Читать книгу Mitgefühl kann tödlich sein - Henning Marx - Страница 7

Kapitel 3

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Thomas Sprengel ruderte, als ob es um sein eigenes Leben ginge. Der Junge kniete am vorderen Luftschlauch des Bootes und schaute gebannt auf das brennende Segelboot. Glücklicherweise gab es nur wenig Seegang, so dass sie recht flott vorankamen. Die Yacht war trotz des aufgerissenen Hecks und der dort lodernden Flammen noch ein Stück gesegelt, bevor die Schoten durchgeschmort waren. Inzwischen killten die Segel in der leichten Brise und der Bug hatte sich in den Wind gedreht. Zu Thomas´ Erleichterung hatte das Boot aufgrund des auflandigen Windes sogar begonnen, langsam auf die beiden in ihrem Schlauchboot zuzutreiben.

Bisher hatte keine Notwendigkeit bestanden, mit dem Jungen zu reden, den er auf vielleicht zehn Jahre schätzte. Der Knirps hatte auch so verstanden, was Thomas Sprengel im Sinn hatte. Er selbst saß beim Rudern ebenfalls zur Yacht gewandt, um das Schlauchboot mehr oder weniger auf dem direktesten Weg auf ihr Ziel zusteuern zu können. Leider brachten ihn selbst die kleinen Wellen immer wieder vom Kurs ab, so dass er befürchtete, wertvolle Zeit zu verlieren.

»Allí, allí«, rief sein kleiner Begleiter im Bug plötzlich laut und zeigte von dem Segelboot weg, während er sich zu Thomas Sprengel umschaute. »Una persona está en el mar. Yo la he visto.«

Irritiert hielt der Kommissar für einen Moment mit dem Rudern inne. »Wie bitte? Ich verstehe dich nicht.« Zur Unterstützung seiner Aussage hob er Hände, Schultern und Augenbrauen, während er leicht den Kopf schüttelte. Wenn er nicht zu sehr mit der Rettung etwaiger Opfer beschäftigt gewesen wäre, hätte er sich wie üblich geärgert. Immer wieder hatte er seine Sprachkenntnisse aufbessern wollen, aber nie Zeit und Ausdauer dafür gefunden – vor allem an der Ausdauer hatte es ihm jedes Mal gefehlt. Sollte hier deshalb jemand sterben? Mühsam unterdrückte er einen Fluch. Insoweit hatte die Aufforderung seiner Frau, noch bevor sie ein Paar geworden waren, sich in ihrer Gegenwart einer gemäßigten Ausdrucksweise zu bedienen, selbst in dieser kritischen Situation seine Wirkung entfaltet. Darauf würde er sie später gebührend hinweisen.

Der Junge stand inzwischen im Boot und zeigte weiterhin von der Yacht weg. »Allí, señor, una persona, una persona«, wiederholte der mit enormem Nachdruck in der Stimme.

Immerhin hatte er jetzt »Person« verstanden. Er blickte in die Richtung, die der Arm des Jungen vorgab, konnte aber niemanden im Wasser ausmachen. Wie sollte er das dem aufgeregten, aber wohl sehr aufgeweckten Kerlchen nur am schnellsten vermitteln? Er zeigte auf seine Augen und schüttelte abermals den Kopf.

»Sí, sí, una persona«, beharrte der Junge jedoch felsenfest auf seiner Beobachtung. »Levántese, levántese!«

