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Wenigstens ist noch Wein im Kühlschrank

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K ürzlich traf ich meine gute Freundin Lulu auf ein Glas Wein. Als Teenager haben wir zusammen auf Punkkonzerten zu den Songs der Band ihres großen Bruders geheadbangt und Wodka-O aus Flaschen getrunken. Sie war das erste Mädchen, das ich geküsst habe – nur so zum Spaß. Mir gefielen ihre Doc Martens, die sie mit einem silbernen Edding und dem Satz »Fick das Patriarchat!« verziert hatte. Heute arbeitet Lulu in der Geschäftsführung eines großen Konzerns, kämpft für die Frauenquote, mehr Gleichberechtigung, Equal Pay und Empowerment von Frauen. Durch unsere vielen intensiven Gespräche bin ich mir meiner Identität als Feministin erst so richtig bewusst geworden.

Lulu fragte mich bei unserer Verabredung, worüber ich gerade schreibe. Ich nippte an meinem Sauvignon Blanc. »Über den Druck, der auf Frauen über 30 lastet. Von allen Seiten bekommen wir ab einem gewissen Punkt zu hören, wie wir leben sollen. Vor allem, wenn du keine Kinder hast. Dann hagelt es taktlose Fragen – hauptsächlich von anderen Frauen! Es wird einem das Gefühl vermittelt, dass man sich als Frau erst komplett fühlen darf, wenn man Mutter ist. Aber was, wenn du ganz anders leben willst? Wie machst du dich von diesen Erwartungen und dem Druck frei? Und wie findest du heraus, was du wirklich willst? Frauen sollen endlich die sein können, die sie sein wollen – ohne sich rechtfertigen zu müssen.«

Lulus Augen begannen zu funkeln. »Ha! Genau mein Thema.« Sie seufzte. »Weißt du, bei mir ist es gerade genau umgekehrt: Ich hätte mittlerweile echt gerne ein Kind, bin ja auch schon 36 … Aber Justus will noch keins.« Lulu verleibte sich einen großzügigen Schluck Wein ein. »Zum Glück habe ich mir die Eizellen schon vor drei Jahren einfrieren lassen. Aber ey, worauf noch warten?! Neulich meinte Justus zu mir: ›Wenn du ein Kind willst, musst du gehen.‹« Lulu hielt kurz inne. »Aber das werde ich nicht«, sagte sie leise. »Ich hätte bei meinem Job überhaupt keine Zeit und auch wenig Lust, noch mal auf Partnersuche zu gehen. Ich auf Tinder? Eher würde ich mich erschießen … Weißt du, Justus hat einfach nur Schiss. Deshalb habe ich ihm letzte Woche einen Antrag gemacht. Ganz spontan, beim Essen. Justus hat ja schon häufiger gesagt, dass er erwartet, dass ich IHM irgendwann mal einen Antrag mache, so von wegen Gleichberechtigung. Also dachte ich – scheiß drauf!« Lulu grinste. »Und er hat Ja gesagt.«

Ich applaudierte Lulu johlend, war aber auch irritiert: Nie hätte ich gedacht, dass auch Lulu irgendwann Torschlusspanik bekommen würde.

»Durch mein Alter fühle ich mich irgendwie unter Druck gesetzt«, gestand Lulu. »Als würde ich versagen, wenn ich den ganzen Familienkram mit Haus und Hund nicht rechtzeitig hinkriege und dann irgendwann mit Mitte vierzig blöd dastehe. Ich will alles, weißt du.«

Rechtzeitig? Was sollte das denn heißen? »Darf man in deiner Welt mit Mitte vierzig nicht mehr heiraten?«, fragte ich Lulu stirnrunzelnd.

Aber sie lachte nur, so als hätte ich einen Witz gerissen.

Ja, Lulu hat einen festen Plan für ihr Leben im Kopf und macht sich nun ungeheuren Druck, alles umzusetzen, was sie sich wünscht. Das geht vielen Leuten in unserem Alter so. »Ich erschrecke manchmal darüber, mit welch unerbittlicher Strenge junge Patientinnen auf sich und ihr junges Leben blicken«, schreibt die Psychotherapeutin Petra Holler. »Manche Lebensentwürfe sind wie auf dem Reißbrett entworfen. Listen werden abgearbeitet: Das habe ich, das fehlt noch.« Für all diese Dinge gebe es den vermeintlich richtigen Zeitpunkt. Und notfalls ließe man eben seine Ei- und Samenzellen einfrieren. Dieser Kontrollwahn sei vor allem bei Frauen um die dreißig zu beobachten. »Sie glauben, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, hätten sie persönlich versagt.«5 Manchmal sei es zweitrangig, ob ein Job erfüllend oder ein Partner der richtige sei, solange beides dabei helfe, den eigenen Plan rechtzeitig umzusetzen.

