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»Hi! Na?« Oder: Gratis-Club-Feeling

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M ein Name ist Henriette, ich bin 34, und alles, was mich gerade interessiert, ist, wann die verdammten Clubs nach der Corona-Krise wieder öffnen. Ich bin weder verheiratet noch arbeite ich auf die nächste Beförderung hin. Dafür lege ich größten Wert auf eine anspruchsvolle Freizeitgestaltung. Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit meiner Ü-60-Clique auf einem Roland-Kaiser-Konzert. Sitzplätze, Champagner satt, Schunkeln im Takt. YOLO! Einen Tag später habe ich mit Freunden Techno in einem abgeranzten Berliner Club aufgelegt. Die halbe Gage ging auf der Rückfahrt für mieses Tankstellenessen drauf. Dafür war unser Glücksdepot randvoll. Dann kam Corona.

Mein neues Nummer-eins-Hobby sind Spaziergänge. Wenn mir langweilig ist, lungere ich mit einer Freundin vor teuren Hi-Fi-Fachgeschäften herum, die der Laufkundschaft den Sound des neuesten Bose-Soundsystems präsentieren, und freue mich über Gratis-Club-Feeling. Masken finde ich nicht schlimm, die habe ich früher schon auf Raves in staubigen Gefilden getragen. Dazu heimlich ein Schlückchen aus dem Piccolöchen »to go«, versteckt im Eastpak-Rucksack … und – schwups! – fühlst du dich wieder wie früher, mit 16. Statt unser hart verdientes Geld wie sonst für Restaurantbesuche und überteuerte Cocktails auszugeben, hängen meine Freunde und ich neuerdings wieder auf Spielplätzen ab, trinken Eistee (mit Schuss) aus Tetrapacks und spielen Tischtennis. Aus der Bluetoothbox dröhnt Nicht allein von Absolute Beginner. Wir tragen Kapuzenpulli und Gummistiefel. Einer kifft. Wir sind diesen Monat alle in Kurzarbeit: kein Geld, massig Zeit, wenig zu tun. Das fühlt sich an wie endlose Sommerferien auf dem Dorf. Leider geil.

Im vergangenen Sommer bin ich Tante geworden. Das schönste Gefühl der Welt. Was mich selbst angeht – keine Ahnung, ob das was für mich wäre: ein Baby. Meine Oma fragt mich jedes Mal am Telefon, wann es bei mir so weit ist. Nervig! Mag ja sein, dass ich keine 22 mehr bin, aber bei dieser verbissenen Hetzjagd nach dem ultimativen Happy End (aka Haus, Hochzeit, Nachwuchs), die einige Frauen in meinem Alter an den Tag legen, bin ich raus. Tut mir einen Gefallen und fragt uns Singlefrauen nicht bei jedem Treffen nach unserem Beziehungsstatus. »Es ist kompliziert« trifft es in 99,9 Prozent der Fälle. Ein Problemfall bin ich deshalb noch lange nicht. Es gibt tausend verschiedene Gründe, warum Beziehungen scheitern oder jemand für den Moment lieber allein ist. Ratschläge à la »Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, deine Eizellen einfrieren zu lassen« gehören verboten.

Mit Perfektionswahn halte ich mich nicht auf. MEIN Arsch darf ruhig ein bisschen schwabbeln. MEIN Liebesleben muss nicht perfekt sein. Auf MEINEM Konto darf ruhig mal Ebbe herrschen. Beruflicher Erfolg ist für mich, wenn ich maximal vier Stunden täglich dafür aufwenden muss, meine Miete, geiles Essen, qualitativ hochwertige Drinks und Netflix bezahlen zu können. Ein entspannter Lifestyle ist mir wichtiger als Statussymbole. Dafür brauche ich auch nicht 20 Achtsamkeits-Apps auf dem Smartphone. Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Menschen, die vermeintlich alles haben, haben auch immer eine Leiche im Keller. Hab ich auch, haben wir alle.

Manchmal gleicht mein Leben einer gigantischen Fuck-up-Night. Ich wurde schon gefeuert, geghostet, ausgeraubt, ausgebuht, abgesetzt und von einem indischen Affen angepinkelt. Als alle meine Freunde studieren gingen, wählte ich den Quereinstieg in die Medienbranche. In meinen Zwanzigern arbeitete ich mich beinahe kaputt: zuerst, um Karriere zu machen, später nur noch, um irgendwie durchzuhalten. Auf einer Weltreise mit dem Rucksack erholte ich mich von dem toxischen Betriebsklima, in dem ich mich viel zu lange bewegt hatte – und schrieb unterwegs versehentlich einen Bestseller. Dadurch dämmerte mir allmählich, worum es geht: Um gut und erfolgreich zu sein, musst du dich nicht abkämpfen. Alles, was du brauchst, trägst du bereits in dir. Vertrau deinem Instinkt. Glaube an dich und deine Talente. Gib deiner Kreativität Raum, um sich zu entfalten. Genieße das Leben. Kurz darauf hagelte es lukrative Jobangebote, aber ich lehnte alle ab und reiste zum Entsetzen meiner Eltern weiter um die Welt. Unterwegs schrieb ich einmal die Woche eine Kolumne für ein großes Magazin. Das reichte knapp, um mir ein kleines Hotel am Strand, haufenweise frische Mangos und abends Meeresfrüchte und Rotwein leisten zu können.

Mein Steuerberater fand das unmöglich: »In zwei Jahren bist du entweder depressiv oder pleite!« Aber ich setzte sogar noch einen drauf und stieg nach meiner Rückkehr zum Ausgleich als DJane bei einem Technokollektiv ein. Von Montag bis Donnerstag arbeitete ich nun als freie Journalistin und an den Wochenenden war ich auf der Bühne zu Hause. Diese bunte Mischung erfüllte mich. Das verstanden allerdings nicht alle. »Du solltest mit dem Quatsch aufhören. Mit Anfang dreißig macht man entweder Karriere oder bekommt ein Kind«, ermahnte mich mein Umfeld. Also gab ich nach und zog mit meinem damaligen Freund zusammen. Dieser Versuch scheiterte schon nach kurzer Zeit, weil das einfach nicht mein Ding war und ist – der klassische Weg.

Aber hey, das Leben ist zu kurz, um sich ständig aus der Perspektive anderer zu verurteilen! Jeder Mensch sollte die Regeln für ein gelungenes Leben selbst festlegen. Druck brauche ich nur auf meinen Fahrradreifen. Lasst die olle Uhr doch ticken. Frauen müssen nicht gleichzeitig erfolgreich, glücklich verliebt, reich, gertenschlank, topgestylt, Mutter, Ehefrau, Führungskraft, Gutmensch, Abenteuerin, politisch engagiert und ausgeglichen sein. Eins zur Zeit ist auch schon ganz schön gut! Denn es gibt kaum etwas, was sich von Mensch zu Mensch so stark unterscheidet wie die persönliche Definition von Glück.

Oder anders ausgedrückt: Ihr könnt mich mal … so nehmen, wie ich bin.

Ihr könnt mich mal so nehmen, wie ich bin

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