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Kapitel 5

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Der Sonnenschirm spendete ihnen angenehmen Schatten. Sonniger konnte es kaum sein, abermals verzierten Schönwetterwolken den Blick zum Horizont mit ein paar strahlendweißen Farbtupfen. Thomas Sprengel und Lene Huscher saßen auf der Terrasse ihres Hotels »Blue Skyline Lodge« nur ein paar Meter von der Sandy Lane Bay entfernt beim Frühstück.

»Hättest du Lust, die junge Frau im Krankenhaus zu besuchen?«, erkundigte er sich bei Lene, bevor er sich genussvoll eine Gabel Rührei mit knusprigem Speck in den Mund schob. Göttlich. Nachdem sich seine sportlichen Bemühungen über den Sommer immerhin um die Hüfte bereits bemerkbar gemacht hatten, erlag er gerade zunehmend den Verführungen des Frühstücksbüfetts. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die auch hier ihrer Vorliebe entsprechend morgens hauptsächlich Müsli aß und so gertenschlank blieb wie eh und je.

Sie schaute auf und runzelte kurz die Stirn. »Das ist eine gute Idee. Wir könnten das mit einem kleinen Ausflug verbinden, wenn du Lust hättest.«

Er nickte nur, weil er den Mund schon wieder voll hatte.

Lenes Gesicht bekam einen traurigen Zug, als sie an die junge Frau dachte. Sicher hatte diese Glück gehabt, weil Thomas sie noch rechtzeitig von dem Boot geholt hatte. Aber für ihren Begleiter, dem Alter nach hätte sie auf den Vater getippt, war jede Hilfe zu spät gekommen. »Ich möchte nicht wissen, wie es ihr geht, wenn sie von dem Tod ihres Vaters erfährt«, drückte Lene ihr Mitgefühl aus.

»Ich auch nicht. Meinst du, das war der Vater?«, fragte Thomas zu interessiert, um zuerst zu Ende zu kauen.

Lene schaute ihn ausdruckslos an, wobei sie keinerlei Ambitionen zeigte, ihm zu antworten.

Thomas verstand sie ohnehin. Eilig schlang er den guten Speck hinunter. »Mir ist durchaus bewusst, dass du damals ›in jeder Hinsicht kultiviert‹ gesagt hast.« Mit einem lausbübischen Grinsen fügte er jedoch an: »Es ist nur so: Du bringst mich ganz um den Verstand. Da bin ich gar nicht mehr Herr meiner Sinne.« Treuherziger konnte kein Mann schauen.

»Jaja«, antwortete sie trocken. Aber dieses Mal kostete es sie sogar ein wenig Anstrengung, sich ihre Belustigung nicht anmerken zu lassen.

»Und?«, wollte er immer noch wissen, nachdem er sicher war, sich hinreichend aus der Affäre gezogen zu haben. Das Ausbleiben eines bissigen Kommentars zeigte ihm an, dass Lene heute gewillt war, nachsichtig mit ihm zu sein. Mit der Zeit hatte er gelernt, an der Art ihrer Antworten hinter ihre meist undurchdringliche Miene zu schauen, die sie immer dann aufsetzte, wenn ihr etwas missfiel – oder wenn sie ganz Kommissarin war.

»Du glaubst eher an einen Mann, der sich im zweiten Frühling ein junges Häschen in den Stall geholt hat?«, versuchte sie zu ergründen, warum er anderer Ansicht sein könnte.

»Keine Ahnung. Mich interessiert nur, was du denkst«, zuckte er mit den Schultern, weil er sich nicht festlegen wollte.

»Es ist nur ein Gefühl. Die junge Frau machte mir nicht diesen Eindruck. Aber bevor ich dir jetzt Klischees aufzähle, sollten wir die Spekulation ...«, zeigte sich Lene wenig gestimmt, Unbewiesenes auszuwalzen, wurde dabei aber von einer älteren Frau höflich unterbrochen.

»Entschuldigen Sie bitte. Wir haben Sie deutsch sprechen hören. Dürften wir uns vielleicht zu Ihnen an den Tisch setzen? Sonst ist gerade keiner mehr frei«, bat die Dame mit einem sympathischen Lächeln.

Mit einem unauffälligen Blick zu Lene versicherte sich Thomas, sie nicht zu überfahren, bevor er sich charmant an die Fragende wandte: »Nette Menschen sind uns jederzeit willkommen.« Dabei stand er auf, gab der Dame, die er auf über sechzig schätzte, die Hand und stellte sich ihr auch gleich vor. »Es freut mich. Sprengel, Thomas Sprengel.«

»Sehr angenehm. Viktoria Dunkerbeek«, strahlte sie ihn aus ihren irgendwie leuchtenden Augen an, während sie seinen Händedruck fest erwiderte.

