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Kapitel 10
ОглавлениеDas Ehepaar Dunkerbeek hatte Lene Huscher und Thomas Sprengel vorgeschlagen, im Restaurant des Hotels zu essen. Gerne hatten die beiden zugestimmt. Das Essen, sogenannte »Fusion-Küche«, war sehr gut, wenn man das mochte. Dazu hatten sie einen Tisch reservieren können, der einen freien Blick auf die Bucht und den inzwischen aufgezogenen Sternenhimmel gewährte. Es dauerte natürlich nicht lange, bis die beiden Paare auf das allgegenwärtige Gesprächsthema der letzten Tage zu sprechen kamen.
»Wissen Sie eigentlich inzwischen, wem Sie das Leben gerettet haben?«, erkundigte sich Frau Dunkerbeek, weil in der hiesigen Zeitung kein Name erwähnt worden war. Deshalb hätte sie allerdings nie an der Rezeption gefragt oder Unbeteiligte darauf angesprochen. Durchaus auch zum Bedauern von Thomas Sprengel und Lene Huscher waren sie dem Ehepaar Dunkerbeek immer nur kurz über den Weg gelaufen, seit sie sich kennengelernt hatten.
»Magdalena Himmelreich«, antwortete Lene Huscher auf ihre Frage. »Und Sie werden es kaum glauben, die Familie lebt wie wir in Heidelberg – leider in Zukunft ohne Familienvater, der ja nur noch tot aus dem Wasser geborgen worden ist.«
Bestürzung gepaart mit Überraschung breitete sich auf Philipp Dunkerbeeks Gesicht aus. »Sie meinen doch nicht etwa den Himmelreich?«
Lene und Thomas warfen sich einen fragenden Blick zu, wodurch Herr Dunkerbeek begriff, dass er seine Frage präzisieren musste. »Volker Himmelreich ist ... war Professor in Heidelberg, wo er einen Lehrstuhl für Personalführung und Organisation innehatte. Er forschte in den letzten Jahren in einem noch wenig beachteten Bereich der Wirtschaftswissenschaften: mitfühlende Organisationen. Über sein kleines Consultingunternehmen hat er versucht, seine Erkenntnisse und Ideen in der Praxis zu verbreiten.«
Das frisch verheiratete Paar musste gestehen, diesen Namen bisher nicht gekannt zu haben, auch wenn sie in Heidelberg lebten. Herr Dunkerbeek schien sie erst nicht zu hören. Alle konnten sehen, wie es hinter seiner Stirn kräftig arbeitete. »Das kommt sicherlich einigen sehr zupass«, murmelte er nach einer Weile kryptisch, als er merkte, dass die Anderen auf ein Fortführen seiner Erläuterungen warteten.
»Wie meinen Sie das?«, war Thomas Sprengels professionelle Neugier geweckt.
Herr Dunkerbeek suchte nach einer Formulierung, die keinen falschen Eindruck erwecken sollte. »Nein, das wäre unangebracht. Das war nur ein haltloser Gedanke, der mich gestreift hat«, wiegelte er zunächst mit sich hadernd ab.
»Du hast mal wieder schneller gesprochen als zu Ende gedacht«, lächelte Viktoria Dunkerbeek ihren Mann nachsichtig an, um ihm ein wenig aus der Bredouille zu helfen.
»So wird es wohl sein«, schien er sich gegen eine Antwort entschieden zu haben.
Das wollte der Kommissar selbst in seinem Urlaub nicht so einfach hinnehmen. Er erinnerte sich an die Frage, ob es überhaupt ein Unfall gewesen sei, die Herr Dunkerbeek beim Frühstück – wenn auch mehr im Scherz – in den Raum gestellt hatte. Da hatte der allerdings den Namen des Verunglückten noch nicht gekannt. Dennoch weckte der offensichtlich heikle Gedanke dieses aus seiner Sicht sehr integren Mannes seine Neugier. »Herr Dunkerbeek, Sie können uns doch jetzt nicht einfach zappeln lassen. Mich würde durchaus interessieren, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist. Sie haben offensichtlich eine hohe Meinung von Professor Himmelreich«, setzte er nach. »Ich versichere Ihnen selbstverständlich, dass nichts von dem, was Sie hier in einer vertrauten Runde mutmaßen, andere Ohren finden wird.« Er wandte sich an Lene: »Stimmt´s?«
Die nickte zustimmend.
