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Kapitel 17

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Heiko stand in der Küche, um bereits die eine oder andere Vorbereitung für das gemeinsame Essen zu treffen, als es klingelte. Nachdem Susanne an die Tür gegangen war, konnte er überrascht hören, wie Stimmengemurmel immer lauter bis zu ihm nach hinten schallte. Es war doch erst kurz nach sechs, dachte er noch, bevor Ariane und Kai ihn umarmen wollten.

»Was macht ihr denn schon hier?«, wunderte er sich, während er darauf achtete, seine verschmierten Hände von den beiden fernzuhalten.

»Tja, Alter«, klopfte ihm Kai kräftig auf die Schulter, »wir kennen dich inzwischen besser als dir recht sein mag. Da haben wir gedacht, wir kommen mal, solange es noch etwas zu tun gibt.«

Heiko schüttelte den Kopf. »Ihr könnt euch gerne an den Tisch setzen und mich unterhalten«, zeigte er sich nicht übermäßig euphorisch.

»So siehst du aus«, erhielt er prompt von Ariane eine Abfuhr. »Meinst du vielleicht, du kannst das alles besser, oder wie?«

»Schon gut, schon gut«, gab er sich lieber gleich geschlagen. Es hätte ohnehin keinen Sinn, Ariane davon abhalten zu wollen.

Kurz darauf kam Susanne ebenfalls wieder in die Küche, gefolgt von Lene und Thomas.

»Wollt ihr jetzt auch noch helfen?«, sah er sich allmählich mit sich und seinen Aufgaben überfordert.

»Was soll das für eine Begrüßung sein?«, beschwerte sich Thomas lautstark. »Ich setze mich gerne an den Tisch und schaue euch zu, wenn dir das lieber ist«.

Heiko wirkte richtiggehend erleichtert: »Das ist doch eine ausgesprochen gute Idee.«

Nach einem großen Begrüßungsgerangel liefen die Vorbereitungen für das Abendessen endlich wieder auf Hochtouren. Zwischenzeitlich hatte es ein letztes Mal geklingelt. Thomas war zur Tür gegangen, weil er der Einzige mit zwei freien Händen gewesen war. Er hatte es sich tatsächlich nicht nehmen lassen, am Tisch sitzend die Anderen zu unterhalten und wertvolle Tipps zu geben. Nicht lange und er kam mit Heike und Horst zurück in die Küche, die erst gar nicht den Versuch unternahmen, ihrerseits noch in das Gewusel einzugreifen, zumal es sich nicht unbedingt um eine Großküche handelte. Immerhin hatte der Raum eine gute Größe, so dass der Esstisch selbst ausgezogen für acht Personen noch genügend Platz ließ. Heike stellte zwei Flaschen »Asti Cinzano« auf den Balkon, den sie mitgebracht hatte, weil ihr trockener Sekt nicht schmeckte, und wurde wie üblich von Thomas aufgezogen.

»Na, hast du mal wieder deinen leckeren Traubensaft dabei?«

»Ich gebe dir gerne ein Glas ab!«, erwiderte sie honigsüß, während sie ihm im Vorbeigehen einen Klaps gegen den Hinterkopf verpasste.

»Hee!«

Lene mischte sich sofort ein. »Keine Gewalt gegen mein gutes Stück! Sonst setzt es was.«

»Schluss!«, fuhr Susanne lauter dazwischen. »In meiner Küche wird sich nicht geprügelt.« Kai mischte sich ein, während Horst Heike unterstützen wollte, Gealber, das den Schüsseln und Töpfen bedenklich näherkam.

Heiko sah Schreckensszenen auf sich zukommen. »Sofort aufhören oder alle fliegen raus!«, versuchte er sich durchzusetzen, erntete aber nur Gelächter. »Wie willst du das denn bewerkstelligen?« An dem Punkt lag wohl die Schwachstelle seiner Drohung.

