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Engländer

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Wie sie befürchtet hat, stößt Lisa bei ihrer Rückkehr in die Pension auf die Dame, die diesmal keinen Regenschirm trägt, sondern ein Buch vor sich hält. Sie zitiert daraus - Kleist, der ‚Zerbrochene Krug’.

„Ach das Frollein. Das beruhigt mich, denn es ist gerade eingebrochen worden.“

„Hier? In die Pension?“

„Nein, Gott vergelt’s. Hier im Buch.“

„Ist doch nur ein Buch.“

„Angst habe ich trotzdem. Das kann ja auch hier gewesen sein. Warum schreibt er denn das sonst?“ Die Dame schaut sich um, als ob sie beobachtet würden.

„Ein Buch ist ein Buch! Alles erfundene Geschichten, damit es recht gruselig wird. Der das geschrieben hat, lebt doch längst nicht mehr.“

„Aber woher weiß denn der Kleist von dem Einbruch, wenn er nicht mehr lebt?“

„Weil es ein anderer Einbruch war …“

„Wenn es einen anderen gab, gab es auch den einen.“

Lisa runzelt die Stirn und nimmt ihre ganze Geduld zusammen. Dennoch amüsiert sie etwas an der Logik der alten Dame. Wieso ist die Phantasie nicht wirklicher als die Realität? „Aber in der Pension gab es doch keinen. Es gab nur einen in der Phantasie und der ist schon lange her.“

„Wenn Sie das so sehen. Meinen Sie das wirklich so?“

„Wenn es hier keinen Einbruch gegeben hat, meine ich es so.“

„Wo waren Sie denn beim Abendessen?“

„Ich habe woanders gespeist.“

„Dass Sie sich das leisten können.“

„Entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu arbeiten.“

„Auf Ihrem Zimmer?“

Lisa bemüht sich, höflich zu bleiben. „Ich brauche schon meine Ruhe, damit ich mir ausdenken kann, was ich morgen die Schüler unterrichte.“

„Ich könnte Ihnen da schon was erzählen, was Sie unterrichten können.“

„Vielen Dank, wir haben da schon unsere…“ Lisa überlegt, wie sie Begriffe vermeiden kann, die sie erklären müsste. „… Vorschriften und Lehrbücher. Daran muss ich mich halten. Ein anderes Mal komme ich gerne auf Ihr Angebot zurück.“

„Da ist zum Beispiel der Ägyptenfeldzug Kaiser Napoleons. Da war nämlich mein Urgroßvater dabei. Ich habe noch seine Unterlagen.“ Die Dame wendet sich ohne weitere Erklärung ab. Lisa blickt ihr erstaunt hinterher. Will sich die Dame nur interessant machen oder hat sie wirklich Originalunterlagen, die vielleicht noch kein Forscher zu sehen bekommen hat?

Es dauert nicht lange, bis Lisa die Unterhaltung mit der Dame vorerst vergessen hat. Sie hat die Aufsätze der Schülerinnen durchgesehen. Natürlich mangelt es an Rechtschreibung und Grammatik: ‚Frauen sollten daher berufliche Umwege ihres Mannes unterstützen.’ ‚Vieler Orts können sich Frauen daher beruflichen Beratungen bedienen.’ Das geht ja noch. ‚Heimchen am Herd ist des Glückes Schmied!’ ‚Abwesende Männer sind ein Produkt der neuen Rolle der Frau.’ ‚Berufe sind dazu da, keine Langeweile zu haben. Hatt mann doch einen Beruf ist es der Falsche.’

Während die meisten Aussagen nachvollziehbare oder verzeihbare Fehler aufweisen, wurde Lisa bei der letzten dann doch sehr aufmerksam. Sie stammt von Eva, die ja eine der dominierenden Schülerinnen der Klasse ist. Wie hat sie es auf die Oberstufe eines Gymnasiums geschafft?

Herbert! Sie hat in der Tat in den letzten Stunden nicht mehr an die Begegnung gedacht. Da könnte sie ja beinah der Dame und ihren Schülerinnen dankbar sein. Möglich, dass Herbert sich körperlich wieder erholt. Aber seelisch? Irgendwann vielleicht. Aber das kann sie ihm nicht vorwerfen. Sie muss bei ihm bleiben. Er wird die Geschäfte des Vaters übernehmen, wird Geschäftsmann sein. Für Frau und Familie sorgen. Sie wird Hausfrau sein. Bei dem Gedanken fröstelt es sie, als ob sie durch eine eiskalte Winternacht liefe.

Jemand klopft an die Tür. Lisa hofft, dass es nicht die Dame ist. Sie öffnet.