Thomas Sprengel verstand die letzten Worte zwar nicht, deutete aber dessen Armbewegung, als wolle er ihn hochheben, richtig. Vorsichtig richtete er sich in dem Boot auf und blickte in die Richtung, die ihm sein Begleiter zunehmend ungenauer anzeigte. Zuerst sah er weiterhin nichts, was auf eine im Wasser befindliche Person hingedeutet hätte. Vielleicht hatte der Junge auch nur eine Schildkröte oder einen Felsen unter Wasser für einen Menschen gehalten. Doch als er seinen Blick etwas weiter nach rechts richtete, als der Junge ihm signalisierte, hatte er den Eindruck, als treibe dort zumindest ein Kleidungsstück. Vermutlich waren sie inzwischen ein wenig abgetrieben. Bei genauerem Hinsehen erkannte er zu seinem Entsetzen dann auch einen Kopf und Arme, die schlaff unter die Meeresoberfläche hingen. Er musste eine Entscheidung treffen – und das sehr schnell. Sollten sie zu der Person im Wasser oder zur Yacht rudern? Unschlüssig schaute er den Jungen an und hoffte vielleicht, in dessen Gesicht eine Antwort auf diese schwierige Frage zu finden. Konnten sie den im Meer Treibenden noch retten? Wenn sie dorthin zuerst ruderten, war es gleichzeitig möglich, dass erst in dieser Zeit jemand auf der Yacht Opfer der Flammen werden würde. Gerade als er sich entscheiden wollte, als Erstes die Person im Wasser zu bergen, sah er, wie sich um diese herum ein dunkler Fleck ausbreitete. Konnte das Blut sein?, schoss es ihm durch den Kopf. Während er immer noch zögerte, schaute er sich gehetzt um.

Von rechts zog ein Windsurfer immer schneller werdend heran, der offensichtlich ebenfalls Hilfe leisten wollte. Das war die Lösung. Er schwenkte sein Paddel weit über dem Kopf und hoffte, den Windsurfer damit auf sich aufmerksam zu machen und sein Vorgehen mit diesem abstimmen zu können. Zunächst zeigte der Wassersportler jedoch keinerlei Reaktion. Gerade als er aufgeben wollte, sah er im Abwenden doch noch, dass der Andere einen Arm mit nach oben gerecktem Daumen in seine Richtung ausgestreckt hatte. Sofort deutete Thomas Sprengel mit dem Paddel auf die im Meer treibende, offenbar blutende Person. Als der Windsurfer seinen Kurs entsprechend änderte, ruderte Thomas Sprengel mit dem Jungen die letzten hundert Meter auf die Yacht zu – so schnell, dass ihm die Muskulatur seiner Arme bereits nach der Hälfte der Strecke brannte.

»Gut gemacht, mein Junge«, murmelte er noch. Doch das kleine Kerlchen war vollauf damit beschäftigt, die Yacht und den Windsurfer im Auge zu behalten. Seinen Rudergast schien er nicht einmal mehr wahrzunehmen.

Sie hielten schräg von achtern kommend auf das brennende Boot zu. Wegen des Qualms konnten sie zunächst nichts Genaueres an Bord ausmachen. Thomas Sprengel achtete darauf, sich vom Heck freizuhalten. Nach wenigen Metern querab konnten sie dann sehen, dass sich das Feuer inzwischen im ganzen Cockpit ausgebreitet hatte und gerade begann, auch den Niedergang in Mitleidenschaft zu ziehen. Als eine kleine Böe den Rauch verwirbelte, packte Thomas Sprengel beim Anblick einer Frau Entsetzen, deren Oberkörper an der Reling lehnte. An dem schlaff über den Relingsdraht hängenden Kopf konnte er sofort erkennen, dass die Seglerin im besten Fall nur bewusstlos war. Die Flammen im Cockpit loderten bereits um ihre Unterschenkel herum. Von seiner Position konnte er aber nicht ausmachen, ob die Hose der Frau bereits brannte. Sollten sie am Ende doch zu spät kommen?

Weil er nicht abschätzen konnte, wie schnell sich das Feuer weiter ausbreiten würde, mussten sie zum Bug der Yacht, auch wenn dort das Freibord höher als mittschiffs war. Mittels Handzeichen bedeutete er dem Jungen, im Schlauchboot zu bleiben und sich an dem Schiff festzuhalten. Der nickte mit weit aufgerissenen Augen, aber entschlossenem Gesichtsausdruck. Folgsam hielt er sich mit seinen kleinen Händen an einer Relingsstütze fest, die er gerade so eben erreichen konnte. Zum Glück war das Schlauchboot leicht, so dass die dünnen Ärmchen ausreichen würden, ihn in seiner Position zu halten.

Mit einiger Mühe zog und hebelte Thomas Sprengel sich auf das Deck. Ein kurzer Blick zu dem Surfer zeigte ihm, dass dieser sein Ziel erreicht hatte und gerade dabei war, einen leblosen Körper auf das auf dem Wasser liegende Surfsegel zu ziehen. Weitere Boote näherten sich inzwischen ebenfalls dem Unglücksort.