Sorgfältig hatte er alles vorbereitet. Ihm war noch eingefallen, dass es blaue, eckige Pillen gab, damit er das Vergnügen reichlich auskosten konnte. Nachdem er mit seiner Ausstattung zufrieden gewesen war, hatte er sich eine Pizza bestellt und anschließend ein hartes Video aus dem Netz gezogen. Inzwischen stand er wieder vollständig unter Strom und konnte es kaum erwarten, endlich die Wohnung zu verlassen. Zum Glück war es draußen trocken. Er wollte zu Fuß gehen, damit seine Nachbarn erst gar nicht mitbekamen, wann er das Haus verlassen und später wieder zurückkommen würde. Er konnte ja nicht wissen, wie das Häschen auf einen entfesselten Hengst reagierte. Vermutlich würde sie sich wie das letzte Mal alles gefallen lassen, aber Vorsicht gegenüber allen Eventualitäten gehörte schon immer zu seiner Devise. Es war neun, als der Film vorüber war, und er verließ in vollkommen überhitzter Gemütslage das Penthouse. In jeder Faser fühlte er die Erregung vibrieren. In dieser Nacht würde er sich endlich gestatten, seine bisher unterdrückten Begierden auszuleben.

Heiko hatte die Vorspeisenteller abgeräumt, nachdem die fröhliche Runde den Feldsalat mit Pfifferlingen an einer Vinaigrette zu seiner Zufriedenheit vollständig aufgegessen hatte.

»Lene?«

»Ja?«, schaute die Angesprochene zu ihm auf. »Soll ich dir etwas helfen?«

»Bleib sitzen, nein«, wehrte er ab, »aber du hast die Wahl zwischen Rinderroulade mit vegetarischer Füllung oder Kohlroulade, ganz vegetarisch.«

»Oh. Das wäre aber nicht nötig gewesen«, zeigte sich Lene begeistert wie gerührt.

Alle konnten ihr deutlich ansehen, wie sie sich darüber freute, dass er sich mal wieder die Mühe gemacht hatte, auf ihren sehr eingeschränkten Fleischkonsum Rücksicht zu nehmen.

»Mit unserer Vegetarierin hat man nichts als Arbeit«, stöhnte Horst, der zu seinem Unglück nur selten Gelegenheit bekam, sich für ihre Frotzeleien zu revanchieren.

»Bitte, Horst. Ich weiß, dass es die junge Generation gerne hat, wenn alles möglichst einfach erscheint und sich auf Displaygröße des Telefons vermitteln lässt«, antwortete sie wie gewohnt trocken, »aber ich möchte nicht so einfach etikettiert werden. Genau genommen bin ich Flexitarierin.«

»Häh?«, lachte Horst. »Was soll das denn schon wieder sein?« Bis auf Thomas konnten auch die Anderen in der Runde mit diesem Begriff nichts anfangen. »Sag schon.«

»Flexitarier legen Wert auf Qualität, essen aber im Gegensatz zum Vegetarier Fleisch oder Fisch, wenn auch selten und wenig«, klärte sie ihre Freunde auf.

»Aha«, kommentierte der freundlich belehrte Horst und hatte schon wieder vergessen, Lene foppen zu wollen. »Also ist ein Vegetarier, der Fisch ist, eigentlich ein Flexitarier«, stellte er folgerichtig fest.

»Bravo, Herr Jung«, zog Lene ihn nun ihrerseits auf. »Bei dieser Kombinationsgabe haben Sie Ihren Beruf wahrlich nicht verfehlt.«

Horst hörte den Spott nicht einmal, so sehr beschäftigte ihn diese Unterscheidung. »Demnach wäre ein Vegetarier, der Fisch isst, also eher ein Fischesser.«

Lene schmunzelte. »Ein Pescetarier, um ganz genau zu sein, falls es dem hauptsächlich um die Ernährung geht.«

»Nicht besser ein Fischesser in vegetarischer Auszeit?«, warf Kai lachend ein.

»Keine Frage, Vegetarier klingt natürlich viel hipper als Fleischmuffel«, gluckste wiederum Ariane, Susanne fast vom Stuhl stoßend.

Während die Anderen ihrer Kreativität weiterhin freien Lauf ließen, hatte sich Heiko wieder bei Lene Gehör verschafft. »Ich würde dir die Rinderroulade empfehlen.«

Lene stutzte. »Und warum hast du dann extra noch die Kohlroulade vorbereitet?«

»Damit du selbst entscheiden kannst. Warum denn sonst?«

Lene schmolz fast dahin. »Das ist aber lieb. Willst du mir nicht verraten, warum du trotzdem die Rinderroulade empfiehlst?«

»Nein«, kam es kurz und bestimmt. Heikos Gesicht verriet absolut nichts.