„Einen schönen Abend, junge Frau“, grüßt Martha mit einem einnehmenden Lächeln. „Ich bin’s – die Glücksfee.“

„Martha! Ich habe noch zu tun.“

„Nee, jetzt nicht mehr!“

„Martha!“

„Ich habe beschlossen, dass wir unbedingt dein neues Kleid einweihen müssen.“

„Jetzt?“

„Ja, am Donnerstag ist bei den Engländern Tanztee. Das dürfen wir nicht verpassen.“

„Geh doch ruhig. Ich muss noch vorbereiten.“

„Ich geh doch nicht alleine, du musst mich schon begleiten.“

Lisa kann schließlich irgendwann Martha nicht widerstehen. Zumal sie erzählt hat, dass sie seit ihrem englischen Offizier Harry, keinen Männerkontakt mehr hatte und auch nicht alleine zum Tanztee gegangen ist. Natürlich treibt Lisa auch eine gewisse Neugierde und die Vorfreude, sich im neuen Kleid nicht mehr als Lehrerin zu fühlen. Es ist außerdem lange her, dass sie getanzt hat. Und so lässt sie sich von Martha mitziehen. Es ist draußen warm genug, so dass sie keine Mäntel brauchen. Lisa muss sich für Marthas Aussehen nicht schämen. Sie trägt ein grünes, hochgeschlossenes Kleid mit kurzen Ärmeln, das ihr gut steht. Beide wirken ein wenig wie Mutter und Tochter mit gutem Geschmack. Taktvoll fragt Martha nicht nach der Begegnung mit Herbert. Jedenfalls nicht direkt, ihre neugierigen Blicke sagen etwas anderes. Bevor sie das Tanzcafé erreichen, bleibt Lisa daher stehen.

„Und?“, fragt Martha.

„Es ist nicht einfach. Wir brauchen Zeit!“

„Das ist doch klar!“ Martha umarmt Lisa einfach und insistiert nicht weiter.

Im Tanzcafé tanzen englische Soldaten Arm in Arm mit deutschen Frauen. Lisa und Martha sitzen auf einer Empore und haben einen guten Ausblick auf die Tanzfläche.

„Siehst du“, sagt Martha. „Kein Harry weit und breit. Keiner, der mit einer wie mir tanzen möchte. Aber du bräuchtest nur mit den Fingern zu schnipsen und …“ Martha schnipst mit den Fingern. „… und schon kämen sie alle.“

Ein englischer Offizier mittleren Alters beobachtet den Tisch der beiden. Als er Martha schnipsen sieht, geht er dorthin.

„Sorry, die Damen, darf ich …“

„Geh schon, Lisa.“

Er wendet sich an Martha: „Aber verzeihen Sie, ich meinte Sie, mein Frollein.“

Lisa lacht: „Geh nur Martha, ich komm schon klar.“ Sie deutet das Fingerschnipsen an.

Auf der Tanzfläche begegnen sich Martha, ihr Kavalier und Lisa, die inzwischen auch aufgefordert wurde.

Die Mädchen Birgit, Eva und Gudrun betreten das Café. Sie sind ziemlich aufgedonnert. Sofort werden ihnen schmachtende Blicke zugeworfen. Ein junger Mann folgt ihnen. Es ist Erwin, ein Schüler der benachbarten Jungenschule. Mit einem Kopfnicken gibt er den Mädchen zu verstehen, dass sie zur Theke gehen sollen. Schnell stehen zwei Soldaten neben Birgit und Eva, was Erwin mit Genugtuung beobachtet.

Gudrun blickt sich erwartungsvoll um, auch sie möchte, dass sich ein zahlungswilliger Engländer zu ihr gesellt. Aber dann entdeckt sie plötzlich Lisa auf der Tanzfläche. Erschrocken teilt sie ihre Beobachtung sofort den Freundinnen mit. Hektisch tuscheln die Mädchen miteinander und wenden sich ab. Birgit weiht Erwin ein, der sie dann in den hinteren Teil des Cafés beordert.

Nach einigen Tänzen verabschiedet Lisa sich von ihrem Tanzpartner und geht zum Tisch zurück. Sogleich wird sie von einem anderen Mann aufgefordert, aber sie lehnt ab. Auch, weil die neuen Schuhe drücken. Sie zieht die Schuhe aus, reibt die Füße gegeneinander und steckt sich eine Zigarette an. Martha taucht auf, ihren Kavalier im Schlepptau.

„Stell dir vor“, sagt sie. „John war auch in Harrys Regiment. Ist das nicht phantastisch?“

„Natürlich Martha, aber ich muss jetzt langsam nach Hause.“

„Aber ja, ich komme natürlich mit.“

„Danke, aber ich schaffe das schon alleine.“

„Excuse me“, mischt sich der Offizier ein. Er schlägt vor, dass er Lisa und Martha zur Pension fährt.

Birgit, Eva und Gudrun verlassen das Café und treffen sich mit Erwin in einem Hinterhof.

„Zeigt mal, was ihr eingenommen habt“, fordert er sie auf.

Die Mädchen kramen in ihren Handtaschen. Stolz präsentiert Birgit ein paar englische Pfund und Eva immerhin eine Stange Zigaretten. Gudrun zuckt die Schultern.