Leider hatte er nichts außer seiner Badehose an und sah sich dem Rauch aus dem Cockpit ungeschützt ausgesetzt. Wegen der nur leichten Windbewegung stellten die auswehenden Segel und deren Schoten keine Bedrohung für ihn dar. Zügig konnte er sich zu der Bewusstlosen nach achtern begeben. Ein letztes Mal atmete er tief ein, bevor er die verbleibenden Meter zurücklegte. Die Flammen beschränkten sich hier zum Glück immer noch auf das Cockpit, nur das gesamte noch vorhandene Heck brannte lichterloh. Ohne auf Weiteres zu achten, griff er der Frau unter die Achseln und zog sie, so schnell das bei dem Gewicht einer Bewusstlosen möglich war, zum Bug. Als sich der Rauch mittschiffs lichtete, sah er erst, dass die Hose tatsächlich Feuer gefangen hatte. Schwer schnaufend und kräftig einatmend ließ er ihren Körper auf das Deck gleiten. Nur wie sollte er die Flammen löschen? Er selbst trug lediglich seine Badehose. Suchend blickte er sich um, musste aber verzweifelt feststellen, sich auf einem tadellos klarierten Boot zu befinden. Dort fand sich nichts, womit er die Sauerstoffzufuhr der brennenden Hosenbeine hätte unterbrechen können. Sollte er sie einfach über Bord werfen? Das Risiko wollte er nicht eingehen. Die Sekunden rannen immer schneller dahin, während die Flammen sich an den Beinen der Frau stetig weiter hinauffraßen. Aber da war es doch vor seinen Augen. Innerlich entschuldigte er sich bei der Frau, bevor er ihr das Polo-Shirt aufriss. Mit einer schnellen Bewegung zog er es eilig unter ihrem Rücken und über die Arme weg, um damit schließlich die Flammen erfolgreich zu ersticken. Auch wenn er schon so manche Leiche gesehen hatte, ließ ihn der Anblick der verkohlten Hose und stellenweise zu sehender schwarzer Haut nicht kalt. In der jetzigen Situation war es vielleicht sogar besser, dass die Frau nicht bei Bewusstsein war. Während er kurz überlegte, wie er sie am besten in das Schlauchboot bekam, drängte sich trotz der Umstände ein Gefühl peinlichen Bedauerns in sein Bewusstsein. Dieses musste wohl unbewusst durch den Anblick des nun nackten Oberkörpers entstanden sein: Die junge Frau trug keinen BH. Nur für einen Augenblick konsterniert, besann er sich jedoch gleich wieder, richtete sie auf und griff mit einem Arm hinter ihren Rücken, während er den andern unter ihre Knie schob. Mit einem tiefen Schnaufen richtete er sich mit der Bewusstlosen auf, wobei ihr Kopf sofort wieder nach hinten fiel. An seinen Füßen verspürte er dabei eine unangenehme Hitze, die er zunächst auf das höhere Gewicht schob, bevor er registrierte, wie die Flammen inzwischen auch unter Deck hinter einer Fensterluke um sich griffen. Die Hitze stammte folglich vom Feuer. Sie mussten schnellstens von dieser Yacht. Gab es da nicht auch Gaskocher? Saßen sie am Ende auf einem Pulverfass?, heizten seine sich schnell jagenden Gedanken nun seine Nervosität an und führten für einen Augenblick zu einem schmerzhaften Zusammenziehen seines Magens. Schnell, aber durchaus vorsichtig hob er die Beine der Frau über die Reling. Eigentlich hatte er sie kopfüber in das Schlauchboot herunterlassen wollen, dann war ihm aber eingefallen, dass das für die Verbrennungen an den Beinen beim Herablassen sicherlich nicht so vorteilhaft wäre. Also musste es auch andersherum gehen. Eine kleine Explosion unter Deck erschreckte ihn so sehr, dass er um ein Haar den Griff um die Taille der jungen Frau gelöst hätte. Sein Herz klopfte wie wild und er schwitzte nicht nur wegen des Feuers. Während der kleine Junge das Schlauchboot mit unbändigem Willen in Position hielt, ließ Thomas Sprengel den Körper der bewusstlosen Frau langsam nach unten gleiten, bis er deren Rippenbogen spürte. Er versuchte den Griff zu ändern, um zu verhindern, mit Händen und Armen über ihre Brüste gleiten zu müssen, spürte jedoch, nicht über ausreichend Kraft zu verfügen. Als irgendetwas im Boot gewaltig ächzte, gab er das Denken endgültig auf und ließ die Frau sofort weiter ab. So weit wie es ihm möglich war, hielt er ihren Körper noch an den Armen und Händen aufrecht. Aber das letzte Stück musste der Oberkörper ins Boot fallen. Das ließ sich leider nicht ändern, weil der Kleine das Boot in seiner Lage stabilisieren musste. Anderenfalls wäre er wohl auch zu schwach gewesen, das enorme Gewicht einer bewusstlosen, sich im Fallen befindenden Frau überhaupt zu halten.

