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Frau Heerten moppt 1

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Frau Heerten, Vorname Sabine, wedelt mit dem Staubmopp über die Anrichte. Staub wischen hat ja nun wirklich gänzlich seinen Reiz verloren. Wenn sie daran denkt, wie sie früher das Staubtuch mit dem Zeigefinger durch die Ritzen und Ornamente der Möbel gezogen hat, es dann liebevoll über die Wölbungen der Schubladen gleiten ließ und mit vollem Einsatz die Arme der Leuchter gewienert hat, das war noch was. Heute fährt sie mit einer baumwollbepuschelten Plastikgabel über die glatten Flächen und hat für etwas unwegsameres Gelände wie zum Beispiel hinter dem Fernseher oder auf den Büchern im Regal diesen knallbunten Staubwedel am Stiel.

Genau. Stiel! Das Ganze hat einfach keinen Stil mehr. Ist im Grunde, das muss man ehrlich sagen, nur noch Arbeit. Und eigentlich nicht mal mehr das. Dazu ist es zu wenig mühsam.

Trotzdem wischt sie Staub – jeden Morgen als Erstes.

Nein, nicht als Erstes. Als Allererstes schwingt sie sich aus dem Bett, obwohl ich eigentlich »wuchtet« sagen sollte. Nicht dass sie sonderlich dick wäre, wirklich nicht, aber es ist eben alles schon etwas … wie nennt man das? Etwas schwergängig geworden. So als ob man der Mechanik ein Tröpfchen Öl gönnen sollte. Deshalb nimmt sie zu ihrem Kaffee immer diese blässliche kleine Kugel, die die Pumpe in Schuss hält, wenn sie der Packungsbeilage und ihrem Arzt und dem Apotheker glauben darf. Und zwei von den gelben Kapseln, die die Leitungen frei halten. Außerdem die weiße für den gesamten Kabelbaum, eine kleine rosafarbene, die die Schaltzentrale auf Trab hält, und dann eben diese große grüne, quasi als Ölkännchen.

Eigentlich sollte sie das Ganze mit zwei Tassen Ingwertee runterspülen, während sie ein Müsli aus echtem Schrot und Korn gut durchspeichelt, aber irgendwann muss auch mal gut sein.

Jetzt macht sie mit Plastikpuschel und Staubwedel bewaffnet ihren Rundgang durch die Zimmer und verleiht der staubwischenden Nicht-Arbeit etwas Pep, indem sie für die unteren Bereiche in die Knie geht und freihändig wieder hochkommt (manchmal zumindest), beim Wedeln hinter dem Fernseher galant ein Bein abspreizt und für die Bücher in der obersten Regalreihe einen Hüpfer wagt. Und den Sekretär entstaubt sie auf einem Bein.

Erst zum Schluss nimmt sie ein Staubtuch – richtig eins von früher, nicht diese Mikrofaserdinger – und nähert sich damit der Ahnengalerie, die dekorativ auf dem alten dunklen Büfett aufgebaut ist. Hier wird nicht gepuschelt und gewedelt, hier wird ganz ordentlich Staub gewischt. Zuerst natürlich die Großeltern, die im Sonntagsstaat bei einem echten Fotografen im Fotostudio in den Fotoapparat lächeln. Entschuldigung, hier sollte ich vielleicht besser »Photograph«, »Photostudio« und »Photoapparat« schreiben.

Dann wienert sie den Silberrahmen, in dem der Tag verewigt ist, an dem Mutti und Vati geheiratet haben, und nimmt sich anschließend die hintere Reihe der buckligen Verwandtschaft vor. Onkel Rudi, nun auch schon eine ganze Weile tot, muss den Rest seiner Tage in diesem geschmacklosen Herzchen-Rahmen zubringen – ein Geschenk von Tante Margret. Zum Dank dafür hat Frau Heerten deren Porträt ebenfalls in einen hässlichen Rahmen geklemmt. Zwischen zwei Plexiglasscheiben, in die der Eiffelturm eingraviert ist, umflogen von zwei Täubchen. Das hat Margret nun davon.

