt sich vor, wie eine Mischung aus den beiden. Sie ist keine Schönheit, aber doch ansehnlich, sie trägt keine exklusive Kleidung, aber doch … Ist ihre Kleidung wirklich angemessen? Werden die Schülerinnen sie vielleicht auslachen? Eine Unterprima - Mädchen, die in einer Großstadt aufgewachsen sind. Warum gleich eine Unterprima? Aber da gab es wohl einen plötzlichen Ausfall. Es wird schon irgendwie hinhauen. Schließlich hat sie den Schülerinnen etwas zu sagen, viel zu sagen, damit so etwas nicht wieder passiert. Dann spürt sie plötzlich den Blick der Eleganten und sie entgegnet ihm. Aber sie ist froh, dass die Frau nur lächelt und nichts sagt. Sie lächelt zurück.
Der Zug fährt in den Düsseldorfer Hauptbahnhof ein. Die Bahnsteige sind voller Menschen. Lisa versteht nicht gleich, sie sehen nicht wie normale Bahnpassagiere aus. Auf dem Bahnsteig kämpft sie sich durch die Menge. Es sind meistens Frauen, die Fotos von Soldaten oder Namensschilder hochhalten. Sie warten auf die Heimkehrer aus der Gefangenschaft. Dazwischen irren einzelne, ausgemergelte Männer umher, blicken ratlos auf die Frauen und die Fotos. Immer wieder werden sie von den Frauen gefragt, ob sie den oder den gesehen haben, wissen, ob er noch lebt. Herbert könnte dabei sein, denkt Lisa. Aber die Mühlbecks haben nichts davon erzählt, dass sie etwas von ihm gehört haben. Vielleicht konnte er auch gar nichts mitteilen und steht plötzlich einfach da. Es schaudert Lisa. Damit hat sie nicht gerechnet.
„Lisa!“ Frau Mühlbeck hat sie entdeckt und stürzt auf sie zu. „Da bist du ja! Herzlich willkommen!“
„Guten Tag, Frau Mühlbeck“, sagt Lisa und streckt ihr eine Hand entgegen.
Aber Frau Mühlbeck ignoriert es und umarmt sie mit mütterlicher Geste. „Wir freuen uns so, dass du da bist. Wie war denn die Fahrt?“
„Ruhig, nichts Besonderes“, antwortet sie.
„Schön. Komm, ich nehme dir wenigstens die Mappe ab. Gustav wartet draußen. Er will den neuen Wagen nicht alleine lassen.“ Frau Mühlbeck nimmt die Mappe und geht voran.
Während sie gehen, blickt Lisa sich um. Noch nie war sie in einem so großen Gebäude und hat noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Na, denn!
Vor dem Bahnhofsgebäude fällt ihre Aufmerksamkeit auf ein riesiges Plakat. ‚Alle sollen besser leben’ steht darauf. Es ist Werbung für eine Industrie- und Konsumausstellung.
„Moment“, sagt Lisa, als sie draußen sind. Sie will sich erstmal umschauen und Luft holen. Es sind nicht so viele Menschen wie im Bahnhof zu sehen. Die meisten tragen gepflegte bis elegante Kleidung, als hätten sie eine geheime Absprache mit der Glockenkostümfrau aus dem Zug. Auf der Straße fahren einige blitzende Autos, aber es sind mehr Motorräder, Dreiradtransporter und hauptsächlich Fahrräder. Sie gehen weiter und kommen zum Parkplatz.
Gustav Mühlbeck steht neben einem nagelneuen 180er Mercedes. Mühlbeck reicht ihr die Hand und verstaut Koffer und Mappe im Kofferraum. Stolz setzt er sich ans Steuer. „Er ist gerade mal zwei Wochen alt. Hat nicht jeder.“
Lisa, die hinten sitzt, prüft das Polster mit der Hand und nickt anerkennend. „Ein schönes Auto“, sagt sie.
Mühlbeck fährt los. „52 Pferdestärken, kann über 100 km/h schnell fahren. Eine Wucht!“
Lisa blickt aus dem Fenster. „Ich dachte, es wäre mehr zerstört.“
„Viel weniger als in Köln. Da kann man von Glück reden“, antwortet Frau Mühlbeck. „Aber es hat auch hier gereicht.“
Lisa folgt den Mühlbecks in ihrer Villa durch ein üppig ausgestattetes Foyer. Freundlich lächelnd betrachtet sie altehrwürdige Kunstschinken an der Wand.
Im gediegenen Esszimmer gießt Frau Mühlbeck Kaffee ein. „Wenn der Herbert kommt, habt ihr einen schönen Anfang. Wir haben einiges zurückgelegt. Warum haben sie ihn bloß im letzten Kriegsjahr noch gezogen, mit 17 Jahren? Was eine Schande. Du und er könntet längst Kinder haben.“
Herr Mühlbeck setzt seine Tasse ab. „Es wär‘ mehr Schande, wenn er nie Soldat gewesen wär.“
„Er ist dein Sohn, Gustav“, wendet Frau Mühlbeck ein, „und ist jetzt in Gefangenschaft.“
„So ist der Krieg.“
„Schon gut.“
„Haben Sie was von ihm gehört?“, fragt Lisa.
„Nach dem letzten Brief nichts mehr. Den kennst du ja.“
„Aber am Bahnhof waren doch so viele von ihnen.“
„Sie dürfen wohl nicht alle schreiben, wann sie kommen.
Oder die Post kommt nicht durch. Ich weiß es nicht.“
Lisa blickt sich im vornehmen Esszimmer um. Frau Mühlbeck seufzt.
„Schade, dass deine Mutter nicht hier ist, es hätte ihr bestimmt gefallen.“
„Mutter in der Stadt? Das würde sie nicht überstehen.“
„Wir haben es doch auch geschafft!“, sagt Frau Mühlbeck.
„Ihr habt mit den Städtern Geschäfte gemacht, aber Vater ...“
„Ja, dein Vater war nicht in die Stadt zu kriegen.“
„Aber tief im Herzen gehören wir immer noch zum Land, nicht Gustav?“
Herr Mühlbeck hüstelt nur.
„Willst du nicht doch hier bleiben? Wir hätten wirklich Platz.“
„Danke nochmals. Ich will zunächst auf eigenen Füßen stehen. Wenn Sie das verstehen. Sie haben schon so viel für mich getan.“
Frau Mühlbeck zuckt die Schultern. „Na dann.“