»Ach, das war lediglich ein Hirngespinst«, wiegelte Herr Dunkerbeek nochmals ab. »Ich habe nur läuten hören, dass Himmelreich ein ausgereiftes Konzept mitfühlender Organisation tatsächlich in der Praxis umsetzen wollte. Falls das ein Erfolg geworden wäre, hätten einige der Herren Unternehmer und Manager in Zukunft schlecht geschlafen. Insofern sind die nun eine Sorge los.«
»Aber haben Sie nicht eben gesagt«, wandte Lene ein, »er habe das bereits über sein Consultingunternehmen getan?«
»Das war nur im Rahmen einer problemspezifischen Beratung anderer Unternehmen, die aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten hatten.«
»Verstehe ich noch immer nicht«, blieb Lene ehrlich, die sich bisher nie mit betriebswirtschaftlichen Fragen eingehender hatte befassen müssen.
»Darf ich? Oder langweilt dich das Thema, Vika?«, versicherte er sich bei seiner Frau, die ihm still zulächelte und leicht mit dem Kopf nickte. Bei einem Wohltätigkeitsball hatten sie einmal mit Himmelreichs an einem Tisch gesessen. Sie hatte die Eheleute dabei als glückliches Paar erlebt, die beide ihre Vorstellung eines mitfühlenden Miteinanders unmittelbar gelebt hatten.
»Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, das aus welchen Gründen auch immer einen hohen Anteil junger Väter oder Mütter aufweist, die wegen der Kinderbetreuung immer wieder zeitlich unter Druck geraten. Teilzeitstellen oder flexible Arbeitszeitmodelle versuchen hier bereits Entlastung zu schaffen, wenn die Mitarbeiter ansonsten aufgrund ihrer Fähigkeiten schwer zu ersetzen sind. Und Himmelreich ist noch einen Schritt weiter gegangen: Er hätte in dieser Situation statt Gehaltserhöhungen zusätzliche Urlaubstage empfohlen, die nicht nur angesammelt werden können. Wäre ein Mitarbeiter in einer Notlage ohne hinreichende eigene Urlaubszeit, könnten ihm Kollegen ihre zusätzlichen Urlaubstage auch übertragen. Auf diese Weise werden die Mitarbeiter dazu ermuntert und der Rahmen geschaffen, unter bestimmten Voraussetzungen Mitgefühl innerhalb der Organisation, also hier des Unternehmens, verstärkt zu leben. Das wäre nur ein Beispiel.«
»Und das soll funktionieren?«, war Thomas Sprengel skeptisch. »Das kostet doch, wenn alle mehr Urlaub haben.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Philipp Dunkerbeek. »Die Urlaubstage wurden ja als Äquivalent zu einer Gehaltserhöhung vereinbart.«
»Ich gebe zu, so einen Arbeitgeber hätte ich auch gerne. Obwohl ich mich als Beamter prinzipiell mal nicht beschweren will. Wenn die Leute sich nur nicht immer außerhalb der Dienstzeit umbringen lassen würden«, brachte er die Runde zu einem Schmunzeln.
»Gut. Aber wo findet sich die neue Bedrohung?«, war Lene inzwischen sehr interessiert an diesem Thema.
»Sie können mitfühlende Reaktionen durch das Implementieren verschiedener Werte und Prozesse erreichen. Aber nicht nur gegenüber den Mitarbeitern, sondern auch gegenüber den Kunden ...«
»Kunden wollen immer alles und das auch noch am besten umsonst«, wurde er von Thomas Sprengel unterbrochen.
»Trotzdem. Nehmen Sie Banken, die Mikrokredite vergeben.«
»Die wollen ebenfalls an den Kunden Geld verdienen.«
»Sicher, sonst kann das Geschäft nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden. Wir müssen alle von etwas leben. Dennoch verzichten diese Unternehmer bewusst auf Gewinnmaximierung, die sie erreichen könnten, wenn sie sich auf eine zahlungskräftigere Zielgruppe ausrichten würden. Es ist doch so, dass die Entscheidung zur Vergabe von Mikrokrediten dem Wunsch entspringt, Kleinstgewerbetreibende zu unterstützen, um deren Auskommen zu sichern. Da spielt durchaus Mitgefühl eine tragende Rolle.«
»Klar. Und nun zu dem Unternehmen von Himmelreich«, führte Viktoria Dunkerbeek das Gespräch wieder zurück.
