Читать книгу Kieler Bagaluten - Henning Schöttke - Страница 8
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ОглавлениеFrau Heerten ist noch nicht weit gekommen, da macht es »Rums!« und dann hoppel, hoppel. Was war das denn? So betrunken, dass sie an eine Unebenheit in der Fahrbahndecke glaubt, ist sie nun doch nicht, vor allem hier zwischen den beschaulichen Einfamilienhäuschen in den Straßen des beschaulichen Suchsdorf.
Als sie aussteigt, sieht sie die Katastrophe.
Ja, tatsächlich, totale Katastrophe. Die kleine Maunzi von nebenan! Schrecklich. Völlig verquer liegt sie unter dem Auto und gibt keinen Maunz mehr von sich.
Was ist das nur für ein schrecklicher Tag. Da hätte sie doch eigentlich vorher ahnen müssen, wie schrecklich er werden wird. Hat man ja oft, dass man was ahnt und weiß: Heute bleibe ich am besten den ganzen Tag im Bett. Aber sie? Nix. Morgens ganz normal Kaffee getrunken, Tabletten genommen, Staub gewischt, nicht die leiseste Ahnung, von nichts. Und dann läuft der Tag so völlig aus dem Ruder. Erst der Wisch über das Wohnzimmerbüfett, dann der Suff und jetzt die Katze. Wer weiß, was noch wird. Schließlich ist erst Vormittag.
Wie in Trance greift sie die Katze, geht ums Auto herum, klappt den Kofferraum auf und legt Maunzi in den Pappkarton, den sie immer für ihr Altglas spazieren fährt. Klappe wieder zu und weiter. Gut, dass es inzwischen elf Uhr ist, da sind keine Schulkinder auf der Straße. Hätte sonst gut sein können, dass sie in ihrem desolaten Zustand auch noch zwei, drei Schüler samt Schulranzen übermangelt. Das Gedränge im Kofferraum mag man sich gar nicht vorstellen.
Ganz benommen kurvt sie mit ihrem Auto weiter durch Suchsdorf. Erst allmählich wird ihr klar, dass sie hinten im Wagen eine tote Katze hat. Noch dazu eine, die sie kennt, Maunzi, die schon so oft bei ihr auf der Terrasse ein Schälchen verdünnte Milch geschlabbert hat. Da will sie gar nicht wissen, was Herr Wagner sagt, wenn er hört, dass sie seine Katze überfahren hat.
Sie atmet heftig aus. Herr Wagner wird es vielleicht nehmen wie ein Mann, aber seine beiden Kinder? Wie oft sind Felix und Mia mit Maunzi auf dem Arm von der Gartenpforte her zu ihr gekommen, haben sich neben sie ins Gras gehockt und erzählt. Ganz so, wie Enkelkinder es tun beziehungsweise wie sie sich vorstellt, dass ihre Enkelkinder es täten, wenn sie welche hätte. Aber sie hat ja keine. Wenn man mal von dem Mainzelmännchen und Wum absieht.
Wie sagt man zwei Kindern, dass ihre geliebte Katze tot ist, weil man eine halbe Flasche Eierlikör mit zwei Schlückchen Klosterfrau Melissengeist verwechselt hat? Weil man nicht mehr im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war? Und es nicht mehr geschafft hat, der schwarzen Katze auszuweichen. Beziehungsweise sie überhaupt nicht gesehen hat, als sie über die Straße lief. Von links nach rechts – bringt schlecht’s. So geht das Sprichwort, obwohl sie überlegt, dass von rechts nach links – Glück bringt’s nicht wesentlich besser gewesen wäre. Zumindest nicht für Maunzi.
Frau Heerten fährt an den Straßenrand, stellt den Motor ab und versucht nachzudenken. Am besten, die Katze ist einfach weg. Sie wird sie bis zum Abend im Kofferraum liegen lassen und dann in der Dunkelheit in irgendeine entfernte Mülltonne werfen. Ja, so wird sie es machen. Gerade will sie den Motor wieder anlassen, da wird ihr klar: So geht es nicht. Ein bisschen ein anständiges Begräbnis, das muss schon sein. Im Garten. Vielleicht bei dem kleinen Johannisbeerstrauch. Ein kleines Kreuz drauf, das wäre anständig.
Klar, total anständig. Und alles andere als geschickt. Besonders wenn gerade in diesem Augenblick Felix und Mia rüberkämen und ihr erzählten, dass Maunzi weg ist. Selbst wenn die beiden Kleinen nicht kämen und sie vielleicht – Pietät hin, Pietät her – das Kreuz wegließe, würde der Fleck im Rasen sie immer wieder an diesen Tag erinnern. Quasi vorprogrammierte psychische Folter. Nein, das geht nicht.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis sie endlich auf das einzig Richtige kommt: Sie wird die Katze in der Abenddämmerung irgendwo an der Uferböschung vom Nordostseekanal heimlich vergraben, und niemand wird je davon erfahren. Oder hat vielleicht irgendwer gesehen, wie sie die Katze überfuhr? Kennt man ja, die Hausfrauen, die den Vormittag mit Kissen auf dem Fensterbrett verbringen. Nein. Nicht in Suchsdorf. Ich will jetzt nicht behaupten, dass Suchsdorf die beste Gegend Kiels ist – das ist unangefochten Düsternbrook – oder auch nur die zweitbeste. Das ist Kronshagen, das sich sogar weigert, zu Kiel zu gehören. Aber es ist doch immerhin eine der besseren Gegenden. Auch hier sind die Eigenheime nicht umsonst. Deshalb geht die Suchsdorfer Hausfrau brav sich selbst verwirklichen und schafft mit an.
