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Die Pension

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Mühlbeck setzt Lisa vor einer Pension ab und trägt ihr Gepäck zur Tür. Die Mappe mit ihren alten Bildern nimmt sie selbst. Distanziert gibt er ihr die Hand. „Lisa – alles Gute.“

„Danke, Herr Mühlbeck.“ Lisa blickt ihm nach.

Er steigt in seinen neuen Wagen und winkt nur kurz über die Schulter, ohne sich umzuschauen. Lisa seufzt und klingelt an der Pensionstür. Die Inhaberin öffnet. Es ist eine stattliche, sehr weibliche Erscheinung, der Lisa gegenüber steht.

„Du musst das Fräulein Hollstein sein“, empfängt sie die Wirtin gluckernd, als habe sie gerade einen guten Witz gehört. „Ich bin die Martha – vor und zu.“

„Vor und zu?“, fragt Lisa.

„Martha, sonst nichts. Komm erstmal rein Mädel, damit ich dich beschnuppern kann.“

Lisa folgt ihr wie geheißen in eine Art Esszimmer. Das Haus ist schlicht, aber gemütlich eingerichtet.

„Kannst erstmal deine Sachen hier lassen. Wir trinken einen Kaffee und dann zeig ich dir dein Zimmer.“

Lisa stellt ihr Gepäck ab und setzt sich an einen Tisch. Martha gießt ihr ein.

„Echter Bohnenkaffee. Wir haben zurzeit mit dir fünf Gäste. Alles dabei: Buchhalter, Rechtsanwalt, Vertreter und auch eine Dame, du bist die zweite Frau.“

„Hat die Dame keinen Beruf?“

„Nein, sie ist nur Dame.“

„Aha!“

„Und du …Ich darf doch ‚du’ sagen?“

„Natürlich.“

„Und du willst Lehrerin werden?“

„Ich bin’s schon.“

„So, so.“

Lisa weiß nicht genau, wie sie diese Antwort deuten soll.

„Er ist also noch in Gefangenschaft?“

„Herbert? Ja.“

„Da musst du aufpassen.“

„Wieso?“

„Wenn die Männer zurückkommen, sind sie oft nicht mehr dieselben. Viele Frauen wissen das nicht, sind froh, wenn ihr Mann wieder da ist und merken zu spät, wie sehr er sich verändert hat.“

„Das ist nach der langen Gefangenschaft ja auch kein Wunder.“

„Schön! Du läufst mit offenen Augen durchs Leben.“

„Sind Sie … Bist du verheiratet?“

Martha seufzt. „Ich zeig dir mal was.“ Sie springt behände auf und holt ein kleines eingerahmtes Foto von der Anrichte. „Hier! Das ist Harry.“

Lisa blickt auf das Foto. „Ein Engländer!“

Martha gluckst wieder. „Ja, ein toller Typ. Er ist leider schon 1950 versetzt worden. So einen findet man nicht so schnell wieder.“

„Das heißt, du siehst ihn gar nicht mehr?“

„Leider nein.“

„Wo ist er jetzt stationiert?“

„Er ist wieder in England und …“

„Ja?“

„Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“ Ohne weitere Erklärung steht Martha auf und Lisa nimmt ihre Sachen und folgt ihr in ein kleines möbliertes Zimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal und ein kleiner Tisch mit einem Stuhl erwarten sie.

„Na?“, fragt Martha. „Das ist doch alles, was du brauchst.“ Martha schaut auf die Mappe. „Bilder?“

„Nur als Hobby.“

„Mmh“, ist Marthas einzige Reaktion.

Lisa fragt sich, warum Martha plötzlich so kurz angebunden ist, es muss etwas mit ihrem Harry zu tun haben.

„Ich lasse dich jetzt erstmal allein, ich muss das Abendessen vorbereiten.“

„Fräulein Martha!“, gellt plötzlich ein Ruf durch die Pension. Martha zuckt zusammen und läuft hinaus.

Lisa blickt ihr konsterniert hinterher, geht zur Tür, schließt sie bis auf einen Spalt und schaut hinaus. Sie sieht eine ältere Dame, die mit einem Regenschirm umherfuchtelt und lauthals deklamiert. Sie trägt ein rosafarbenes Kostüm im Stil der Vorkriegszeit, mit übergroßen Kragen, dazu einen blauen Hut mit Schleier.