»Ja, der wollte ein Unternehmen gründen, das umfassend einem mitfühlenden Miteinander verpflichtet ist.«
»Aber ich sehe das Problem immer noch nicht, das Sie anfangs andeuteten«, fehlte es Thomas Sprengel in dieser Hinsicht an der nötigen Phantasie.
Herr Dunkerbeek lächelte verständnisvoll. »Ein Unternehmen, das aufgrund seiner herausragenden Arbeitsbedingungen die gefragtesten Mitarbeiter an sich bindet, könnte dadurch einen erheblichen Wettbewerbsvorteil generieren. Verknüpft mit einem Produkt und Verkaufsprozessen, die die Bedürfnisse der Kunden ernsthaft in den Mittelpunkt stellen, wäre dieses Produkt unschlagbar. Der Nachteil läge vermutlich in einem höheren Preis, den der Kunde aber vielleicht durchaus bereit wäre zu bezahlen, wenn das Image als »social player« neben der normalen Kundenbindung eine Form von Commitment weckt ...«
»Commitment?«
»Übersetzen Sie das in diesem Zusammenhang mit ›sich verpflichtet fühlen‹, aber im positiven Sinn«, erklärte er geduldig. »Um die Utopie zu Ende zu formulieren: Sollte sich dies in einer Branche durchsetzen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich mitfühlendes Wirtschaften auf das gesamte ökonomische Leben ausbreitet«, schloss er seine Erläuterungen ab. »Ich kann Ihnen das hier leider nicht im Einzelnen erklären. Das würde eindeutig zu weit führen. Hätten Sie Himmelreich einmal selbst dazu gehört, könnten Sie vielleicht eher verstehen, dass dieser Mann das notwenige Charisma gehabt hätte, diese Vision umzusetzen. Außerdem war er sicherlich dazu bereit, Abstriche am Gewinn zu machen. Und hier liegt das Problem der meisten anderen Unternehmer, Anteilseigner oder Manager: Sie hassen nichts mehr als Umstände, die ihre eigenen Einnahmen schmälern.«
»Das klingt mir doch sehr, ... wie sagten Sie, nach einer Utopie«, stellte Lene Huscher trocken fest, auch wenn sie den Ansatz Himmelreichs beeindruckend fand.
»Die Menschen dachten auch erst, dass die Eisenbahn verrückt machen werde«, warf Frau Dunkerbeek ein. »Ist das nicht immer so mit großen innovativen Ideen?«
Weder Lene Huscher noch Thomas Sprengel wussten darauf etwas zu erwidern.
»Es ist ja nicht so, dass nur Himmelreich sich mit dem Thema auseinandergesetzt hätte«, merkte Herr Dunkerbeek in das Schweigen an, »es gibt andere wie Kanov, Pavlovich oder Keltner, die sehr intensiv in dieser Richtung forschen, um nur ein paar zu nennen.«
»Sehr spannend«, befand Thomas Sprengel, wobei er vom Kellner unterbrochen wurde, der so umsichtig wie diskret nachfragte, ob noch Wein gewünscht werde.
Frau Dunkerbeek hatte die Gelegenheit gezielt dazu genutzt, das Thema zu wechseln. Ihr Mann sah sie kurz dankbar an, weil er doch noch davon befreit worden war, eine mögliche Sabotage diskutieren zu müssen. Im Laufe der weiteren Unterhaltung erzählte das ältere Paar den Flitterwöchnern, wie sie vor Jahren ihr Unternehmen mangels eigener Kinder verkauft hatten. Seither verbrachten sie die meiste Zeit in Berchtesgaden, weil sie festgestellt hatten, dass ihnen das Bergklima im Alter ausgezeichnet bekam. Das Städtchen hatte sich wieder gut entwickelt, nachdem ein Investor ein neues Hotel der gehobeneren Kategorie direkt im Zentrum eröffnet hatte. Sie selbst hatten sich ein Haus oberhalb des alten Kerns gekauft, von dem aus sie einen Blick über den Ort, aber auch über das komplette Bergpanorama von Kehlstein über Göll, Jenner, Watzmann und Hochkalter genießen konnten. Im Haus befand sich eine zweite, abgetrennte Wohnung, in der immer wieder Freunde zu Besuch kommen konnten, die aber auch den Zweck hatte, später vielleicht einmal für eine Pflegekraft zur Verfügung zu stehen, falls das notwendig werden sollte. Erst an dieser Stelle fiel dem jüngeren Paar wieder das Alter ihrer Gesprächspartner auf, in dem solche Überlegungen zunehmend an Relevanz gewannen. Lene streifte kurz der Gedanke, dass auch in diesem Zusammenhang Mitgefühl gefragt sein könnte.
