Читать книгу Mitgefühl kann tödlich sein - Henning Marx - Страница 20
Kapitel 16
ОглавлениеKai hatte bei Ariane übernachtet, weil sie auf diese Weise zu Fuß in die Stadt gehen konnten. Ariane wohnte in der Bergstraße, während Kai immer noch in seinem Studentenwohnheim, Im Neuenheimer Feld 680, gewöhnlich nur INF abgekürzt, in einer WG lebte. Außerdem hatten sie derzeit Arianes Wohnung für sich alleine. Ihre Mitbewohnerinnen waren über Weihnachten zu ihren Eltern nach Hause gefahren. Weil einen Tag vor Silvester damit zu rechnen war, dass es in der Innenstadt gegen Mittag voll werden würde, hatten sie sich den Wecker sehr früh gestellt und beschlossen, im »Hemmingway´s« zu frühstücken. Sie verließen die Wohnung gut gelaunt, auch weil sie ihre Flugtickets nach Miami im Reisebüro des »Darmstädter Hofzentrums« abholen wollten.
Als sie zur Haustür herauskamen, schaute Ariane noch schnell in den Briefkasten. Sie fand dort aber nur einen Handzettel, den sie bereits im Begriff war, in die Mülltonne zu werfen, bevor sie doch noch neugierig wurde. Irritiert stutzte sie und las beim Weitergehen vor: »Horoskop für die Bergstraße. Die Einkommen der Anwohner werden durchschnittlich im kommenden Jahr steigen. Trennungen und neue Partnerschaften werden sich in etwa die Waage halten. Die Gesundheit dürfte vor allem in den ersten Januartagen bei vorzeitigem Verlassen von Wohnung oder Haus leiden. Schlafen Sie daher lieber eine Stunde länger als gewöhnlich. Alles Gute für das kommende Jahr, Ihre Bergstraßen-Astrofee.«
»Was soll das denn sein?«, schüttelte Kai verständnislos den Kopf.
»Keine Ahnung«, blieb auch Ariane ratlos. »Womit sich die Leute so die Zeit vertreiben.«
Sie schob den Zettel in ihre Manteltasche und nahm Kais Hand. Der Schneeregen des frühen Morgens war in einen Nieselregen übergegangen, als die beiden wach geworden waren, und hatte inzwischen ganz aufgehört.
»Sag mal. Was ich dich schon lange fragen wollte: Wem gehört eigentlich diese riesige Villa da vorne?«
»Die mit den Treppen und dem Eingangsportal?«, versicherte sich Ariane, weil es insbesondere auf der Ostseite der Straße nicht wenige Prachtbauten gab.
»Ja.«
»Dort wohnt ein Vorstand der BASF, Brandner«, erklärte sie ihm.
»Nicht schlecht. Könnten wir auch gebrauchen, was?«
»Nö, viel zu groß, da müsste ich dich andauernd suchen gehen«, scherzte Ariane und schmiegte sich nicht nur wegen der feuchten Kälte eng an ihren Freund. »Außerdem könnte ich mich nicht daran gewöhnen, wenn morgens der Chauffeur samt Personenschutz vorfährt, um uns abzuholen.«
»Echt? Nee«, war Kai durchaus beeindruckt.
»Doch. Lass uns lieber kleinere Brötchen backen. Ich möchte nicht immer Angst um uns und unsere Kinder haben«, war sich Ariane sicher, diese Art von Sorgen nicht zu wollen. »Letztens wurde erst ein Fürth-Sprössling entführt«, unterstrich sie die Berechtigung ihrer Bedenken.
»Stimmt wohl«, gab Kai ihr recht. »Von wie vielen Kindern redest du im Übrigen?«
»Was schlägst du vor, Prinzgemahl?«
Zur gleichen Zeit saß Thomas Sprengel in seinem Büro und suchte im Internet nach einer Adresse. Lene hatte gestern in der Post die Einladung zu Professor Himmelreichs Beerdigung gefunden, die für den kommenden Dienstag angekündigt wurde. Dadurch war ihm wieder eingefallen, noch wegen der Ursache der Explosion auf dem Boot nachforschen zu wollen. Inzwischen hatte er eine Telefonnummer der »Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung« ausfindig gemacht.
