Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 44
2.3.2 New York vs. Heidelberg
ОглавлениеEin weiteres Mal taucht Heidelberg im zweiten Kapitel auf.1 Mariane erinnert sich, dass ihr Sohn John sie einige Male gebeten hat, ihm von Heidelberg zu erzählen. Allein der Name der Stadt habe ihr Herz höher schlagen lassen und in ihr den Wunsch geweckt, mit jemandem Deutsch zu sprechen. Da dies mit John nicht möglich war, vermochte sie seine Fragen nicht so zu beantworten, wie sie es eigentlich wollte: „[…] elle ne parvenait pas à lui répondre […].“2 Sie lieferte nüchterne Informationen, ohne in ihrer Muttersprache „ihr Herz sprechen lassen“ zu können. So wurde Heidelberg in ihrer Antwort zu „[…] une ville comme une autre […]“3 degradiert. Wenn John besonders drängte, erwähnte sie auch noch die Schlossruine, den Neckar und den Philosophenweg und sogar das etwas weiter stromaufwärts gelegene Tübingen mit Hölderlins berühmtem Turm. Und wenn John Worte wie Hölderlin und Tübingen wiederholte, als schlössen sie ein Geheimnis ein, dann hatte Mariane den deprimierenden Eindruck „[…] qu’elle aussi, comme le poète, se trouvait enfermée dans une tour, depuis bien des années“4. In diesen Momenten begreift sie, wie stark sie sprachlich und kulturell in ihrer Heimatstadt Heidelberg verwurzelt und wie radikal sie in New York von dieser sie prägenden Verbindung getrennt ist.
Das Beispiel Heidelbergs zeigt sehr deutlich, wie sich Marianes Blick auf die Welt durch ihr Leben in New York verändert hat. Dass sie ihre innere Mitte verloren hat, wird ihr – unter dem noch frischen Eindruck der von Judith angeregten und von ihr hingenommenen Vertauschung der ihnen zugedachten Ehemänner – bereits bewusst, als sie Harry Loom zum ersten Mal sieht. Am Tag ihrer Hochzeit ist sie davon überzeugt „[…] que ce oui ne lui était pas destiné, qu’elle vivait en dehors de sa vie – mais sa vie, où était-elle?“5. Den Namen „Mariane Loom“ empfindet sie als „[…] un masque supplémentaire posé sur sa vraie vie“6. Im Rückblick auf die sie frustrierende Helferinnentätigkeit in der Praxis ihres Mannes bilanziert sie, dass „[…] de vingt années à New York il ne lui restait rien, pas une rue, une maison, un magasin, pas un être à qui elle se serait attachée, pas une aventure, la grande ville était un grand désert, l’erreur était plus vaste“7. Die von ihr erlebte Wirklichkeit steht somit in schärfstem Kontrast zur Erwartung eines „[…] espace inconnu, qui laissait cours à l’inspiration“, die Judith in Heidelberg im Anblick eines „[…] horizon […] bas, cerné par la forêt […]“8 auch in ihr geweckt hatte. Die Begriffe „espace inconnu“ und „un grand désert“ veranschaulichen, dass Marianes Hoffnungen auf eine ihren Geist anregende, ihr Leben bereichernde Zukunft in einer Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten und ihre Bewertung der erlebten Zeit in krassem Gegensatz zueinander stehen. Durch den Gebrauch einer räumlichen Begrifflichkeit unterstreicht die Erzählerin, dass Mariane, wie oben bereits angedeutet, ihre zwanzig Jahre in New York als eine Zeit der inneren Gefangenschaft betrachtet.