Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 53
Agathe und Marc auf dem Weg nach bzw. in Saint-Thomas
ОглавлениеDer Wandel in den Erwartungen, die Agathe mit der Reise verbindet, wird bereits im ersten Absatz des in der Mitte des Romans platzierten 7. Kapitels deutlich, in dem die Fahrt nach Saint Thomas und der Beginn des Aufenthalts ebendort erzählt werden. In einer Mischung aus auktorialem Erzählstil und erlebter Rede vermittelt der Text einen Einblick in die Gedanken und Gefühle, von denen Agathe im Moment der Abreise nach Saint Thomas beherrscht wird. Als sie vor ihrer Haustür auf Marc wartet, freut sie sich keineswegs auf die nun beginnende Reise mit ihm, sondern stellt sich vor, wie kostbar ein gemeinsamer Aufbruch mit Loïc gewesen wäre:
Qu’aurait été cette journée, cette matinée, ce réveil, si au lieu de partir avec Marc, elle était partie avec Loïc, se demandait Agathe, quelle excitation aurait-elle éprouvée au lieu de ce calme en l’attendant sur le trottoir, devant chez elle sous un ciel mitigé qui annonçait la pluie, une pluie prévue pour les jours à venir […]1
Die gezielte Zuspitzung auf „ce réveil“ in der als Trikolon formulierten Aufzählung des ersten Satzes, der Agathes Resignation und Enttäuschung ausdrückt, erinnert an ihre Hoffnung auf den Anfang eines gänzlich neuen Lebensabschnitts und einer anderen Lebensweise. In der Begleitung Marcs jedoch verkümmert das Projekt zu einer von Leere gekennzeichneten „Ersatzreise“, die obendrein durch Regen beeinträchtigt zu werden droht.2 Mit und für Loïc hätte dies kein Problem bedeutet, da er, ähnlich wie „das fremde Kind“ in E.T.A.Hoffmanns gleichnamigem Märchen, dem Regen etwas Magisches abzugewinnen vermag.3
Mit der Präsenz Loïcs in den Gedanken und Gefühlen Agathes und dem äußerlich atmosphärischen Element des Regens sind leitmovische Elemente genannt, die in allen Abschnitten der Reise – von der Hinfahrt bis zum Abschied von Saint-Thomas – integraler Bestandteil der Darstellung sind.
Die Situation Agathes und Marcs bei der Abfahrt nach Saint-Thomas ist insofern vergleichbar, als sie Loïc bzw. Véronique jeweils nicht darüber informiert haben, wohin und mit welcher Begleitung sie zu reisen gedenken. Während Marc darin kein Problem sieht, ist Agathe irritiert: „[…] la superposition de la présence de Marc et l’absence de Loïc, donnait un caractère étrange à ce départ.“4 Als belastend empfindet sie auch, dass sie das von ihr für Loïc und sich selbst vorbestellte Zimmer – […] cette chambre vers laquelle ses désirs convergeaient […] qui devait être le prélude à d’autres chemins ensemble […] – nun mit Marc wird teilen müssen, dessen Wohlbefinden jedoch, wie er zweimal betont, durch diese Erwartung mitnichten beeinträchtigt wird.5
Im Hinblick auf die konkrete Situation des Aufbruchs skizziert die Erzählinstanz den Vorzug der Distanzierung von Gewohntem und der Öffnung für neue Lebensweisen, um sogleich die von den „Loïcs, Lucies und Vätern von Lucie“ bevorzugte Alternative eines „einzigen“, immer in denselben Bahnen verlaufenden, Sicherheit garantierenden Lebens vorzustellen. Führt schon die unbedeutendste Reise zu einem möglicherweise irritierenden Vergleich zwischen dem „ici“ und „là-bas“, also den Vorzügen und Nachteilen des Herkunfts- und Zielorts, so bleibt den Nichtreisenden jegliche aus einer solchen Gegenüberstellung resultierende Irritation erspart.6
Diese in die Darstellung des Handlungsablaufs eingefügte auktoriale Reflexion spiegelt die von Agathe bereits durchlebten und sie auch weiterhin quälenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reise nach Saint Thomas wider. Gleichwohl entfernen sich Agathe und Marc mit zunehmendem Abstand von Paris auch von ihrem dort geführten Leben. Mit der Nähe zu Saint-Thomas erreichen sie einen Punkt, an dem „[…] l’espace et le temps se confondent pour former une sorte de pont suspendu entre un aller et un retour, entre deux rives d’une même vie […]“.7 Mit der Brücken- und Ufermetapher gelangt sowohl das Vorübergehende als auch das qualitativ Besondere dieses Augenblicks zum Ausdruck. Die Wirklichkeit wird zwar keineswegs ausgeblendet, aber von beiden Figuren anders wahrgenommen. Loïc und Véronique scheinen entrückt „[…] comme les silhouettes d’une ville lointaine, les habitants d’une contrée délaissée […] les personnages d’un roman qu’on aurait commencé de lire mais qu’on reposerait quelque temps pour en entreprendre un autre, plus facile d’accès“.8 Wird somit die von Agathe und Marc real erlebte Vergangenheit als romanhaft bezeichnet, da sie von beiden in der Rückschau des von der Nähe zu Saint-Thomas beherrschten Augenblicks als unwirklich empfunden wird, so präsentiert sich auch die unmittelbare Zukunft in all ihrer vagen Unbestimmtheit als romanhaft und unwirklich. Mit welcher Entschiedenheit Agathe und Marc sich von Vergangenem zu lösen versuchen, unterstreicht in diesem aus ihrer gemeinsamen Perspektive erzählten Abschnitt der Übergang von der dritten zur ersten Person Plural des Personalpronomens (Ils > nous) bzw. zum indefiniten Pronomen „on“, ein Vorgang, der die interne Fokalisierung zusätzlich steigert und damit die innere Befindlichkeit Agathes und Marcs im Moment der Ankunft in Saint-Thomas unmittelbar zum Ausdruck bringt.9