»Und was machst du mit der Kohlroulade, falls ich deinem Rat folge?«

»Übermorgen essen. Kein Problem. Wenn du willst, kannst du sie euch auch mitnehmen«, bot er ihr großzügig an.

»Wenn das so ist, halte ich mich an deine Empfehlung«, antwortete Lene gespannt.

Ekaterina stand in der Tür und erwartete ihren Kunden in einem schwarzen, durchsichtigen Negligé. Darunter trug sie eine schwarze, mit roter Spitze verzierte Büstenhebe, in der ihre festen, durchaus üppigen Brüste perfekt zur Geltung kamen. Dazu trug sie einen passenden String-Tanga. Ihre schwarzen, halterlosen Netzstrümpfe endeten in roten Lackschuhen mit sehr hohen Absätzen, die ihre ohnehin langen, schlanken Beine fast endlos wirken ließen.

»Hinreißend siehst du aus«, erhielt sie direkt ein Kompliment, als Starke die Treppe zu ihrer Mansardenwohnung in einer alten Villa in der Weststadt heraufkam.

»Nur für dich, mein Liebster«, hauchte sie ihm entgegen. »Gefällt dir, was du gleich auspacken darfst?« Sie fuhr ihm zärtlich mit einer Hand über seine trainierte Brust, während er an ihr vorbei in den Flur ging. Sie hatte sich diese Wohnung gekauft, in der sie nur ganz selten ihre besten Stammgäste zu besonderen Anlässen empfing. An diesem Abend war so einer, weil noch nie ein Kunde ausgerechnet mit ihr das neue Jahr hatte beginnen wollen. In der Regel standen an Silvester Frau und Familie im Vordergrund. Starke folgte ihr die alte Holztreppe hinauf in den oberen Teil der Wohnung. Während er hinter ihr ging, fühlte er ein tiefes Ziehen irgendwo in den Eingeweiden, weil er eine freie Sicht auf Ekaterinas kleinen, festen Po hatte, der keinerlei Anzeichen einer Bindegewebsschwäche aufwies.

Im oberen Teil der Wohnung befand sich ein geräumiges Zimmer mit kleiner Bar sowie einem zugehörigen Bad, die sie beide mit einer Schallisolierung hatte ausstatten lassen, obwohl im Stockwerk darunter nur ihre eigenen Wohnräume lagen. Sie hatte ganz sichergehen wollen, dass in den unteren beiden Etagen niemals auch nur ein Ton von dem zu hören sein sollte, was hier im Obergeschoss manchmal geschah. Unter ihrer Wohnung lebte ein Konzertpianist, der wie jedes Jahr um diese Zeit auf einer China-Tournee unterwegs war. Im Erdgeschoss wohnte eine alte Dame, die schwerhörig, aber sehr liebenswert war, und der das Haus einmal vollständig gehört hatte. Sie pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu den beiden. So stellte sie sich das Miteinander der Menschen vor. Man kümmerte sich, half, falls nötig, und fand immer ein paar Sätze, wenn man sich sah. Das wollte Ekaterina auf keinen Fall gefährden.

»Hier, dein Honorar, Häschen«, wedelte Starke mit mehreren lilafarbenen Scheinen, bevor er sie in eine Holzschale auf einem Sideboard legte.

Sie kam geschmeidig näher und schmiegte sich an ihn, wobei sie darauf achtete, dass er insbesondere den Druck ihrer üppigen Brüste fühlen konnte. »Wie großzügig, mein Liebster«, schnurrte sie in sein Ohr, wobei ihre Zunge abschließend sein Ohrläppchen umspielte.

Als er sie anschaute, setzte er sein charmantestes Lächeln auf. »Ich bin dir so dankbar, dass du gerade heute für mich Zeit hast. Möchtest du etwa weniger?«

»Nein. Ich werde dich ausreichend dafür belohnen«, hauchte sie, wandte sich um und ließ auf dem Weg zum Bett ihr Negligé von den Schultern gleiten.

Das glaube ich allerdings auch, durchzuckte es seinen Kopf. Mit drei großen Schritten war er hinter ihr, kurz bevor sie das Bett erreicht hatte.