„Mein Zimmer ist wieder mal nicht gelüftet. Ich werde mir noch die Parasitis holen. Mein holder Gatte würde sich im Grab rumdrehen, wenn er sähe, wie ich jetzt leben muss.“

Martha bleibt ruhig. „Frau Doktor, wenn Sie es wünschen, lüften wir gerne noch einmal.“

„Sind Sie verrückt? Soll ich mir eine Lungenentzündung holen?“

„Es ist schon besser, wenn Sie mir den Schirm geben. Sonst können Sie sich anstecken. Sie wissen doch – die Zellen.“

„Die Zellen, diese kleinen bösen Zellen? Ach ja, Sie haben Recht. Hier, der Schirm.“ Die ältere Dame übergibt Martha fast angeekelt den Schirm, um sich danach völlig ruhig zurückzuziehen.

„Ich rufe Sie zum Abendessen, Frau Doktor.“

Lisa blickt sich in ihrem Zimmer um. Es ist einfach und schlicht, genau das Richtige für den Anfang. Sie packt ihre Tasche aus und räumt Kleidung und wenige Bücher in Regale und Schränke. Als sie fertig ist, setzt sie sich aufs Bett und betrachtet ihr Werk. Ihr Blick fällt auf die Mappe mit den Bildern. Kurz entschlossen steht sie wieder auf, greift sich ihre Jacke und die Mappe. Bei Martha erkundigt sie sich nach einer Galerie. Bis zum Abendessen will sie wieder zurück sein.

Es ist nicht weit bis zur Altstadt, in der Martha ihr eine Adresse genannt hat. Sie fühlt sich beflügelt – ein neuer Anfang steht bevor. Neugierig beäugt sie die Auslagen der Geschäfte, sieht Dinge wie elektrische Gerätschaften, deren Zweck ihr sich nicht gleich erschließt. Die Menschen, an denen sie vorübergeht, scheinen ihr zuzulächeln. Einige nicken sogar und einmal grüßt ein Mann, indem er seine Hutkrempe berührt. Das in einer Großstadt! Oder bildet sie sich alles nur ein? Nein, die Stadt scheint sie begrüßen zu wollen. Es war die richtige Entscheidung! Und nun will sie sich noch von einem alten Ballast befreien und ihre Bilder verkaufen. Vielleicht ein kleines Startkapital, um sich neu einzukleiden, um dem neuen Anfang auch äußerlich Ausdruck zu verleihen.

Dann steht sie schon vor der Galerie, die links und rechts neben dem Eingang Schaufenster hat, in denen Bilder hängen. Sie hatte Landschaften oder Porträts erwartet, aber jetzt sieht sie etwas, was sie noch nicht gesehen hat: Seltsam anmutende, amorphe Formen, variierende Farbigkeiten. ‚Was soll das?’ denkt sie, ‚Wer kauft denn so was?’ Sie muss über die Spinnereien lächeln.

Sie geht hinein. Die Tür erzeugt einen Klingelton. Auch drinnen hängen diese seltsamen Bilder. Ein älterer Herr kommt aus einem hinteren Raum.

„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag, ich möchte Ihnen Bilder zum Kauf anbieten. Aber ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Es handelt sich um Landschaften.“

„Landschaften? Landschaften hatten wir schon lange nicht mehr im Angebot. Aber lassen Sie mal sehen.“

Der ältere Herr reibt sich zu Lisas Verwunderung die Hände und sie öffnet die Mappe.

„Verkaufen Sie sich immer so schlecht?“, tönt eine Stimme aus dem Hintergrund und kurz darauf erscheint ein junger Mann um die dreißig.

„Wie meinen?“, entfährt es Lisa.

„Na, die meisten Künstler sind vollkommen von sich selbst überzeugt und halten sich für großartig.“

„Doch, das bin ich auch. Ich habe nur keine Zeit mehr für die Malerei und bin daher keine Künstlerin. Ich muss leider damit abschließen.“ Lisa betrachtet den jungen Mann, der sich dann als Kurt Nollendorf vorstellt. Er hat kurzes, dunkles Haupthaar, einen Vollbart, eine kräftige Statur und trägt ein Sportsakko.

„Nollendorf? Heißt so nicht ein Professor an der Kunstakademie?“

„Mein Onkel.“ Er wendet sich an den älteren Herren. „Nun, Herr Meisenberg. Was sagen Sie?“

„Respektabel. Ich habe lange nicht mehr …“

„Ich weiß, Landschaften sind Ihr Faible. Aber die gehen leider zurzeit sehr schlecht. Wir haben inzwischen eine Aufbruchsstimmung in der Kunst.“

„Die hatten wir doch schon mal“, bemerkt Lisa.