„Kein Wunder“, kommentiert Erwin. „Du hast einen Chic wie eine alte Hutschachtel.“ Erwin verteilt einige Pfundnoten an Birgit und Eva, Gudrun erhält nichts.

„Das muss besser werden“, fordert er und tippt Birgit und Eva zwischen die Brüste. „Du bist raus!“, sagt er zu Gudrun.

„Aber, wenn die Hollstein plötzlich auftaucht? Wie sollen wir dann arbeiten?“, fragt Eva.

„Da müsst ihr euch was einfallen lassen. Sonst geht ihr leer aus.“

„Mist! Aber was denn?“, will Eva wissen.

„Und besorgt Ersatz für die da!“ Er zeigt auf Gudrun.

Lisa sitzt auf der harten hinteren Sitzbank des Jeeps. Vorne strahlt Martha John an, der seine linke Hand auf ihr Knie gelegt hat. Er erzählt, dass er nicht in einer Kaserne sondern in einem Privathaus wohnt, viel zu groß für einen, der alleine ist. Martha seufzt. Sie tut Lisa leid, weil sie ahnt, dass Martha gerne mit ihm fahren würde, aber natürlich die Pension nicht vernachlässigen kann. Aber dann ist sie doch verblüfft, als Martha John einfach in die Pension einlädt. Da alle Zimmer besetzt sind, kann er nur in ihrem Schlafzimmer übernachten. Lisa freut sich für Martha, dass sie endlich ihre selbst auferlegte Abstinenz überwunden hat.

In der Pension ist Martha dann doch ein wenig zurückhaltender und bittet John und Lisa ruhig zu sein, da die anderen Gäste schon schlafen. Aber als Lisa selbst im Bett liegt, kann sie hören, dass Martha ihre Zurückhaltung aufgegeben hat – ihr Zimmer liegt direkt über Marthas Schlafzimmer. Hoffentlich wird keiner der anderen Gäste wach. Sie selbst hätte bestimmt auch einen der anderen Soldaten haben können. Manchmal stört es sie, dass sie noch Jungfrau ist, obwohl der Krieg vorbei ist. Vielleicht hätte sie mit Herbert schlafen sollen, bevor er eingezogen wurde. Sie stellt sich vor, wie es gewesen wäre. Hätte sie auch so geschrien, wie Martha es tut? Oder wäre es bei ihr anders gewesen? Ja, sie hat Herbert auch körperlich begehrt, sich in der Phantasie vorgestellt, dass er sie streichelt, bis sie fast wahnsinnig wird und dann in sie eindringt. Das Gefühl, das durch zärtliches Streicheln entsteht, kennt sie und sie kann es sich verstärkt vorstellen, wenn man dabei nackt ist, den Körper des anderen nicht nur durch Hände wahrnimmt, sondern die ganzen Körper aneinander presst, schwitzend und vor Wollust zitternd. Sie führt ihre Hand zwischen ihre Beine. Aber das ist nicht dasselbe und sie denkt dabei auch nicht an Herbert, obwohl sie es will. Ein anderer Mann drängt sich in den Vordergrund. Ein anderer Mann? Nein! Doch! Verdammt! Es ist Kurt.

Als Lisa am nächsten Morgen den Speiseraum betritt, war Martha schon aktiv und hat den Tisch gedeckt. Fröhlich summend bringt sie gerade Kaffee herein. Aus der Küche hört man noch jemanden. John scheint ihr zu helfen. Lisa schaut Martha fragend an.

„Ist was?“, fragt Martha beschwingt.

„Nein, nein. Alles in Ordnung?“

Martha beugt sich zu Lisa vor. „That’s the way I like it.”

„Me too”, fügt John im Türrahmen stehend hinzu. „Tea is ready!“

“Thanks, John. I hope my guests will enjoy the tea.”

“I know, they’re coffeefreaks, maybe they’ll change their mind. Lisa, do you want to taste a cup of tea?”

“Why not, it wouldn’t hurt me.”

“Oh, your English is brilliant.”

“Thanks, John. I think your tea also.”

Plötzlich steht die Dame im Raum. „To be or not to be? Dats te kestion.”

John ist ganz amüsiert. “Welcome Lady, there is another native speaker. Please take a seat.” Er eilt zu einem Stuhl und zieht ihn für die Dame zurück und fordert sie mit einer einladenden Geste auf, sich zu setzen.

„Thank you. You’re a real gentleman. But I’d like to sit on my own chair”, formuliert die Dame fehlerfrei. Als sie merkt, dass sie von allen erstaunt angesehen wird, fühlt sie sich zu einer Erklärung bemüßigt. „My husband and I spent a long time in Egypt and we used to have our conversations in settled English.”

Lisa wundert sich sehr. Auf Englisch scheint die Dame völlig normal zu sein.

Als die anderen Gäste dazu stoßen, wird allerdings wieder Deutsch gesprochen.

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