»Das ist ...«, Lene war zu erstaunt, um es sofort glauben zu können. »Das gibt es doch nicht. ... Dieses Fleisch ... ist himmlisch gut.«

Susanne und Heiko grinsten bereits breit.

»Nicht eher tierisch gut?«, flachste Horst in bekannter Manier.

Thomas schaute ungläubig seine Frau an, die selten Fleisch aß und noch seltener einen derartigen Kommentar dazu abgab. Er schnitt sich ein Stück seiner Rinderroulade ab, die Heiko mit einem Ring aus orangefarbenem Kartoffelpüree auf dem Teller drapiert hatte. Er ließ es auf der Zunge zergehen und fühlte sich auf einmal ähnlich wie der Gourmetkritiker in »Ratatouille«: Er schmeckte förmlich eine Kuh, die auf einer Almwiese graste.

Als Lene Susanne und Heiko lachen sah, war sie sich absolut sicher. »Das ist von der ›Lechner‹ aus Farchant«, lehnte sie sich begeistert zurück. »Wo habt ihr das denn her?«

»Telefon und Vakuumverpackung hat es möglich gemacht – und ein netter Hinweis auf dich«, gestand ihr Susanne.

»Wow, die hat sich an mich erinnert?«, war Lene sichtlich erstaunt.

Susanne zuckte mit den Schultern. »Die roten Haare ...«

»Das Fleisch ist wirklich extrem lecker«, teilte Ariane die Begeisterung ihrer Freundin.

»Hast du so eine Delikatesse schon mal im Supermarkt bekommen, Liebling«, konnte sich Lene eine Bemerkung zu Thomas nicht verkneifen.

Entwaffnet schaute er sie an und konnte die Frage nur verneinen. Dabei ging er doch, seitdem sie sich kannten, immer und inzwischen gerne im Bioladen einkaufen. Ihre Aufforderung zur selbständigen Meinungsbildung hatte also auf diesem Gebiet durchaus Erfolg gezeigt. Wie sehr man doch von der Liebe profitieren konnte, philosophierte er noch ein wenig vor sich hin, während das Gespräch an ihm vorüberzog.

Das zarte Fleisch hatte er sehr genossen. Bis auf die Büstenhebe waren sie beide inzwischen nackt und lagen nebeneinander auf dem großen Bett. Er war überaus zärtlich gewesen, schwärmte sie für einen Augenblick, während sie an der nachtblauen Zimmerdecke die Sterne betrachtete. Warum konnte es nicht immer so sein? Aber welcher anständige Mann wollte eine Prostituierte zur Frau? Sie seufzte und drehte sich zu ihm, um ihm die Haare auf seiner Brust zu kraulen.

»Ich habe uns noch Champagner mitgebracht«, schlug er vor. »Möchtest du ein Glas?«

»Jetzt schon? Ist das nicht ein bisschen früh?«

»Ich habe ausreichend dabei. Also?«

»Dann gerne«, stimmte sie neugierig zu.

Er holte den Champagner aus einer Isoliertasche in seinem Rucksack und richtete zwei Gläser hinter der Theke, mit denen er zum Bett zurückkam und ihr eines davon an die Lippen setzte. Sie schlürfte von dem teuren, prickelnden Traubenerzeugnis, das in ihrem Körper einen erfrischenden Flash erzeugte. »Und was hast du noch für uns?«

Er schob eine blaue, eckige Pille zwischen Zeige- und Mittelfinger, die er sich umgehend einwarf und mit einem kleinen Schluck Champagner herunterspülte.

Was hatte der noch vor, ging es Ekaterina plötzlich durch den Kopf. Am Ende war das heute sehr teuer verdientes Geld. Sie nippte erneut an ihrem Champagnerkelch, damit ihm nicht auffiel, dass sie diese Aussichten nicht ganz so angenehm fand. Über ihr Glas schaute sie ihn gleichzeitig an, als könnte sie es kaum erwarten. »Das brauchst du doch gar nicht.«

Obwohl er seine Hände ganz zärtlich über ihre Brüste und den Bauch hinuntergleiten ließ, warnte sie etwas in seinem Blick. Sie konnte allerdings nicht fassen, was es war. Kurz darauf spürte sie, wie ihr schwindelig wurde. »Ich glaube, ich hätte noch mehr essen sollen. Der Champagner beschwipst mich ja heute richtig.«

Er nahm ihr das Glas aus der Hand. »Was ist mir dir, Häschen?«, hörte sie ihn wie aus der Ferne sagen. Ihr war ganz komisch, alles drehte sich. Sie fühlte noch seine Hand, die inzwischen gierig zwischen ihre Schenkel griff. Dann dämmerte sie weg.