„Aber das können Sie nicht vergleichen. Diesmal geht es um etwas ganz Neues.“

„Und meine Bilder?“

Nollendorf blickt auf die Bilder, die Meisenberg nacheinander hochhält. „Passabel, nicht untalentiert, aber eben nicht zeitgemäß.“

„Wie viel?“, fragt Lisa.

„Ein Hundert Mark für die Mappe.“

„Ein Hundert?“

„Das ist viel Geld!“

„Es sind 15 Bilder. Ich hatte mindestens mit 600 gerechnet.“

„Das heißt 40 pro Bild. Ich müsste jedes dann für 60 verkaufen.“

„Tun Sie es doch!“

„300? Mein letztes Angebot.“

„Einverstanden.“

Lisa ist stolz. Allerdings irritiert sie der neue Kunstkram.

Sie erscheint ein wenig zu spät zum Abendessen in der Pension. Martha stellt sie vor. Die Anwesenden, vertieft in Schinken, Kartoffeln und Sauerkraut nicken nur. Lisa setzt sich und ihr Blick schweift in der Runde umher. Sie versucht einzuschätzen, wer der Rechtsanwalt, der Vertreter und der Buchhändler ist. Der Herr rechts neben ihr, ein sehr akkurater Fliegenträger, reicht ihr die Schüssel mit den Kartoffeln.

„Bleske, Rechtsanwalt“, stellt er sich vor.

Von links reicht ihr der Inhaber eines blauen Anzuges mit schwarzem Kragen das Sauerkraut. „Mühlig, Handelsvertreter.“

Der Schinken wird ihr von Martha aufgelegt, die noch immer hinter den Gästen umherschwirrt, um dann an der Anrichte stehen zu bleiben.

Also ist der Herr gegenüber, der eine Strickweste trägt, der Buchhalter.

„Das ist Meppens. Der mit den Zahlen“, erklärt die Dame. „Nicht wahr, Meppens, Sie haben es doch mit den Zahlen?“

„Meppens, angenehm“, sagt der Strickwestenmann, um gleich weiter zu essen.

„Lehrerin, pah!“, äußert die Dame, ohne es weiter auszuführen. „Warum heiraten Sie nicht?“

„Weil auch Frauen einen Beruf haben können und sollten!“

„Pah!“

„Die Ausstellung … Waren Sie schon auf der Ausstellung?“ fragt Mühlig in die Runde.

Alle schütteln den Kopf.

„Martha, da gibt es wunderbare Maschinen für die Küche. Die nehmen Ihnen alle Arbeit ab. Grandios!“

„Können die für mich einkaufen gehen? Kartoffeln schälen oder kochen?“

„Seien Sie doch mal realistisch. Das kommt alles noch. Aber mixen und schneiden, Kaffee kochen, kühlen und Dampfkochen.“

„Gehens“, sagt die Dame. „Das hatten wir doch schon mal alles und führt zu nix.“

„Wie meinen Sie das?“, ereifert sich Mühlig.

„Wollen Sie ein ordentliches Dienstpersonal ersetzen? Soll anstatt Martha eine Maschine unser Essen servieren?“

Alle schauen sich an und sind sich einig, dass sie sich das nicht vorstellen können.

Meppens meldet sich zu Wort: „Solch eine Maschine kostet vielleicht 200 Mark. Eine einmalige Anschaffung. Wenn Sie den Kaffee nicht immer selbst aufbrühen müssten, sparen Sie damit im Monat – Moment: Jeden Tag vielleicht fünf Minuten – hochgerechnet also etwa 150 Minuten. Das wäre allein beim Kaffeekochen eine Ersparnis von etwa 8 Mark. Das heißt nach 25 Monaten hätte sich die Anschaffung rentiert.“

„Quatsch!“, sagt die Dame. „So eine Maschine wird ihr Leben ruinieren, glauben Sie mir.“

Lisa ist amüsiert über die illustre Gesellschaft. Alle scheinen mit sich selbst beschäftigt zu sein. Nur Mühlig hat sie gefragt, was sie denn unterrichte. Nach der Antwort hat er schnell das Thema gewechselt. Deutsch und Geschichte – Deutsche Geschichte. Acht Jahre erst ist der Krieg vorbei. Warum tut sie sich das an? Warum will sie in Wunden herumstochern, die noch nicht verheilt sind? Sie versteht Mühlig, der nur nach vorne denken will. Das ist gut so. Aber die Schülerinnen, die sie unterrichten wird, haben die letzten Kriegsjahre noch als Kind erlebt. Kann sie mit ihnen, die unschuldig am Geschehenen sind, über das reden, was geschehen ist? Oder wollen sie auch nur nach vorne blicken? Ist das ‚nur’ wirklich berechtigt?

Durch und durch

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