In der vorderen Reihe steht neben Frau Heertens offiziellem Hochzeitsfoto die einzelne Fotografie von Armin. Ach ja, Armin. Sechs Jahre, zwei Monate und dreiundzwanzig Tage ist sein Herzversagen nun schon her und hat sie mit einem Schlag von einer fröhlichen Ehefrau in eine grämliche Witwe verwandelt.

Schnell weiter zu Thomas, dem Sohnemann, dem Goldstück. Schneidig sieht er aus in seinem schicken Baumwollsweater. Leider im Hintergrund die Skyline von Manhattan. Mal eben von Suchsdorf aus zum Nachmittagstee nach New York ist nicht drin. Und die zwei Wochen, die sie einmal im Jahr bei ihm verbringt, werden immer beschwerlicher. Für sie. Aber auch für ihn. Im Grunde gibt es nur zwei schöne Tage, wenn Mutter zu Besuch ist: der eine, wenn sie kommt, und der andere, wenn sie wieder geht beziehungsweise zum anstrengenden Rückflug im Flieger verstaut ist.

Dann kommt Karin an die Reihe. Ja, hätte man vor vier Jahren kaum für möglich gehalten, aber Karin steht wieder auf dem Büfett. Geschwungener eleganter Silberrahmen und nur in der linken Ecke am oberen Rand ist das Glas leicht gesplittert. Ansonsten hat Karin den schwungvollen Rauswurf aus der Ahnengalerie unbeschadet überstanden.

Nachdenklich nimmt Frau Heerten den Bilderrahmen hoch und wischt mit dem Staubtuch über die Tochter. Ganz sorgfältig, auch in den Ecken, wobei das Staubtuch über den Sprüngen im Glas ein wenig hakt. Dann wendet sie sich den beiden kleinen Silberrahmen zu, in denen alle normalen Großmütter ihre Enkelkinder stecken haben. Sie atmet tief ein. Zärtlich streicht sie mit dem Staubtuch über die Bilder, ganz so, wie Großmütter es tun. Denn das ist sie: eine ganz normale Großmutter.

Nur die Bilder der Enkelkinder sind nicht so normal. In dem etwas größeren Rahmen lacht ihr ein Bild von einem Mainzelmännchen entgegen – sie hat das mit der hellblauen Mütze gewählt – und in dem kleinen eins von Wum. Sie hätte natürlich auch Wendelin in den Rahmen stecken können, aber sie findet Wum niedlicher. Der passt sicher viel besser zu der süßen kleinen Leonie, die sie noch nie gesehen hat. Von der sie noch nicht einmal ein Bild hat. Eine Gemeinheit, so was. Alle Welt knipst mit dem Handy alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, und ihr gönnt man nicht mal das kleinste Bild von ihren Enkelkindern. Selbst wenn es nur zwei Händchen wären, die unscharf aus einem Kinderwagen lugen. Und das alles wegen dieser dummen Sache.

So. Nachdem nun alles – einschließlich der Enkelkinder – entstaubt ist, hat sie das Schlimmste des Tages überstanden.

Könnte man denken. Und ist auch normalerweise so. Auch heute müsste es so sein, denn bisher war alles wie immer. Der Wecker hat geklingelt wie jeden Morgen. Um sieben Uhr, ganz wie zu Armins seligen Zeiten, obwohl sie jetzt, wo sie allein ist, gemütlich bis mittags im Bett liegen bleiben könnte. Sie hat sich aus dem Bett geschraubt, den Tablettencocktail eingeworfen und ihren Tag gestartet. Hocke vor der Anrichte, Strecksprung vorm Bücherregal, Balanceakt am Sekretär.

Alles wie immer.

Und dann aber doch nicht.

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