Nachdem sie ein Himbeerparfait, selbstgemacht vom Chefkoch persönlich, genossen und – viel wichtiger – auch gewürdigt hatten, waren sie sich einig gewesen, das Feuerwerk über der Altstadt vom Philosophenweg aus anzuschauen. Das Wetter war trocken geblieben und die Wolkendecke war sogar stellenweise aufgerissen.

Am Aufstieg zum Philosophenweg fühlten sie sich wie in einem Pilgerstrom, weil wie jedes Jahr ganze Horden dasselbe Ziel hatten. Es war aber auch die perfekte Plattform, um über den Neckar auf die Altstadt und zum Schloss schauen zu können. Dicht gedrängt standen die unzähligen Menschen und warteten auf das Spektakel. Sie waren rechtzeitig genug dran, um sich ein Plätzchen in erster Reihe erobern zu können und flachsten miteinander, während die Männer damit begannen, die Sektflaschen zu entkorken.

»Was wird das Erste sein, das Ariane zu Kai im neuen Jahr sagt?«, fragte Susanne bestens gelaunt in die Runde.

Die Freunde lachten, nur Ariane knuffte Susanne auf den Oberarm.

»Mein Prinz«, echoten alle bis auf Heike im Chor.

Kai lief rot an. Ariane war in der Wahl ihrer Beschimpfung nicht sehr zimperlich.

»Ärger dich bloß nicht«, versuchte Heike sie zu beruhigen. »Es ist doch schön, wenn du einen hast. Die Anderen haben nur Kommissare und Hausmeister.«

Ariane schaute sie erst verständnislos an, dann spiegelte sich große Zufriedenheit auf ihrem Gesicht. »Stimmt. Immer diese Neider!«, lachte sie glücklich.

»Na, Miss Zoro«, trat Horst neben seine Heike und gab ihr ein Glas Sekt sowie einen Kuss. Sie drückte ihn an sich, ohne auf seine Spitze einzugehen, weil sich gerade eigentlich alle in den Armen lagen, während die Menschenmenge gemeinsam zum Jahreswechsel herunterzählte. »Frohes neues Jahr.« Ein wunderbares Feuerwerk zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab.

Böller und Raketen krachten, während Ekaterina langsam zu sich kam. Sie wollte sich bewegen, aber ihre Arme hingen irgendwie fest. Als sie auch die Beine nicht anziehen konnte, öffnete sie matt die Augen und hob den Kopf. Ihre Handgelenke steckten in Fesseln. Ein Blick zu den Füßen zeigte ihr, dass ihre Beine ebenfalls am Bett fixiert waren. Es machte ihr einige Mühe den Kopf zur Seite zu drehen, weil sie auf dem Bauch lag.

»Alles Gute zum neuen Jahr«, wünschte ihr Starke. »Du bist sehr pünktlich aufgewacht.«

Sie versuchte die Fesseln zu lösen, aber es wäre ihr auch nicht gelungen, wenn sie nicht außer Gefecht gesetzt worden wäre. »Was soll das?«, fragte sie ärgerlich.

Anstatt ihr zu antworten, spürte sie, wie er nun keineswegs mehr zärtlich ein Gleitmittel in ihrer Pofalte verteilte.

Sie versuchte sich dem zu entziehen, aber wie im Mittelalter beim Vierteilen waren ihre Gliedmaßen straff auseinandergezogen. Angst breitete sich explosionsartig aus. »Nein!«, fuhr sie ihn lauter an, »das haben wir nicht vereinbart.«

»Ich habe noch zwei Scheine draufgelegt, Häschen. Das sollte reichen.« Er ließ sich von ihrem Protest nicht beirren, im Gegenteil.

