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2.4.1 Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels

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In welcher Weise Kapitel 1 eine grundlegende raumkonstituierende Funktion zukommt, sei anhand folgender Aspekte erläutert:

 Agathe empfindet ihr bisheriges Leben als einen ansteigenden Weg, den sie notwendigerweise hat zurücklegen müssen, um mit ihrem Geliebten zu einer Reise aufbrechen zu können. Die Erwartung dieser Reise bedeutet für sie „das Leben schlechthin“. Nach dem Aufschub der Reise stellt sich ihr Dasein wie ein in seine Einzelteile zerfallenes, ausdrucksloses Puzzle dar.1 – Die im Roman an vielen Stellen wieder aufgenommene metaphorische Umschreibung des Lebens als Weg bzw. Reise erinnert an Sartres Interpretation des hodologischen Raums. Anders als K. Lewin, für den der hodologische Raum einen „ausgezeichneten“, d.h. bestimmten Bedingungen genügenden, nachvollziehbaren Weg zu einem Ziel bezeichnet, sieht Sartre darin lediglich „[…] eine[r] irgendwie unbestimmt gedachte[n] Beziehung zu einem räumlich entfernten Menschen (oder Ding)“.2 Damit ist die Ausgangssituation, in der sich Agathe zu Beginn des Romans befindet, charakterisiert: Datum und Ziel der vereinbarten Reise verlieren durch den (ersten) Aufschub (dem bald ein zweiter folgen wird) jenen sternenartigen Glanz, der ihr Leben zuvor erhellte. Ihre Beziehung zu Loïc schließlich wird durch ihre Vermutung belastet, dass er vor der gemeinsamen Reise angesichts der damit verbundenen Bedeutung Angst habe.3

 Die den Roman kennzeichnende Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas ist in der Vorstellung Agathes bereits in Kapitel 1 deutlich ausgeprägt. Sogar bei Sonne, einem blauen Himmel und einer ruhigen Umgebung, also bei optimalen äußeren Bedingungen, die in ihr eigentlich eine friedliche Stimmung hätten erzeugen können, hinterlässt die namentlich noch nicht genannte Stadt, in der Agathe lebt, in ihr einen Zustand der Lustlosigkeit.4 Durch die Platzierung am Anfang des ersten Kapitels erhält dieser Satz ein besonderes Gewicht. Demgegenüber verbindet Agathe – unter Bezugnahme auf Erzählungen Marcs – den als Ziel der geplanten Reise vorgesehenen, zunächst mit dem Hinweis „[…] près de la baie du Mont-Saint-Michel […]“5 nur grob lokalisierten, aber nicht namentlich erwähnten Ort mit bis ins Extreme gesteigerten positiven Vorstellungen bzgl. seiner geographischen Lage und Beschaffenheit sowie der leitsternähnlichen Bedeutung6, die er für sie – bis zum Aufschub der Reise – besitzt. In einer asyndetischen, viergliedrig gesteigerten Aufzählung führt eine aufsteigende Linie von „[…]des plages désertes immenses […]“ über „[…]des marées infinies[…]“ und „[…] les reflets de la lune sur la mer […]“ bis zu „[…] le ciel étoilé d’autant plus vaste qu’il était bas comme il devait l’être près des pôles […]“.7 Darüber hinaus zeichnet sich der Ort aus als „[…] le lieu secret qui abritait ceux qui s’aiment et se cachent […]“8. Er besitzt mithin eine Qualität, die Agathe – bis zu Loïcs Absage der Reise – in ihrer Entschlossenheit zum Aufbruch bestärkt und in ihr verschiedenste Träume geweckt hat, die im Wunsch einer Legalisierung der Beziehung zu ihrem Geliebten gipfeln.9 In einem krassen Gegensatz zu diesen Traumvorstellungen steht jedoch die von Agathe täglich erlebte Realität, die, metaphorisch als „[…] jours de désert […]“ umschrieben, die regelmäßige Wiederkehr einer Arbeit bedeutet, bei der „[…] l’ennui succédait à l’ennui, où toutes les vérifications, les contrôles qu’elle devait faire, s’alignaient comme les colonnes d’une armée dans le désert à des milliers de kilomètres d’un objectif dont on se demandait s’il existait […]“10. Agathe sieht sich somit in Paris mit einer Arbeitswelt konfrontiert, in der sich in ihrer Vorstellung die von ihr vorzunehmenden Kontrollaufgaben zu Armeekolonnen verselbständigen, die, aufgereiht in einer Wüstenlandschaft, nach einem weit entfernten, nicht einmal mit Sicherheit existierenden Ziel suchen. So bedient sich die Erzählstimme bereits im ersten Kapitel einer räumlich bestimmten Bildersprache, um die von Agathe erlittene Entfremdung, Vereinsamung und Frustration, d.h. ihre Erfahrung eines als absurd und sinnlos empfundenen Lebens zum Ausdruck zu bringen.

 In den Träumen Agathes gewinnt Saint-Thomas obendrein eine proleptische Bedeutung. So wie sich Marc nach dem Aufenthalt ebendort von seiner damaligen Partnerin trennte, um sich mit Véronique zusammenzuschließen, hofft Agathe – nach dem Ende der kurzen Beziehung zu Marc – auf eine klare Entscheidung Loïcs für sie.11 An dieser Stelle gelangt die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung zur Geltung, dass Handlungen durch Räume bzw. Raumkonstellationen ausgelöst und mitbestimmt werden.12

 Schließlich spricht das erste Kapitel auch bereits die Bedeutung der Literatur für Agathe an. Wenn der Erzähler unter Bezugnahme auf den von Agathe gelesenen Roman Le marin rejeté par la mer des Japaners Mishima sinngemäß erklärt, dass selbst eine präzise Zusammenfassung dem Buch nicht gerecht werde, da „[…] chacun y trouve ce qui lui convient, comme un miroir qu’on promènerait dans le monde […]“, so manifestiert sich hier neben einem rezeptionsaesthetisch bestimmten Literaturverständnis die Überzeugung, dass Literatur eine die Selbsterkenntnis und damit die Orientierung in Raum und Zeit fördernde Funktion hat.13

Nachdem die grundlegende Bedeutung, die das erste Kapitel bzgl. der Raumkonstitution für den ganzen Roman hat, dargestellt worden ist, soll die Funktion von Raum und Bewegung nun in einer kapitelübergreifenden Analyse in Anlehnung an das in Kapitel B 1.2 vorgestellte, modifizierte narratologische Modell Nünnings untersucht werden.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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