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2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung

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Die Reise Marianes (und Judiths) von Heidelberg nach New York bedeutet für die Mädchen einen Wechsel in einen anderen Kulturraum, insofern sie eine Grenze überschreiten, die als topographisch, sprachlich und semantisch kodiert einzustufen ist. Die Grenze ist jedoch nicht von vornherein als „unüberwindlich“ im Sinne Lotmans zu bezeichnen, da vor der – von den Eltern veranlassten – Reise weder erkennbare Hindernisse institutioneller Art noch eine Weigerungshaltung der Mädchen erkennbar sind. Wohl aber erweist sich der Aufenthalt in New York für Mariane von Anfang an als krasses Gegenteil der erhofften Befreiung aus der (vermeintlichen) provinziellen Enge Heidelbergs. In einem von ihr auf der Rückfahrt nach Europa an Bord des Schiffes imaginierten Dialog mit Judith sagt sie: „[…] car tu ne t’imagines pas à quel point ma vie était fermée, de tous côtés […].“1 Mit dem räumlich inspirierten Bild der „vie fermée“ suggeriert sie, dass die Jahre in New York für sie eine Zeit der Unfreiheit und Fremdbestimmung waren. Zu einer eindeutig „beweglichen Figur“ wird Mariane erst durch die in B 2.3.3 zitierte „première décision“, die erste bewusst von ihr selbst getroffene Entscheidung, mit der sie sich, zusätzlich belastet und beunruhigt durch das plötzliche Verschwinden ihres Sohnes, aus ihrer zwanzigjährigen Gefangenschaft losreißt, indem sie sich zum Aufbruch, zur Rückkehr nach Europa entschließt.

Wenn sie auf der Rückfahrt an Bord des Schiffes in dem o.g. „Zwiegespräch“ mit Judith auch an Heidelberg denkt, nicht an das Heidelberg ihrer Jugend, sondern an das Heidelberg ihrer Gegenwart, in dem die Ruine des Schlosses die Ruinen des Weltkriegs überragt und wie ein mächtiges chronotopisches Signal Zukunft verheißt, in dem sie sich über den Fluss beugen möchte, um aus ihrem Spiegelbild einen Hinweis auf ihre Zukunft abzulesen, „verräumlichen“ sich ihre Zeit- und Zielvorstellungen in einer traumhaft anmutenden Rückbesinnung auf die Stadt ihrer Herkunft. Gleichzeitig erinnert sie sich neidvoll an die Heidelberger Studenten, deren Leben mit seiner Freiheit und geistigen Entdeckerfreude sie gerne geteilt hätte: „Et moi, je les enviais, j’aurais voulu faire des études, un jour, comme eux, passer ma vie avec les livres, les lire et les expliquer.“2 Obwohl der Text keine definitive Auskunft darüber gibt, wohin dieser Aufbruch Mariane führen wird, ist ein Gespräch aufschlussreich und richtungweisend, das Hans Vögli, dessen ebenfalls Mariane heißende Frau vor Jahren verstorben ist, mit ihr führt. In einer durch interne Fokalisierung geprägten Passage stellt die Erzählinstanz – aus der Perspektive Vöglis – die Frage, ob Mariane begriffen hat, was sie verloren hat, um sogleich eine Zukunftsperspektive zu eröffnen:

Mais savait-elle ce qu’elle avait perdu? Il y avait tant de choses, Heidelberg, ses

parents, John, Judith, sa vie, le sens de sa vie […] elle allait retrouver, oui, et elle saurait alors ce qu’elle avait perdu.3

Dass die Erzählinstanz „le sens“ hier in der doppelten Bedeutung ’direction, orientation dans laquelle se fait un mouvement’ und ‚raison d’être de qqch; ce qui justifie et explique qqch, signification‘4 gebraucht, wird durch die Hervorhebung im Anschluss an „sa vie“ deutlich. Und die unmittelbare Reaktion Marianes: „Je reviens pour cela, pour tenter de trouver l’unité de ma vie“5 unterstreicht, dass sie Vöglis Botschaft verstanden hat: Wenn ihr Aufbruch sie aus ihrer Gefangenschaft befreien soll, müssen sich ‚Sinn‘ und ‚Richtung‘ ihres Lebens ergänzen, um es in seiner Ganzheit wiederherzustellen. Im Übrigen findet der Gedanke der Wiederherstellung der „unité de la vie“ eine Parallele in der Biograhie des in seine Heimat zurückkehrenden Joseph.6

Mariane gibt durch ihre starke Identifikation mit dem Werk Thomas Manns, das sich ihr über Joseph und seine Brüder zu erschließen beginnt, zu erkennen, mit welcher Gesinnung und Absicht sie auf der Suche nach einer Neuausrichtung ihres Lebens vom Nouveau in den Ancien Monde zurückkehrt. Auch wenn die Erinnerung an ihre Heimatstadt Heidelberg in ihr sehnsuchtsvolle Gefühle wachruft und die Stadt auf sie eine große Anziehungskraft ausübt, wird sie auf der Suche nach einer geistigen Heimat insbesondere den Spuren des mit ihr gemeinsam nach Europa zurückkehrenden Thomas Mann folgen. Sie hat erkannt, dass die Beschäftigung mit seinem Werk ihr Leben verändert hat und ihr auch in Zukunft entscheidende Orientierungshilfen liefern kann. In einem imaginierten Zwiegespräch mit ihm erklärt sie:

J’ai lu vos livres et je les garde en moi, chaque lecture m’a rendue différente, je tournais les pages dans des draps blancs et vides qui s’emplissaient de vie […] j’ai reçu quelque chose de vous que je garde […] Vous poursuivez votre chemin […] Je lirai les comptes rendus de votre visite en Allemagne, ou j’irai peut-être vous écouter, à Francfort […] et puisque vous souhaitez que votre visite s’adresse à l’Allemagne entière, elle s’adressera un peu à moi.7

Anders als vor zwanzig Jahren hat Mariane gelernt, den Sinn und die Richtung ihrer Suchbewegungen selbst zu bestimmen, da sie eine geistige Beheimatung gefunden hat und zu einer – im Lotman’schen Sinn – „beweglichen“ Figur geworden ist.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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