Mit einer Geste signalisierte Thomas Sprengel dem Jungen, sich von der Yacht abzustoßen. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass andere Boote inzwischen in der Nähe waren und ihnen helfen konnten. Leider sah er keine Möglichkeit mehr, unter Deck nachzusehen, ob sich dort noch jemand befand. Hinter allen Luken wüteten Flammen oder waberte Rauch. Weiter im Süden sichtete er ein Schnellboot, das mit hoher Geschwindigkeit ebenfalls auf sie zuzuhalten schien. Ob das aufgrund von Lenes Benachrichtigung im Hotel aus Bridgetown herüberkam? Endlich sprang er selbst über die Reling und schwamm zum Schlauchboot des Jungen, der erst wenige Meter zurückgelegt hatte. Das Rudern war inzwischen erheblich schwieriger, weil die Frau viel Raum in dem kleinen Boot einnahm. In seiner Not benutzte der kleine Kerl nur eines der Ruder wie ein Paddel.

Thomas Sprengel hielt der Bewusstlosen kurz seine nasse Hand dicht unter die Nase, auf der er zu seiner großen Erleichterung einen ganz leichten Lufthauch spürte. Immerhin.

Eine Person auf einem Jet-Ski verlangsamte ihre Fahrt erst auf den letzten Metern und drehte neben dem Gummiboot bei. Große Freude breitete sich auf Thomas´ Gesicht aus, als er Lene erkannte.

Die wiederum sah mehr als besorgt zu ihm herunter: »Alles in Ordnung, Schatz?«

»Bei mir schon. Die Frau im Boot muss schnellstens in ein Krankenhaus.«

Lene nickte. »Ich weiß auch wie! Nimm die Leine da vom Boot und knote sie hier an den Jet-Ski. Ich ziehe das Boot an den Strand. Das geht schneller.«

»Meinst du, das klappt?«, war sich Thomas nicht sicher, ob der Einfall so einfach umzusetzen war.

»Ich werde vorsichtig fahren«, versprach Lene ihm, sich der Problematik bewusst.

Thomas befestigte die Leine so gut, wie er das eben als Nicht-Segler konnte. »Fertig.«

»Willst du noch aufsteigen?«, wollte Lene eigentlich nur wissen, ob sie ihn alleine im Wasser zurücklassen konnte.

»Fahr! Das hält nur unnötig auf. Die Frau atmet übrigens«, gab er ihr noch mit.

»Okay. Bis gleich.« Vorsichtig beschleunigte sie bis zu einem Punkt, an dem das Schlauchboot leicht zu schlingern begann.

Thomas Sprengel war gerührt, als er sah, wie der kleine Junge den Kopf der verunglückten Seglerin achtsam auf seine Beine bettete. Dem Surfer waren inzwischen zwei Boote zu Hilfe gekommen. Hoffentlich hatte auch diese Person Glück gehabt. Langsam schwamm er zurück zum Strand, wobei er seinen Gedanken nachhing. Eine Woge der Dankbarkeit erfasste ihn angesichts seiner eigenen Situation. Wie schön war sein Leben doch, seitdem er es mit Lene teilen durfte.

Lene Huscher war inzwischen am Strand angekommen, wo Thomas Sprengel sie mitsamt dem Jungen und der Bewusstlosen in einer Menge Helfender verschwinden sah.

Mitgefühl kann tödlich sein

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