»Ohne Sie beleidigen zu wollen: Darf ich Ihnen die bezauberndste Frau vorstellen, nebenbei bemerkt seit zehn Tagen meine Gattin: Lene Huscher«, platzte er fast vor mit Stolz gemischter Freude, wie Lene gerne, aber auch amüsiert zur Kenntnis nahm, bevor sie sich ihrerseits Frau Dunkerbeek zuwandte.

»Philipp Dunkerbeek«, hörte sie den älteren Mann zu Thomas sagen, bevor er ihr mit einem gewinnenden Lächeln ebenfalls die Hand reichte. »Ich kann Ihren Mann in seinem Glück sehr gut verstehen.« Dabei sah er Lene mit einem Wohlwollen an, dass es ihrem Herz einen Stich versetzte. »Sie scheinen aber mit Ihrem Mann auch keine schlechte Wahl getroffen zu haben.«

Warum sah er sie auf einmal so aufmerksam an? Hatte er die winzige Regung in ihrem Gesicht tatsächlich wahrgenommen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, war sofort wieder bei ihm und lachte dankbar: »Er hat mir nachhaltig bewiesen, welch toller Mensch er ist.« Sie schaute zu Thomas und strich ihm zärtlich über die Wange, bevor sie sich wieder setzten und Philipp Dunkerbeek ganz Gentleman seiner Frau den Stuhl zurechtrückte. Wenn sie in zwanzig Jahren auch noch so liebevoll miteinander umgingen, hätten sie wirklich Glück gehabt, ging es Lene Huscher kurz durch den Kopf. Zweifel daran hegte sie keine.

Wenig überraschend kamen sie während der Unterhaltung wie von selbst auf das alle beschäftigende Ereignis des Vortages zu sprechen. Dunkerbeeks brachten ihre Bewunderung für das schnelle und umsichtige Handeln der beiden angesichts der brennenden Segelyacht zum Ausdruck, das ihnen durchaus aufgefallen war. Thomas und Lene wollten das hingegen lediglich als Folge ihrer beruflichen Tätigkeit betrachten.

»Da könnten Sie doch gleich ermitteln, ob es sich überhaupt um einen Unfall gehandelt hat«, überlegte Philipp Dunkerbeek, lachte umgehend und schüttelte den Kopf. »Aber nein, Sie sind ja hier im Urlaub. Entschuldigen Sie meinen gedankenlosen Einfall.«

»Wir wären hier wohl auch nicht zuständig«, wies Thomas Sprengel jeden Gedanken an Arbeit zurück, bevor er sich seinen Teller schnappte, um noch ein wenig von diesem leckeren Speck zu organisieren.

»Die Yacht ist unter deutscher Flagge gesegelt. Insofern ist sie deutsches Hoheitsgebiet, Herr Sprengel. Weckt das nicht ein wenig Ihre berufliche Neugier?«, setzte der ältere Herr schmunzelnd nach.

Thomas Sprengel hielt kurz inne und überlegte. Bisher war er automatisch von einem Unfall ausgegangen. »Sie meinen, das könnte kein Unfall gewesen sein?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, ruderte Herr Dunkerbeek eiligst zurück, bevor seine Frau ihn unterbrach.

»Philipp, du musst immer schneller reden, als du denkst. Jetzt lass doch den Kommissar in seinem Urlaub sein Frühstück genießen.« Um das Thema zu wechseln, wandte sie sich Lene Huscher zu. Thomas Sprengel hörte die Frage noch im Weggehen. »Wie haben Sie sich denn kennengelernt?«

Er zuckte innerlich zusammen und hoffte inständig, dass seine Frau seinen katastrophalen ersten Auftritt verschweigen würde. Leider konnte er nicht stehen bleiben, um die Antwort abzuwarten, weil Lene das sofort gemerkt hätte.

Mit einem gut gefüllten Teller kehrte Thomas Sprengel etwas unsicher an den Tisch zurück. Alle schauten ihn weiterhin vorbehaltlos freundlich an. Lene schien im gnädig gewesen zu sein. Ihre Blicke wanderten weiter zu seinem Teller, auf dem sich ein Spiegelei befand, das allerdings unter einem ganzen Berg Speck kaum mehr auszumachen war.

