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So jung kommen wir nicht mehr zusammen

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I ch werde demnächst 35 und habe absolut keine Ahnung, was mich in meinem neuen Lebensjahr erwartet. Ein paar verrückte Geschäftsideen befinden sich schon in der Pipeline und der Plan für meine Geburtstagsparty steht: Ich feiere zusammen mit meiner Freundin Funny. Ihr Name ist Programm. Wir wollen einen dreitägigen Rave in ihrem Schrebergarten im tiefsten Dschungel von Hamburg-Wilhelmsburg veranstalten. Unsere Freunde sollen in Schichten bei uns aufschlagen. Wegen Corona. Die Familien dürfen von 19.00 bis 21.00 Uhr zu Sekt und Kuchen vorbeikommen; Burn-out-gefährdete, dauermüde Workaholics kriegen von 21.00 Uhr bis Mitternacht Schnaps satt und dann geht’s ab ins Bett. Die Harten kommen spät und müssen (!) bis zum nächsten Morgen bleiben, während wir erstklassigen Techno, Trash-Hits und Konfettibomben abfeuern. Kostüme sind Pflicht, das Motto lautet: Glitzerbitches. Als Snacks stehen Mettigel und Bananendelfine bereit.

Danach? Werden wir ungefähr eine Woche lang genüsslich auskatern. Ein guter Zeitpunkt für eine persönliche Bestandsaufnahme: Was habe ich im letzten Lebensjahr verkackt? Was möchte ich besser machen? Bin ich glücklich? Im Großen und Ganzen lautet meine Antwort auf jene kriegsentscheidende letzte Frage aktuell: Ja. Ich bin gesund und habe die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich will, zudem Freunde und Familie, die immer für mich da sind. Und verliebt bin ich auch.

Darf man einer Untersuchung des Schweizer Ökonomieprofessors Hannes Schwandt Glauben schenken, ist mein gegenwärtiges Glücksgefühl nicht normal. Mehr noch: Es grenzt fast an ein kleines Wunder! Der Mann hat nämlich herausgefunden, dass wir mit 23 und 67 Jahren am glücklichsten sind. In der Zwischenzeit seien eher Stress und Krisenstimmung angesagt.1

Hm, mal kurz überlegen, was mit 23 so bei mir los war: meine erste eigene Wohnung in meiner Traumstadt Hamburg, mein erster richtiger Job, das erste Mal Backpacking in Asien, wilde WG-Partys nonstop. Jap, die 23 rockt. Die ganze Welt liegt einem zu Füßen, und man denkt, es geht immer so weiter. Bis einem irgendwann die Realität eins mit dem Vorschlaghammer überzieht. Vielleicht wirst du gefeuert. Von der (vorläufigen) Liebe deines Lebens abserviert. Machst Bekanntschaft mit dem Tod. Verlierst Freunde. Scheiterst. Bereust. Viele stürzen dann erst mal in die Quarterlife-Crisis, wenn sie zum Beispiel bemerken, dass der von ihnen erwählte Beruf oder Studiengang überhaupt nicht zu ihnen passt. Vielleicht folgen Selbstfindungstrips in Dritte-Welt-Länder, Experimente mit Drogen, Therapien, ein beruflicher Neuanfang. Sexuelle Umorientierung. So manch einer resigniert auch einfach. »Bis Ende zwanzig kommt man noch damit über die Runden zu denken, dass alles gut laufen wird«, erklärt Hannes Schwandt gegenüber jetzt.de. »Aber irgendwann wird dann doch klar, dass das Leben doch keinen so wahnsinnig glorreichen Weg geht.«2

Die Midlife-Crisis ist kein Klischee – sie lebt! Das hängt laut Schwandt damit zusammen, dass wir uns in unserer Lebensmitte ständig irren, wenn wir uns unsere Zukunft ausmalen. Klar, ich war mit 20 schon davon ausgegangen, dass ich in meinen Dreißigern zusammen mit (m)einem Mann in einer luxuriösen Altbauwohnung residieren und irgendeine hoch bezahlte Führungsposition innehaben würde. Am Ende kam alles anders. Zum Glück! Heute weiß ich, dass ich in völlig anderen Dingen Erfüllung finde. Bis zu dieser Erkenntnis war es ein langer, schmerzhafter Prozess. Die Kunst liegt darin, Enttäuschungen in Gewinne zu verwandeln. Und bloß nicht alles so ernst zu nehmen.

Das gelingt natürlich nicht allen, etwa wenn jemand durch eine Trennung plötzlich alleinerziehend wird oder durch permanente Überforderung im Job krank. Solche Probleme sind einem mit 23 wahrscheinlich noch eher fremd. Aber zwischen 30 und 50 werden viele Menschen davon überrollt. Deshalb ist es auch naiv anzunehmen, dass unsere Zufriedenheit mit fortschreitendem Alter immer weiter ansteigt. Aber genau das tun wir Menschen! Hinter diesem sogenannten Overoptimism steckt laut Schwandt ein evolutionärer Nutzen. »Wenn die Menschen wohlgeeichte Erwartungen davon hätten, wie viel Stress Kinder bedeuten, würden wahrscheinlich sehr viel weniger Leute Kinder bekommen.«3 Irgendwann, mit Ende vierzig/Anfang fünfzig, käme dann der totale Tiefpunkt.

