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2.2.3 Der Äquator als virtuelles Ziel

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Die zwischen „ihr“ und „ihm“ schwankende Erzählerin – […] je veux elle, je veux lui, elle pour me perdre et lui pour me sauver, ou l’inverse je ne sais pas […] – 1 glaubt, ein ideales Reiseziel gefunden zu haben, um der Kalamität ihrer Unentschiedenheit zu entkommen:

Quelque chose me guidait vers l’équateur, presque machinalement, comme les mouvements que je fais sur le ventre – sur le dos, l’effort est plus grand, les gestes moins familiers – après, on peut reconstruire, analyser, l’équateur me mettait à équidistance du pôle Nord et du pôle Sud, Quito, quitter, pour ce que je voulais quitter, il y avait l’embarras du choix. J’imaginais, davantage que les hauts-plateaux, les côtes du Pacifique, et bien sûr, l’archipel des Galapagos, malgré l’avertissement de Melville, la sinistre découpe de ses Encantadas, „royaume de la solitude“.2

Der Äquator, Ecuador und Quito – die Aussprache des Namens der Hauptstadt klingt in dem zweifachen Echo des französischen Verbs „quitter“ nach – stellen für die Erzählerin ein Ziel dar, das eine ihren „embarras du choix“ neutralisierende Wirkung ausüben könnte. Die Anspielung auf Herman Melvilles aus zehn philosophischen „Sketches“ bestehende Novelle The Encantadas or Enchanted Isles – der achte Sketch handelt von der lange Zeit auf der Norfolk Isle in völliger Isolation lebenden Mestizin Hunilla – bringt zudem die Suche der Erzählerin nach Einsamkeit und Unabhängigkeit zum Ausdruck. Dieser Eindruck scheint sich jedoch schnell zu relativieren. Wenn sie nämlich feststellt: „Au Nouveau Monde, croyais-je, disparaîtraient les questions de l’ancien“3, so verbindet sie damit durchaus auch hoffnungsvolle Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit der erträumten Idealfigur eines „[…] Andin au teint sombre, aux cheveux noirs, aux lèvres épaisses […]“, der ihre erotischen Phantasien auf lebhafte Weise anregt.4 In dem heruntergekommenen Ambiente des für die Einreisegenehmigung zuständigen Verwaltungsgebäudes fühlt sie sich dann jedoch wieder „[…] loin de l’Andin, à vrai dire loin de tout.“5

Nach einem sich über mehrere Tage erstreckenden Zögern beschließt die Erzählerin, nicht nach Ekuador zu reisen, ohne dies konkret zu begründen. Allerdings erfahren wir in demselben Kontext über das Verhältnis zu „ihr“, dass „[…] la distance de Paris à Quito n’était rien face à celle qu’elle instaurait entre nous“.6 So bleibt Ekuador für die Erzählerin ein Ziel, das durch seinen rein virtuellen Charakter ihre Lage als ausweglos erscheinen lässt. Die Entfremdung von „ihr“ empfindet sie daher als „[…] la chute dans le gouffre, la sensation de vide, l’arrachement physique à une chaleur douce, le rejet dans un monde froid […]“7. Mit den raum- und bewegungsbezogenen Metaphern der „chute dans le vide“ und des „rejet dans un monde froid“, aber auch der plastischen Beschreibung des „arrachement physique à une chaleur douce“ – der metonymisch gebrauchte Ausdruck „chaleur“ ist ungleich ausdrucksstärker als eine pronominale Referenz – verleiht die Erzählerin ihrem Gefühl, ausgegrenzt, verstoßen und vereinsamt zu sein, eine geradezu dramatische Intensität.

Wenn die Erzählerin die Welt am Ende der Diegese mit „[le] vide, l’océan, l’île et mon appartement muet“ assoziiert,8 mag dies neben totaler Vereinsamung (le vide, mon appartement muet) zugleich die Sehnsucht nach dem Gegensatz zwischen der Weite des Ozeans und der Geborgenheit einer Insel und damit einen latenten „désir de départ“ offenbaren. Allerdings bekräftigt sie zugleich ihren Willen, den Verführungskünsten jener „[…] qui me piègent avec leurs yeux clairs et leurs fausses hésitations, leurs mains fines qui effleurent la vie et qui portent des gants, leurs tourments intellectuels […]“9 nicht länger nachzugeben, da sie nicht mehr von ihnen fehlgeleitet und instrumentalisiert werden will und sich zudem ihrer eigenen Schwächen bewusst ist:

[…] je ne les suivrai pas, les yeux clairs sont des gouffres infinis où rien n’arrête la plongée, je n’irai plus, ils boiront leurs alcools sans moi, je ne fais plus semblant d’être un repère dans leur longue traversée, en ne dévoilant rien de moi, surtout pas mes faiblesses, en n’affichant que certitudes, je ne suis pas plus solide qu’eux.10

Gleichwohl fühlt sie sich beim Schwimmen im Hallenbad von Erinnerungen an „sie“ und „ihn“, ihre Hoffnungen und Illusionen, die Mauer (mit ihrer symbolischen Bedeutung) eingeholt und hofft, sie mit jedem Schwimmzug verdrängen zu können.11 Dies wird ihr jedoch nicht gelingen, da, um im Bilde zu bleiben, die Erinnerungen sich wie das nach jedem Schwimmzug zurückflutende Element Wasser immer nur für einen sehr begrenzten Zeitraum beiseite schieben lassen. Auch denkt sie zurück an Reisen, die sie allein unternommen hat und bei denen sie weit in das offene Meer hinausgeschwommen ist in der Annahme, es befinde sich niemand am Strand. Als sie jedoch einmal zum Strand zurückkehrte, traf sie auf eine alte Dame, die ihr sagte: „[…] vous étiez allée loin, un moment, je ne vous voyais plus – il y a toujours quelqu’un qui veille“12, eine Erfahrung, die ihre Überzeugung, auf sich allein gestellt zu sein, zumindest in Frage stellt. Gleichwohl tun sich vor ihren Augen Traumbilder auf, die eine von Melancholie nicht freie Sehnsucht nach Weite und Freiheit und den Wunsch ungehinderter Bewegung zum Ausdruck bringen.13 Die Suche nach dem „irdischen Paradies“ ist, wie die von der Erzählerin aufgezählten legendären Beispiele belegen, ein uralter Menschheitstraum:

On a cherché les continents engloutis, le paradis terrestre, le pays des rois mages, le royaume du prêtre Jean, l’Eldorado, sur terre, sur mer, on a voulu perdre de vue l’étoile polaire et franchir, toujours, tracer la ligne d’équateur qui partage le monde et la franchir.14

Sie macht sich diesen Traum zu eigen, wenn sie im Schlusssatz des Textes sagt: „Un jour, un navigateur viendra, et il découvrira un autre monde.“15 Ihre Hoffnung auf einen „Nouveau Monde“, in dem „les questions de l’ancien“16 verschwinden, hat sie also keineswegs aufgegeben.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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