»Hansen, ›BSU‹«, meldete sich ein Mann mit norddeutschem Akzent ohne Hast.
»Sprengel, Morddezernat Heidelberg«, fügte er als kompetenz- wie vertrauensbildende Maßnahme hinzu. »Können Sie mir sagen, ob bereits Erkenntnisse zu der havarierten Segelyacht vor Barbados vorliegen?« Er nahm jedenfalls an, dass es davon in letzter Zeit nicht noch mehr gegeben hatte.
»Ich schau mal nach«, zeigte sich Herr Hansen hilfsbereit, »aber warum interessiert das einen Kommissar aus Heidelberg?«
»Ich war an der Rettung der Überlebenden beteiligt und möchte wissen, ob ein Fremdverschulden vorliegt.«
Herr Hansen zeigte keine Reaktion. »Moment, ... hier haben wir es. Da waren die Kollegen aber schnell.« Er lachte. »Wahrscheinlich war die Aussicht auf einen Flug in die Karibik sehr verlockend. Haben Sie auch so ein trübsinniges Wetter?«
»In der Tat. Vermutlich wäre ich besser dort geblieben.«
»Ich muss Sie leider enttäuschen. Das sieht nicht danach aus, als ob ein Fall für Sie dabei herausspringen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist ein Ersatzkanister mit Schiffsdiesel undicht gewesen, so dass geringe Mengen davon ausgetreten sind und sich in der Backskiste verflüchtigt haben. Das erklärt ohne Zweifel den Zeitpunkt der Explosion. Als der Deckel der Kiste ins Schloss gefallen ist, muss es einen kleinen Funken gegeben haben, der das Diesel-Luft-Gemisch, das sich im Laufe der Fahrt dort angesammelt hatte, gezündet hat.«
»Und das ist sicher?«, war Thomas Sprengel überrascht wie ungläubig.
Der Andere atmete hörbar ein. »Was ist schon sicher in diesem Leben? Der Ort der Explosion lässt keinen anderen Schluss zu, zumal die Kollegen wohl noch ein kleines Stück eines Kanisters gefunden haben, das nicht komplett geschmolzen war. Sagen wir so, die Indizien sprechen für diesen Hergang.«
»Kommt das öfter vor?«
»Nein. Vor Jahren hat es mal einen ähnlichen Unfall im Mittelmeer gegeben. Die beiden Segler konnten mit Mühe die Küste erreichen, wo sie von einem Fischerboot in Schlepp genommen wurden. Sehr unschöne Sache.«
»Da haben Sie recht. Könnten Sie mir den Bericht zufaxen?«
»Wenn Sie mir die Nummer durchgeben, kein Problem.«
Thomas Sprengel diktierte ihm die Faxnummer seiner Sekretärin, bevor er sich freundlich verabschiedete: »Ihnen einen guten Rutsch! Und danke vielmals.«
»Rutschen tue ich mal lieber nicht, aber Ihnen auch alles Gute.«
Heiko und Susanne hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, ob die Stadt an dem Tag voll werden könnte oder nicht. Sie genossen die Zeit, in der sie nicht wie sonst um sechs Uhr aufstehen mussten, wenn um sieben Uhr Heikos Dienst im Sportinstitut begann. Gemütlich frühstückten sie in ihrer Küche mit Blick auf den Hof und konnten derweil beobachten, wie doch tatsächlich seit Tagen zum ersten Mal ein Sonnenstrahl den Weg bis durch ihre Balkontür zu ihnen in die Wohnung fand. Sie nutzten die Zeit, um eine Liste der Dinge zusammenzustellen, die sie noch für den Silvesterabend besorgen wollten.
»Hast du schon eine Vorstellung, was es zu essen geben soll?«, bot Heiko Susanne die Initiative an.