»Sie scheinen einen guten Appetit zu haben«, stellte Frau Dunkerbeek fest, ohne dass er der Bemerkung eine Wertung hätte entnehmen können.

»Mein Schatz, bei dir herrschen bald Münchener Verhältnisse vor«, kam es von rechts, noch bevor er der älteren Dame hatte antworten können.

Wieder einmal verstand er nicht sofort, worauf seine Frau anspielte. Die ältere Dame hingegen hatte offensichtlich begriffen, was seine Gattin ihm sagen wollte. Auch wenn sie keine Miene verzog, konnte er ein gewisses Amüsement in ihren Augen erahnen. Münchener Verhältnisse? Matte auf dem Kopf? »Aber ich war doch erst vor dem Urlaub beim Friseur«, war er ratlos.

Frau Dunkerbeek lachte klar wie ein junges Mädchen und tätschelte daraufhin liebevoll den Bauch ihres Mannes: »Nein, Herr Sprengel, Ihre Frau meint den Münchener Speckgürtel.« Zu Lene gewandt setzte sie fort: »Mein Gatte hat auch zeit seines Lebens die guten Dinge sehr zu schätzen gewusst.«

Thomas schaute zu Lene und spürte, wie sein Ärger anschwoll, wollte aber auch nicht vor dem netten Paar mit einer harschen Bemerkung retournieren. Wenn er ehrlich war, hatte sie völlig recht. Außerdem war sie mehrfach von ihm aufgefordert worden, ihn darauf hinzuweisen, falls er sich mal wieder vergaß. Nichts anderes hatte sie gerade getan. Er schielte zu dem gleichermaßen Gescholtenen, der aber nur schmunzelnd in seinem Stuhl saß und über allem zu stehen schien. Und jetzt? »Möchte noch jemand von diesem vorzüglichen Speck? Ich habe genügend für alle mitgebracht«, bot er mit gönnerhafter Miene an.

»Für mich nicht, danke«, antwortete Lene, sich ein Grinsen verkneifend.

»Oh, selbstverständlich helfe ich Ihnen«, erklärte sich Herr Dunkerbeek bereit. »Wir Männer sollten immer zusammenhalten.« Entspannt zwinkerte er Thomas Sprengel zu.

»Wie ich bereits sagte«, konstatierte seine Frau lakonisch und zuckte nur mit den Schultern.

Ihr Mann legte ihr eine Hand auf den Arm und lächelte sie voller Wärme an. »Ich weiß es durchaus zu schätzen, dass du so um meine Gesundheit besorgt bist, meine Liebe. Morgen halte ich mich wieder daran.«

Ein Seufzen war die einzige Antwort, die er darauf erhielt.

Sie hatten sich noch ein ganzes Weilchen angeregt unterhalten, bis sich die anderen Tische zunehmend gelehrt und der Strand gefüllt hatte. Das Ehepaar Dunkerbeek hatte sich schließlich verabschiedet, nachdem Lene Huscher und Thomas Sprengel eine Einladung zu einem Abendessen gerne angenommen hatten.

»Ein sehr sympathisches älteres Paar. Findest du nicht?«, stellte Lene erfreut fest.

»Sehr«, stimmte Thomas zu, bevor er stöhnte: »Nur werde ich noch mehr leiden. Frau Dunkerbeek hat sofort gewusst, was du vorhin gemeint hast.«

»Hast du mir das übel genommen?« Bei Lene regte sich ausnahmsweise doch Reue. »Es war mir so herausgerutscht.« Sie schaute ihn unschuldiger als jedes Lamm an.

Thomas gab ihr einen Kuss. »Mein Ego hat schon ein bisschen den Aufstand geprobt. Aber ich liebe dich halt auch, wenn du mir große Niederlagen beibringst.« Er rieb kurz seine Nase an ihrer.

»Und ich liebe dich auch mit Wampe, wenn es sein muss«, klimperte sie mit ihren grünen Augen und streichelte über sein dezentes Polster.

»So schlimm ist es wohl noch nicht.« Er wackelte unwillig mit dem Kopf. »Sollen wir uns mal an der Rezeption erkundigen, ob die wissen, in welches Krankenhaus sie die junge Frau gebracht haben?«, wechselte er das für ihn derzeit unvorteilhafte Thema.

»Dann los.«

Sie standen auf und machten sich auf den Weg zur Rezeption, wobei sie zärtlich nach seiner Hand griff. In ihrem lilafarbenen Strandkleid hätte sie problemlos als glücklicher Teenager durchgehen können.

Mitgefühl kann tödlich sein

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