Tolle Aussichten! Enttäuscht von all dem Mist, der einem bis dahin passiert sein wird, und weil der Lack ab ist, verlieren viele quasi komplett die Hoffnung, was die Zukunft angeht. Aber – und jetzt kommt’s: Sobald man sich mit diesem desolaten Zustand arrangiert habe, würde es wieder bergauf gehen. Viele hätten dann begriffen, dass die Würfel gefallen seien. Und das sei ungeheuer befreiend. Ältere Menschen könnten darüber hinaus besser mit Enttäuschungen umgehen, weil ihnen ihr jugendlicher Ehrgeiz nicht mehr im Weg stehe.4 Klar, irgendwann hat auch der Letzte geschnallt, dass man sowieso immer wieder aufs Neue verkackt. Egal, wie gut der Plan war.

Es soll ja Leute geben, die ihr ganzes Leben nach Zahlen ausrichten. Bis 25 möchten sie irgendeinen sexy Abschluss in der Tasche haben, bis 29 eine Weltreise gemacht haben, bis 30 verheiratet sein, bis 33 ein Kind oder die Beförderung bekommen haben und bis 40 ein Eigenheim besitzen. Wenn etwas schiefläuft, fühlen sie sich als Versager beziehungsweise Versagerinnen. Wozu dann überhaupt der Stress?

Die wahren Vorteile der Dreißiger sind ganz andere. Jetzt beginnt der beste Teil unseres Lebens! Wer das leugnet, ist wahrscheinlich unter 18 oder hat auf seiner ersten Ü-30-Party in einer ländlich gelegenen Großraumdisco ein Trauma erlitten.

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Wir kleiden uns besser, haben endlich den Style und das Geld für Lala Berlin und Co. Statt uns in der Bar 99 Cent halb blind zu saufen, trinken wir Cocktails in gediegenen Lokalen. Oder mixen selbst hinter unserem hauseigenen Tresen. Wir schämen uns nicht mehr für alles und jeden, stehen zu peinlichen Vorlieben. Volare von den Gipsy Kings oder I’d do anything for love von Meat Loaf mit voller Lautstärke bei offenem Verdeck hören? Wir tun es. Wahrscheinlich sind wir dabei gerade auf dem Weg zu einem gemütlichen Kochabend bei Freunden, um dort so exotisch-abgefahrene Sachen wie Jackfruit-Gyros oder Gulasch vom Wildschwein zuzubereiten.

Im Job haben wir uns mittlerweile etabliert und können uns allmählich (unauffällig) zurücklehnen. Wir sind schnell, sicher und gut in dem, was wir tun. Wenn die Praktikantinnen und Praktikanten von ihren letzten Wochenenden erzählen, können wir nur schwerlich ein Gähnen unterdrücken. Wenn die Frischlinge wüssten, was WIR damals so alles getrieben haben … In den wilden, äh, 2000ern. Gekocht hat damals keine Sau. Als Hauptnahrungsmittel fungierten Käsebrote. Donnerstags war grundsätzlich »After Work« angesagt. Sprich: Druckbetankung bis 4.00 Uhr morgens auf dem Kiez. Und am nächsten Tag verkatert auf der Arbeit so tun, als wäre man voll seriös bei der Sache. Davon nehmen wir heute Abstand. Unsere Donnerstage verbringen wir vorzugsweise im Spa. Wenn es drauf ankommt, können wir Nietzsche zitieren. Aber auch immer noch Frank Drebin.

Peinliche Stille gibt es in unserem Leben schon lange nicht mehr. Egal ob mit Vorgesetzten, Promis oder attraktiven Vertretern des anderen (oder eigenen) Geschlechts – uns fällt stets die passende Anekdote ein. Wir kennen mittlerweile den Unterschied zwischen Traminer und Tiramisu, wissen, wie man ein Baby wickelt und Austern schlürft. In einem Sternelokal bewegen wir uns ebenso souverän wie an einem überfüllten Busbahnhof in Neu-Delhi. Wir sehen das große Ganze. Nicht nur unseren eigenen Kosmos.

Nun müssen wir allerdings stark sein, denn die Gesellschaft möchte uns plötzlich vorschreiben, was wir jetzt bitte schön mit unserem Leben so anfangen sollten – jetzt, wo wir ein bestimmtes Alter, eine gewisse Reife erlangt haben. Aber das lassen wir uns schon lange nicht mehr sagen. Dazu haben uns intellektuelle Freigeister ermutigt, deren Nähe wir zunehmend suchen. Wenn wir unser gesamtes Hab und Gut verkaufen und in einen VW-Bus ziehen wollen, tun wir das. Und wenn wir mit 40-Stunden-Wochen, Bürojobs oder Babypartys nichts anfangen können, dann wird uns niemand aufhalten können, unsere Surfschule auf Bali zu eröffnen (außer vielleicht Corona). Das nötige Startkapital für solch verrückte Träume haben wir mittlerweile nämlich locker angespart.

Es wird ein bisschen anstrengender für uns, sobald wir gegen den Strom schwimmen. Aber damit können wir leben. Manchmal sind wir grundlos traurig, haben Weltschmerz. So naiv und zuversichtlich wie in unseren Zwanzigern sind wir längst nicht mehr. Zum Glück! Heute wissen wir, was falsch läuft in der Welt, wir engagieren uns, tun (fast) alles, was in unserer Macht steht, um das Klima zu retten. Unsere Herzen sind vernarbt, wir wurden verletzt oder enttäuscht und stellen viel Althergebrachtes infrage. Manchmal haben wir richtig Angst und zweifeln an uns selbst. Aber genau das ist es, was uns immer wieder weiterbringt und kreativ werden lässt. Es ist 2021 und wir sind keine Kinder mehr. Die Welt hat uns und unsere Visionen nie dringender gebraucht als heute.

Ihr könnt mich mal so nehmen, wie ich bin

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