Frau Heerten gedenkt, erst mal nach Hause zu fahren, die Dunkelheit abzuwarten, den Spaten aus dem Keller zu holen, ihn in den Kofferraum zu packen und … da fällt ihr ein, eine Katze hat ja sieben Leben. Beim Öffnen der Kofferraumhaube wird ihr Maunzi bestimmt ins Gesicht springen. Natürlich nur, wenn sie ihre sechs anderen Leben nicht schon verballert hat.
Frau Heerten wird richtig schwindelig, als sich die sieben Katzenleben wie ein Rad in ihrem Kopf drehen. Das wäre ja geradezu großartig, wenn die Katze noch lebte und nachher munter aus dem Auto hüpfte. Wunderbar. Und ihre beiden Adoptiv-Enkelkinder lieben sie weiterhin so innig wie eh und je. Fast wäre sie auf der Stelle ausgestiegen, um die Katze zu befreien. Doch bei Maunzi handelt es sich nicht um eine Wildkatze, sondern um ein vielleicht etwas degeneriertes Stadtkätzchen. Fraglich, ob sie den Weg nach Hause findet.
Endlich hat Frau Heerten die Kraft, den Wagen zu wenden und langsam wieder zurückzufahren. Sie parkt ihr Auto rückwärts an der Ligusterhecke und öffnet die Kofferraumhaube von der Seite her, damit die Katze an ihr vorbeispringen kann, ohne ihr das Gesicht zu zerkratzen. Aber nichts rührt sich. Maunzi liegt noch genau so in der Kiste, wie sie sie hineingelegt hat.
Am liebsten wäre Frau Heerten jetzt ins Haus gelaufen und hätte sich versteckt. Wie damals als Kind. Einfach die Hände vors Gesicht schlagen und rufen: Ich bin nicht da. Und wenn sie die Hände runternimmt, ist alles wieder gut. Die Bilder stehen heil und wohlgeordnet auf dem Büfett, und die Katze lebt.
Ja, es wundert mich nicht, wenn die Leute behaupten, Menschen würden im Alter oft wieder kindisch. So alt scheint Frau Heerten allerdings noch nicht zu sein, sie erinnert sich jedenfalls gerade noch rechtzeitig daran, dass das mit den Händen vorm Gesicht schon als Kind nicht geklappt hat.
Als es zu dämmern beginnt, hält Frau Heerten am Parkplatz auf dem nördlichen Kanalufer schräg gegenüber der Kanalwache und steigt mit Spaten und Pappkarton samt inwendiger Katze aus dem Auto. Die Stelle, an der sie Maunzi begraben will, kennt sie von ihren vielen Spaziergängen mit Armin – damals, als das Leben noch schön war.
Im Augenblick ist das Leben allerdings gar nicht schön. Es ist inzwischen ziemlich dunkel geworden, sie sieht kaum was, als sie sich vorsichtig die Böschung hochtastet. Natürlich hat sie eine Taschenlampe. Sie hat sogar drei – alle zu Hause. Von der Brücke, die von hier unten übermächtig, ja geradezu bedrohlich wirkt, fällt kaum ein Lichtstrahl herab. Um diese Zeit fahren hier nur wenige Autos. Und deren Scheinwerferlicht wird von dem schweren Gerät, das für die anstehenden Umbaumaßnahmen herbeigeschafft wurde, größtenteils verdeckt.
Sie bleibt kurz stehen und sieht zu den dunklen Silhouetten der Baumaschinen hoch. Das hätte ihrem Thomas sicher gefallen – oder noch besser Karin. So viele Puppen hat sie ihr geschenkt, doch das undankbare Kind hat immer nur mit Thomas’ Autos gespielt.
Die Zweige, an denen sie sich nach oben zieht, piksen sie in die Hand und krallen sich in ihrem Mantel fest. Sie hat nur den rechten Arm frei, um sich festzuhalten. Unter dem linken klemmen der Spaten und der Karton mit Maunzi. Zweimal schon wäre sie ihr beinah rausgefallen und die Böschung hinuntergekullert. Frau Heerten ist fix und fertig, als sie endlich an ihrem Ziel angekommen ist und für Maunzi ein geeignetes Plätzchen findet. Hier ist die Erde locker und weich, ideal, um die Katze zu ihrer letzten Ruhe zu betten.
Und schon wieder ahnt sie nichts. Wobei ich wirklich sagen muss: Diesmal ist das total erstaunlich. Wenn man heimlich und verstohlen so dicht an einem Geheimnis ist, dann sind doch alle inneren Antennen auf Empfang und sirren sich die Seele aus dem Leib. Aber Frau Heerten hat nur Augen für diese geeignete Stelle. Sie wird erst stutzig, als ihr Spaten mit einem metallischen Klang auf etwas Hartes trifft.