In ihrer Verzweiflung schrie sie ihn an: »Nein, habe ich gesagt. Hör sofort auf!«

»Das habe ich gehört! Aber was du sagst, interessiert hier niemanden. Heute werde ich ganz neue Perspektiven an dir kennenlernen.« Dann kam er wild über sie. Ihr Schrei mischte sich mit dem Böllerknallen vor dem Fenster. Sie spürte, wie er immer animalischer wurde, je mehr sie sich dagegen sträubte. Aber sie konnte nicht anders. Der Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wurde panisch, als er ihr zusätzlich eine Plastiktüte über den Kopf zog. Nicht lange und sie nahm wahr, wie sie zunehmend benommener wurde. Kurz nachdem sich das Tier über ihr gewaltig aufgebäumt hatte, verlor sie erneut das Bewusstsein.

Sie waren bester Stimmung. Nach einem herrlichen Essen hatten sie noch ein wunderschönes Feuerwerk beobachten können und standen nun im Kreis mit Sekt und »Traubensaft« beisammen.

»Schaut mal«, zeigte Horst auf die »Alte Brücke«. »Da wäre damals alles fast den Bach runtergegangen.«

»Andere Gedanken hast du heute nicht?«, zeigte sich Lene angesichts der Erinnerung an das Erpresser-Quartett keineswegs begeistert.

»Könnten wir vielleicht das Thema wechseln«, war Ariane ebenfalls wenig interessiert, »dazusitzen und nur zuschauen zu können, war absolut kein Vergnügen.«

»Stimmt!« pflichtete Kai ihr bei.

»Und ich möchte nie wieder in einem Schwimmbecken eine Tote finden«, gruselte sich Susanne immer noch. »Das war wahrlich kein schöner Anblick.«

Heiko drückte sie an sich. »Hat mir aber ganz neue Perspektiven eröffnet«, konnte er inzwischen über seinen ersten Blick auf Susanne witzeln. »Lebende Frauen sind halt doch schöner als tote.«

»Das ist jetzt aber ein bisschen ...«, setzte Heike zu einem Kommentar an, brach aber ab, weil Horst sie ohne Vorwarnung nach vorne schubste. »Was soll das denn?«

»So nicht«, entfuhr es ihm. Horst rannte los, bevor die Anderen sich von ihrem Schreck erholt hatten. Sie sahen, wie er sich vor einer Gruppe Jugendlicher aufbaute.

»Hey, habt ihr nur Luft im Hirn?«, konnten sie seine Stimme aufgebracht hören. »Her mit deinem Ausweis.«

»Ey, was willst du, Alter?«, erwiderte der Angesprochene lachend, weil er sich in der Gruppe sicherfühlte. »Geh zu Mutti.«

Thomas machte sich vorsichtshalber auf, um das Ganze aus der Nähe zu betrachten, bat die Anderen aber, sich nicht auch noch einzumischen. Ausnahmsweise gehorchte sogar Lene, die vermutlich zu dem Schluss gekommen war, schnell genug eingreifen zu können, falls die Situation eskalieren sollte.

»Ausweis, habe ich gesagt.« Horst konnte durchaus mit Autorität auftreten.

Wie das wohl ohne diese Fußballerfrisur wäre, stellte Thomas seine Betrachtungen zu dessen seit Jahren nahezu unveränderten Erscheinung an.

»Hältst dich wohl für´n Bullen?«, zeigte Horsts Gegenüber immer noch keine Bereitschaft zur Kooperation.

Der wütende Kommissar hielt ihm daraufhin seinen Dienstausweis unter die Nase, den er immer bei sich trug. »Erfasst, Schlaumeier.«

Der Raketenschütze wurde blass. Thomas konnte dessen Gesicht ansehen, dass der die Möglichkeiten taxierte, einfach abzuhauen. Nach einigem Zögern kam es schon kleinlauter: »Hab ich nicht dabei.«

Noch nie hatte Thomas ein so zorniges Gesicht bei Horst gesehen. Der wirkte in diesem Augenblick sogar auf ihn sehr bedrohlich.

»Dann rufe ich jetzt eine Streife und es geht ab auf die Wache«, zischte Horst mit drohendem Unterton, während er sein Smartphone zückte.

»Ist doch nichts passiert«, versuchte ein Anderer aus der Gruppe, den Kommissar zu beruhigen. »Machen wir auch nicht wieder, ey, ehrlich.«

Horst nickte sarkastisch. »Genau. Und beim nächsten Mal wird geflennt, das haben wir nicht gewollt und es tut uns ja so leid. Ausweis oder Anruf!«

»Mach doch nicht so ´n Stress, Mann. Das Jahr hat erst vor ein paar Minuten angefangen«, kam ein letzter schwacher Versuch von der Gegenseite. Als aber selbst Thomas keine Anstalten machte, seinen Kollegen aufzuhalten, wurde schließlich doch lieber der Ausweis gezückt.

