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In den Dreißigern wird verhandelt

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I ch habe eine gute Freundin. Ihr Name ist Polly, sie ist 54 und arbeitet als Drehbuchautorin. Ihre große Liebe hat sie erst mit Mitte vierzig getroffen. Sie und ihr Partner wohnen in getrennten Wohnungen, treffen sich immer nur dann, wenn sie Lust aufeinander haben. Mit seinen schmutzigen Socken möchte Polly nichts zu tun haben. Sie lebt für glamouröse Partys, reist viel um die Welt und liebt ihre Arbeit. Wir haben schon häufig zusammen an Texten gefeilt, dabei trinken wir Wein und landen früher oder später auch immer beim Thema Liebe und Männer. Normal. Polly hat mal etwas zu mir gesagt, was mich nachhaltig beeindruckte. So hatte ich das zuvor noch nie irgendwo gehört, aber es machte für mich auf Anhieb Sinn: »In den Dreißigern wird verhandelt: Willst du Kinder oder nicht? Wenn du keine willst, bekommst du auch keinen von den lieben, fürsorglichen, bindungswilligen Typen, die auf Hausbau und Familie aus sind. Männer sehen in dir dann keine Frau fürs Leben, sondern eine für ein Abenteuer. Wahrscheinlich wirst du lange keine glückliche Beziehung führen. Ab 40 entspannt sich die Lage wieder. Sobald die Rushhour des Lebens vorbei ist und du weder ›Frischfleisch‹ noch ›Muttermaterial‹ bist, beginnt die beste Zeit. Die Leute hören endlich auf, dich zu bewerten, du kannst tun und lassen, was du willst, und die ersten Geschiedenen werden auf den Markt gespült. Erntezeit!«

Auch heute noch habe ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Soll ich mich jetzt auf meine Vierziger freuen und bis dahin auf Durchzug schalten? Ich glaube nämlich fest daran, dass irgendwo da draußen ein Mann auf mich wartet, der so tickt wie ich: freiheitsliebend, offen für alles Mögliche, nicht so verbissen, was die eigene Lebensplanung angeht. Ein verbindlicher, liebevoller Lebemann. IST DAS ETWA ZU VIEL VERLANGT?! Ich hoffe nicht. Andere haben schließlich auch bekommen, was sie wollten oder zu wollen glaubten: Die Hälfte meiner Freundinnen ist mehr oder weniger glücklich vergeben, alle paar Monate presst eine von ihnen ein niedliches rosafarbenes Etwas aus ihrer Vagina. Die andere Hälfte steht am Rande des Wahnsinns, weil sie in toxische On-Off-Liebeleien verwickelt ist. Einige haben komplett resigniert, andere amüsieren sich köstlich mit wechselnden Lovern. Und ich? Schwebe irgendwo in der Mitte. Meine Suche nach einem coolen, finanziell einigermaßen gefestigten, ehrlichen, kunstaffinen, intellektuell stimulierenden Freund ohne nennenswerte psychische Störung und mit gutem Musikgeschmack kommt mir immer öfter vor wie Frodos Wanderung zum Schicksalsberg: Ich muss jederzeit mit einem glitschigen Gollum rechnen!

Manchmal ist es fast schon einfacher, wenn ein Flirt online bleibt. Nett hin und her schreiben. In der Fantasie bleiben. So kann nichts zusammenbrechen. Ich kenne einige Frauen, die sich einen Boy in ihrem Handy halten. Alles, was sie von ihm wollen, sind zuckersüße Nachrichten, um sich weniger allein zu fühlen, abends, auf dem Sofa. Dafür füttern sie ihn ihrerseits mit verheißungsvollen Nachrichten und Fotos. Ein stillschweigender Deal, der in der »Generation beziehungsunfähig« immer beliebter wird.

Im Zeitalter von Individualismus, #MeToo,KitKatClub, Dating-Apps, Designerbabys und Sextoys mit Orgasmusgarantie wird es immer schwieriger, einen Menschen zu finden, der sich überhaupt noch langfristig binden will. Viele sammeln nur noch und scheinen vergessen zu haben, wie hoch die Belohnung ist, wenn man sich wirklich auf jemanden einlässt und sagt: »Dich will ich und sonst keinen!« Ganz egal, ob in Timbuktu vielleicht jemand sitzt, der theoretisch NOCH besser zu einem passen würde.

Zwischendurch lohnt es sich immer mal wieder, den eigenen Suchverlauf bei Google unter die Lupe zu nehmen, um den eigenen Seelenzustand auf etwaige Mängel zu überprüfen. (Liegt es vielleicht doch an mir – weil ich IRRE bin?!) Heute zum Beispiel kam bei mir Folgendes zusammen:

 Spiegel Online, Die Zeit, Bild, Süddeutsche, New York Times

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Alles im grünen Bereich. Finde ich. Vieles ist sowieso zyklusbedingt. In ihrer PMS-Phase braucht frau sich nicht großartig über partiellen Wahnsinn, depressive Schübe oder völlig abgedrehte Escape-Fantasien à la »Ich kündige und wandere morgen nach Bali aus!« wundern. Schon mal von der Böser-Eierstock-guter-Eierstock-Theorie gehört? In manchen Monaten stecken wir Frauen unsere Tage ganz easy weg, in anderen leiden wir wie Brasilien im 1:7-WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland – und zwar weil sich unsere Eierstöcke monatlich abwechseln und einer von ihnen immer die Rolle des »Bad Cop« übernimmt. Wenn der Schicht hat, ist bei uns dunkler Schacht. Schmerzen! Trauer! Wahnsinn! Doch statt unser PMS zu verfluchen, sollten wir diese Überempfindlichkeit lieber zu unserem Vorteil nutzen – als eine weibliche Superkraft, die uns dabei helfen kann, ein glücklicherer Mensch zu werden. Die, die es wissen müssen, haben herausgefunden, dass die emotionale Intelligenz in dieser Phase auf ihrem Höhepunkt ist und uns hilft, außergewöhnlich kluge Entscheidungen zu treffen. Hinter vermeintlichen Kleinigkeiten, die uns nerven – Unordnung, Lärm, Jobfrust, ein unaufmerksamer Partner oder die Menschheit an und für sich –, stecken in Wahrheit oft sehr reale Dinge, die uns traurig und unzufrieden stimmen. Wir können das sonst bloß besser verdrängen. Das PMS stellt sich ein, sobald der Östrogenspiegel sinkt, und schon sind wir nicht mehr kompromissbereit und stellen alles infrage: Job, Partnerschaft, Politik, Lebensinhalt. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass wir dringend an ein paar Stellschrauben in unserem Leben drehen sollten.


»Piep.« Oh, ein Match. Wenn es ein gutes ist, könnte ich mich für heute Abend noch verabreden. Falls damit nicht eine einzigartige Lovestory beginnt und der Typ auch nicht als »plus eins« taugt, könnte das Date bestenfalls als Stoff für einen lustigen Artikel reichen. Man muss ja heutzutage recyceln, wo es nur geht. Oh. Mein Match ist Astronaut! Verdammt, der sieht ja genauso aus wie jener Astronaut, den meine beste Freundin Kaja gerade bei Tinder kennengelernt hat. Fuck. Es IST der Astronaut, den Kaja seit zwei Wochen trifft. Ich schicke ihr einen Screenshot und rate ihr, keine weitere Energie an die Null zu verschwenden. Danach verabrede ich mich mit ihm. Natürlich bloß, um ihn zu versetzen, damit ich Kaja rächen kann. Puh, war das wieder ein anstrengender Tag …

Ihr könnt mich mal so nehmen, wie ich bin

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