Schlingel. Er wusste genau, dass sie sich den Ideen ihres gelernten Kochs in den meisten Fällen fügte. Insbesondere wenn es darum ging, für mehrere zu kochen beziehungsweise einzukaufen. Aber sie freute sich dennoch über sein Bemühen, so zu tun, als sollte sie an der Entscheidung nicht nur per Akklamation beteiligt werden. Eine Partnerschaft zeichnete sich schließlich durch Effizienz aus, wenn derjenige mit der größeren Erfahrung in der entsprechenden Situation auch das Ruder übernahm. Da konnte sie geradezu konservative Züge annehmen. Wie üblich hatte sie ihre Füße auf die Stuhlkante gestellt und balancierte ihre Teetasse auf den Knien. Durch den Henkel der Tasse linste sie zu Heiko rüber, auf dessen konzentriertem Gesicht sich prompt ein Lächeln zeigte. »Ich dachte, ich höre mir mal die Menüvorschläge von unserem Meisterkoch an«, antwortete sie der Wahrheit gemäß und linste weiter durch den Henkel auf ihr unrasiertes Gegenüber.
»Bist du dir sicher? Du kannst gerne auch einen Vorschlag machen.«
»Ich weiß, aber ich habe kein Problem damit, dass wir nicht die klassische Rollenverteilung leben«, lächelte sie ihn nun charmant über die Tasse hinweg an. »Außerdem bin ich beim Meckern kaum zu schlagen.«
»Ganz wie du willst, Susi«, fügte er sich in sein Schicksal und zauberte sprachlich zwei vollständige Menüs in ihre Phantasie, die Susanne kurzerhand unter größtem Protest seitens des Chefkochs mischte.
»Dann sollten wir mal losschieben«, kommentierte sie ihre Einkaufsliste. »Für Lene müssen wir ja auch noch in den Bioladen.«
»Stimmt, also sollten wir vielleicht gemeinsam duschen, um Zeit zu sparen«, schlug er pragmatisch vor.
»Das soll Zeit sparen?«, wunderte sich Susanne, während sie aufstand und ihre Tasse in der Spüle abstellte.
Heikos Blick fiel dabei auf ihren knackigen Po, der sich in der weiten Pyjama-Hose ausgesprochen werbewirksam präsentierte – oben aufliegend, nach unten frei fallend, so dass er mit seiner Vorstellungskraft die Formen zu Ende zeichnen musste. Wie weise Frauen doch sein konnten.
Er hatte bereits am frühen Nachmittag sein Büro in Frankfurt verlassen und stand in einem Stau, der sich durch einen Unfall hinter der Anschlussstelle Bensheim entwickelt hatte. Im Gegensatz zu sonst blieb er an diesem Tag gelassen, weil er die Zeit dazu nutzen konnte, sich zu überlegen, ob er für seine Verabredung alles hatte: Handschellen, Tropfen, Champagner ... Latexhandschuhe. Er fühlte, wie sich alleine bei der Vorstellung dessen, was er sich ausgedacht hatte, um das Jahr für sich erfreulicher zu beginnen, als das andere endete, ein erregendes Kribbeln in seinem Körper ausbreitete. ... Gleitmittel. Vaseline bekam man bestimmt in einer Drogerie. Er ließ sein Smartphone in Bensheim danach suchen, wo ihm gleich mehrere angezeigt wurden. Perfekt. Die Ausfahrt war nicht mehr sehr weit. Um nicht noch länger im Stau zu stehen, nutzte er kurzerhand den Standstreifen.
Seine Aufmerksamkeit schweifte wieder zu dem geplanten Abend mit Ekaterina ab, wodurch sich das Kribbeln aufs Neue einstellte. War er pervers? ... Sie war nur eine billige Nutte, wenn auch teuer. Die war doch dafür da, unerfüllte Phantasien auszuleben. Wozu brauchte man die sonst und er bezahlte schließlich seit Langem mehr als gut. Geld bedeutete Macht. Und die Vorstellung von unkontrollierter Macht beim Sex törnte ihn an diesem Nachmittag wieder mächtig an.