»Und was passiert jetzt?«, fragte der Inhaber kleinlaut.

»Anzeige wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung«, klärte Horst ihn auf, während er sich die Personalien in seinem überaus vielseitigen Telefon speicherte.

»Das gibt´s doch nicht«, konnte es der Jugendliche kaum fassen. »Ich wollte überhaupt niemanden treffen.«

»Du hast die Rakete in Richtung einer Menschenmenge abgefeuert. ›Dolus eventualis‹ genügt hier für einen Vorsatz, Freundchen.« Er gab ihm den Ausweis zurück.

»Dolus ... was? Das stimmt doch gar nicht«, protestierte der Beschuldigte verzweifelt.

»Erzähl das dem Richter«, beschied ihm Horst knapp und ließ den Lamentierenden mit seinen nicht weniger betroffen dreinschauenden Kumpanen kommentarlos stehen, um mit Thomas wieder zu den Anderen zurückzugehen.

»Was war denn das?«, wollte Lene von Horst aus einer Mischung von Überraschung und Anerkennung wissen.

»Ich habe es satt«, hatte sich Horst immer noch nicht beruhigt, »dass heutzutage immer mehr Typen Mist bauen und hinterher flennen, sie hätten das nie gewollt, sobald sie die Konsequenzen zu tragen haben. Dann muss man halt vorher überlegen, was man macht. Stellt euch vor, die Rakete hätte jemanden getroffen, am besten wenn sie gerade explodiert. Geht´s noch?«

»Ist ja zum Glück nichts passiert«, versuchte Heike Horst zu erden.

»Du bist aber auch wie eine Rakete abgegangen«, flachste Kai, um die Stimmung wieder aufzuheitern.

Alle lachten, nur einer erwiderte: »Sehr witzig.« Das Gelächter nahm zu.

»Versteht ihr das nicht?«, machte er seinem Unmut weiterhin Luft. »Ich möchte einfach, dass die Menschen nicht so unachtsam und rücksichtslos miteinander umgehen.«

»Das hast du schön gesagt«, bestätigte ihm Susanne. Auch Heiko und Ariane nickten zustimmend.

»Es wäre schon etwas gewonnen, wenn das heute das Schlimmste gewesen wäre, das sich Menschen antun«, murmelte Lene vor sich hin.

Um sie herum war es dunkel. Nur ein schwacher Lichtschein drang von draußen durch das Fenster. Sie fror. Die Angst beim Erwachen war einer Erleichterung gewichen, als sie registriert hatte, dass er nicht mehr da war. Ihre Blase drückte, soweit sie das überhaupt spürte, weil ihr gesamter Unterleib höllisch schmerzte. Vorsichtig versuchte sie einen Arm anzuziehen – das ging, auch der andere Arm und die Beine waren frei. Als sie sich zwang, sich aufzusetzen, schoss ein stechender Schmerz vom Anus in die Bauchhöhle, der sie aufstöhnen ließ und ihr den Atem nahm. Sofort ließ sie sich wieder auf die Seite sinken. Die Tränen rannen über ihr Gesicht, während sie versuchte, die unendlich scheinende Leere aus ihrem Inneren zu vertreiben. Immerhin – sie lebte. Aber was war dieses Leben wert? Zu schwach, um sich gegen die Schmerzen zu erheben, zog sie die Decke über sich und machte einfach ins Bett. Wie tief war sie nur gesunken?

Susanne und Heiko lagen gegen fünf Uhr endlich im Bett, nachdem auch die Jüngeren gegangen waren. Lene und Thomas hatten sich bereits früher mit Verweis auf ihr fortgeschritteneres Alter verabschiedet. Zum Glück war Neujahr ein Feiertag, der dieses Mal leider auf einen Sonntag fiel.

»Was denkst du?« wollte Susanne von Heiko wissen, der verdächtig still war.

Er drückte sie fest an sich. »Ich wünsche mir gerade nur, dass es allen Menschen so gut geht wie uns.«

Mitgefühl kann tödlich sein

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