Diese Beobachtung hat auch der Paartherapeut Clemens von Saldern gemacht – und warnt davor: »Viele sind bei der Auswahl ihres Partners nicht sorgfältig genug. Nicht jeder, der sich gut anfühlt und nett zu mir ist, passt auch zu mir. Viele Paare lernen sich kennen, hüpfen miteinander ins Bett, bekommen Kinder, entwickeln Routinen – und merken zu spät, dass die Wahl eigentlich ein Griff daneben gewesen ist. Den richtigen Partner zu finden ist nicht nur Glückssache, sondern auch harte Arbeit. Nicht umsonst gab es früher eine einjährige Verlobungszeit, um jemanden erst mal auf Herz und Nieren zu prüfen.«6

Durchaus sinnvoll, denn je älter sie werden, desto mehr Ballast tragen die Menschen mit sich herum. Geschieden, frisch aus der Psychoklinik entlassen, eine durchgeknallte Ex-Frau an der Backe, pubertierende Kinder aus erster Ehe … Manchmal erscheint einem da die Vorstellung fast schon reizvoll, als enthaltsame Einsiedlerin auf einer Hallig zu leben. In Ruhe und Frieden! Ohne die ganze Aufregung und den Druck, der einen ständig dazu antreibt, doch noch mal alles auf eine Karte zu setzen und sich fallen zu lassen – in das Haifischbecken namens Liebe. Aber Fakt ist nun mal auch, dass es das Schönste und Aufregendste überhaupt ist, eine richtig gute Beziehung zu führen.


Vor zwei Jahren hatte Lulu schon einmal gedacht, sie hätte den Mann fürs Leben gefunden. Die beiden hatten sich über eine Datingplattform kennengelernt. Er lebte in Rom, sie in Berlin. Das Ganze wurde sehr schnell sehr intensiv: Den lieben langen Tag über schickten sie sich sehnsuchtsvolle Nachrichten, schon beim Frühstück wurde FaceTime angeschmissen, abends telefoniert, bis die zwei eingeschlafen waren. Die beiden spielten Beziehung, malten sich täglich eine gemeinsame Zukunft aus. Über ein halbes Jahr lang ging das so.

Wie echt können Gefühle für jemanden sein, den man noch nie gerochen, geschmeckt, gespürt hat? Sich in den Charakter eines Menschen zu verlieben, das klingt erst mal romantisch. Aber reicht das auf lange Sicht? Lulus gesamter Freundeskreis, mich eingeschlossen, war skeptisch. Immer wenn die beiden einen Termin für ein Treffen festgelegt hatten, kam in letzter Sekunde etwas dazwischen. Mit der Zeit wurde es immer skurriler. Lulu erfand Ausreden, weshalb sie nicht nach Rom fliegen konnte, obwohl ER ihr ein Ticket schenken wollte. »Ich habe Angst, enttäuscht zu werden«, gestand sie mir damals. »Was, wenn er schlecht küsst? Oder einen perversen Fetisch hat?« Beim nächsten Mal war er es, der einen Rückzieher machte.

»Du steigerst dich da in etwas rein«, warnte ich Lulu. »Du kennst diesen Mann doch gar nicht.«

Lulu gab zu, dass sie das auch befürchtete. Gleichzeitig würde sie eine tiefe Verbindung zu ihm fühlen. »Er will mit mir im Frühjahr nach Neapel fahren. Seine Familie hat dort ein Haus. Dort können wir später unsere Kinder großziehen – hat er gesagt«, erzählte sie mir mit rosigen Wangen.

Ich war platt. Offenbar hatten die beiden ihre gemeinsame Zukunft bereits bis ins kleinste Detail geplant. Mutig! Dann, endlich, wollte sie zu ihm nach Rom fliegen – kurz vor Weihnachten. Dafür ließ Lulu sogar Heiligabend mit ihren Eltern sausen. »Sag ihm, er soll seinen Perso abfotografieren und mir schicken«, befahl ich Lulu vor ihrer Abreise. »Nur für den Fall, dass er sich als irrer Psychopath entpuppt.«

Am 22. Dezember war es so weit. Lulu landete in Rom und hielt ihren gesamten Freundeskreis per WhatsApp auf dem Laufenden: »Er ist zehn Zentimeter kleiner, als er gesagt hat«, schrieb sie gleich nach der Landung. »Egal. Geküsst haben wir uns noch nicht. Gehen jetzt erst mal ein Bier trinken …«

Ihr endgültiges Fazit teilte Lulu mir erst mit, als sie wieder in Berlin war. Sie musste das dreitägige Treffen erst mal sacken lassen. »Ich bin froh, dass ich wieder zu Hause bin«, erzählte sie kleinlaut, als wir zusammen Silvester feierten. »Es war ganz lustig mit ihm. Aber, fuck, er hatte so wahnsinnig lange Fußnägel! Tiefgründige Gespräche konnte ich mit ihm auch nicht führen. Außerdem machte er so komische Geräusche beim Sex. Ich glaub, ich brech den Kontakt ab. Die ganze Sache ist Zeitverschwendung. Rom ist ja auch nicht gerade um die Ecke …«

Am Ende war genau das eingetreten, was alle erwartet hatten. Lulus Luftschloss war in sich zusammengefallen. ER sah das allerdings anders! Noch lange erhielt Lulu verzweifelte Sprachnachrichten von ihrem Italiener. Aber sie ließ ihn am ausgestreckten Arm verhungern. »Ich war einsam, sehnte mich nach Nähe«, sagt sie heute. »Deshalb habe ich damals all meine Sehnsüchte auf diesen Onlineflirt projiziert, ihn als Mann idealisiert und mich total hineingesteigert. Weil er alles war, was ich hatte.«

Ach Lulu, was soll’s, so etwas kann schon mal passieren in den nervösen, psychotischen Dreißigern. Jetzt wünsche ich dir erst mal alles Gute für deine Ehe.

Ihr könnt mich mal so nehmen, wie ich bin

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