Lene und Thomas waren noch an den Strand gegangen, nachdem sie sich sehr spät von den Dunkerbeeks verabschiedet hatten. Still saßen sie nebeneinander im warmen Sand und schauten in den Sternenhimmel. Ihr Plätzchen befand sich etwas abseits im Dunkeln der Palmen. Ein Spaziergänger hätte sie kaum ausmachen können, weil in dieser Nacht der Mann im Mond Kinder auf der anderen Seite der Erde erfreute.
»Was denkst du?«, fragte Thomas, nachdem sie eine ganze Weile schweigend die Sterne betrachtet hatten, die sich ganz klar am Himmel abzeichneten.
»Ach, so wie die Dunkerbeeks habe ich mir immer Eltern vorgestellt«, antwortete Lene mit einer Stimme, in der Thomas ein wenig Traurigkeit mitschwingen hörte.
Er nahm sie liebevoll in den Arm. »Das ist schon ein außergewöhnlich nettes Paar«, stimmte Thomas ihr zu. »Was hältst du von der Sache, die er über Himmelreich erzählt hat?«, wollte Thomas die Richtung ihrer Gedanken ändern, weil er aus Erfahrung wusste, dass ein weiteres Eingehen auf Lenes Stimmung alles nur noch schlimmer machte.
»Keine Ahnung. Himmelreich scheint ein echter Vordenker gewesen zu sein. Aber damit die Yacht explodiert, hätte man dort eine Bombe verstecken müssen. Ist das wahrscheinlich?«
»Kommt darauf an, ob es sein eigenes Boot war«, fand Thomas es nicht unter allen Umständen unmöglich.
»Ja, aber ich halte das doch für zu weit hergeholt. Zumal nicht annähernd klar ist, ob Himmelreichs Idee überhaupt Erfolg gehabt hätte«, blieb sie weiterhin eher skeptisch hinsichtlich der Spekulation, dass jemand seine Finger im Spiel gehabt haben könnte.
»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte er ihr zu, bevor sie beide wieder verstummten.
Sie hörten den Wellen zu, wie sie langsam auf dem Sand ausliefen, eine, noch eine und wieder eine. Es war selbst zu der späten Stunde angenehm warm. Lene fühlte sich bei aller Melancholie an der Seite von Thomas über alle Maßen glücklich. Sie schmiegte sich enger an ihn und gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange. Nach ihren Nasen fanden sich auch ihre Lippen, erst nur ganz behutsam, als könnte etwas zerbrechen.
»Hast du Lust, ein nächtliches Bad zu nehmen?«, flüsterte Thomas ihr ins Ohr.
Lene antwortete nicht, sondern stand auf und zog wortlos ihre Kleidung aus. Vor dem Sternenhimmel zeichnete sich ihre schmale Silhouette ab, die bei ihrem frisch Vermählten nach wie vor den tiefen Wunsch auslöste, sie ganz und innig zu spüren. Während Thomas noch mit seinem Inneren beschäftigt war, lief Lene über den weichen Sand bis zur Hüfte ins Meer. Sie hätte eine Meerjungfrau sein können, dachte Thomas kurz, legte seine Sachen zu ihrer Kleidung und folgte Lene fast andächtig. Als er bei ihr war, glitten sie noch etwas weiter in die frischen Wellen, die ihre beiden Körper sacht umspielten. Behutsam fasste er nach ihrer schlanken Taille. Sie legte ihre Arme um seinen Hals, während sie sich zärtlich küssten. Das war der Mann, den sie liebte, immer lieben würde. Unwillkürlich schlang sie ihre Beine um seine Hüften, legte den Kopf in den Nacken und spürte ihn intensiv. Als sie die Augen öffnete, verlor sie sich in der Unendlichkeit des Sternenhimmels.