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Saint-Thomas: ein Reiseziel, das nicht einigend, sondern trennend wirkt

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Nachdem Jeanne gegenüber ihrer Freundin Agathe in zwei räumlich-bildlich bestimmten Vergleichen erläutert hat, dass sich ihre zeitweilig gestörte Beziehung zu Éric zu erneuern scheine,1 teilt Loïc Agathe telefonisch kurz und bündig mit, dass er nicht mit ihr wie geplant nach Saint-Thomas reisen könne, da Lucie nicht im Mai zu ihren Eltern fahre, sondern ihr Vater in Paris operiert werde.2 In einem Gespräch mit Marc über die erneute Absage Loïcs antwortet Agathe auf die Frage, was sie nun zu tun gedenke, lakonisch: „Attendre“.3 In einem sich an diese Aussage direkt anschließenden inneren Monolog lässt sie den Leser jedoch wissen, dass „[…] l’attente n’est pas un but, n’est pas un mode de vie […]“4. Einige Momente später fragt Agathe Marc unvermittelt, ob er sich eine gemeinsame Reise mit ihr nach Saint-Thomas vorstellen könne, und Marc bejaht spontan. In Anspielung auf Loïcs zweifache Absage fügt er kokettierend hinzu: „Pour une fois, ce serait nous qui ne pourrions pas.“5

Die innere Zerrissenheit Agathes tritt deutlich hervor, als Loïc sie anruft und um ein Gespräch bittet.6 Ohne den Namen „Lucie“ ein einziges Mal zu erwähnen, macht Agathe unmissverständlich klar, dass es Lucie ist, die wie eine Grenze, eine Mauer, ein Hindernis zwischen ihnen steht.7 Die Erzählstimme betont, dass Loïc darunter ebenso oder sogar noch stärker als Agathe leidet.8 Als Loïc erfährt, dass Agathe am Vorabend mit Marc, dem „Entdecker“ von Saint-Thomas, gespeist hat, glaubt Agathe, sein Schweigen so interpretieren zu müssen, dass er eine genaue Vorstellung vom Verlauf dieses Abends habe. Als ihr bewusst wird, dass er seine Anrufe nur von zu Hause tätigen kann, wenn seine Frau Lucie schläft, und dass damit ihr Leben vom Schlaf Lucies abhängt, empfindet Agathe ihre Aufforderung an Marc, mit ihr nach Saint-Thomas zu reisen, erstmals als „[…] une réaction saine […]“.9

Das telefonisch vereinbarte Treffen findet in dem bereits zuvor erwähnten Café im Quartier Beaubourg statt, in dessen Nähe der o.g., inzwischen entfernte elektronische Zeitmesser den Sekundenabstand bis zum Jahr 2000 markiert hatte.10 Wenn man dieses auch die Lage des Ortes definierende Detail als Hinweis auf eine deutliche zeitliche Zäsur in Verbindung mit dem plus-que-parfait betrachtet, so signalisiert dieser Agathe und Loïc vertraute, neutrale Ort, dass ihre gemeinsame „histoire“ inzwischen in ein neues Stadium eingetreten ist. Gleichwohl erschließt allein der Name „Loïc“ für Agathe „[…] la force de ce qui les unissait, le désir d’être avec lui – et, dans ce nom, il y avait tout le présent“.11 Dass der Ort auf Agathe und Loïc gleichermaßen anziehend wirkt und in ihnen ein intensives sexuelles Verlangen auslöst, dem allerdings jegliche Erfüllung versagt bleibt, ist der Neutralität und Öffentlichkeit des Ortes geschuldet. Überrascht und irritiert ist Agathe, wie die knappe Kommentierung „pire encore“ der Erzählstimme verrät, über die in ihr aufblitzende Vorstellung, „jemanden anders“ zu treffen, womit die bevorstehenden Ereignisse in Saint-Thomas wiederum angedeutet werden.12

Die Opposition zwischen Agathe und Loïc spiegelt sich zu Beginn ihrer Auseinandersetzung im Gegenüber des Sitzarrangements wider, mit dem die Gegensätzlichkeit im Denken der beiden korrespondiert. Formal wird dies durch einen lexikalisch-syntaktischen Parallelismus unterstrichen: „[…] Loïc s’était rassis, elle s’asseyait à son tour et ils se retrouvaient de part et d’autre de la table, de part et d’autre d’une pensée.“13 Loïc zeigt Verständnis dafür, dass er – nach zweifachem Rücktritt von den gemeinsamen Reiseplänen – in den Augen Agathes seine Vertrauenswürdigkeit verloren hat. Gleichzeitig bekundet er Agathe seine Liebe und beteuert, immer ehrlich gewesen zu sein und unter seinen Lebensbedingungen genauso wie Agathe zu leiden.14 Warum Agathe Saint-Thomas eine so große, ihm unangemessen erscheinende Bedeutung beimesse, könne er nicht nachvollziehen. – Agathe widerspricht keineswegs der Aussage Loïcs, die Wahrheit bzgl. seiner ehelichen Beziehungen nie verborgen zu haben, vielmehr gesteht sie sich selbst ein: „[…] c’était elle qui changeait, qui était infidèle à quelque chose […]“.15 Zugleich betont sie jedoch: „Le fond du problème, ce n’est ni Saint-Thomas ni toi ou moi – elle n’arrivait pas à dire notre amour comme lui, naturellement, simplement – c’est Lucie.“16 Loïc ist für sie mal ein „[…] héros tragique victime de circonstances contre lesquelles il ne pouvait rien, enfermé dans une vie avec Lucie et sa mystérieuse maladie […]“, mal ist er „[…] enfermé en lui-même, barricadé dans une vie qui, finalement, lui convenait comme elle était, avec d’un côté une part de stabilité peut-être un peu trop stable et de l’autre, une aventure aux risques limités […]“17.

Agathe gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass „die Geschichte von Saint-Thomas“ für sie und Loïc zunächst einen weiten, sich von der Gegenwart abhebenden Zukunftshorizont erschlossen habe. Die Vorstellung, dass er selbst sich für etwas öffnen könne, habe Loïc sodann jedoch veranlasst, sich dem Neuen endgültig zu verschließen, was schwer zu ertragen sei.18 Hatte Agathe Saint-Thomas bislang mit Loïc identifiziert, insofern sie hoffte, dort zumindest für kurze Zeit die in Paris trennend zwischen ihnen stehende „Mauer“19 überwinden und das Leben uneingeschränkt und „exklusiv“ mit ihm teilen zu können, wendet sie sich nun mit dem Eingeständnis: „Je ne peux plus, Loïc, je ne peux plus continuer“20 grußlos und ohne zurückzuschauen von ihm ab. Die Erzählung lässt allerdings in der Schwebe, ob Agathes Erklärung nur für den Augenblick oder für immer gilt. Verstärkt wird diese Unsicherheit durch den Hinweis darauf, dass Agathe Loïc in jenem Café verlassen habe, in dem Jeanne und Eric wieder zueinander gefunden haben. Somit werden die Lesererwartungen implizit einerseits bereits auf das Ende der Romanhandlung gelenkt. Andererseits jedoch wird das Leserinteresse auf die unmittelbare Gegenwart fokussiert und damit auf die nun anstehende, in ihrer Bedeutung noch unbestimmte Reise Agathes und Marcs nach Saint-Thomas. Dass in der Vorstellung Agathes beim Verlassen des Cafés „[l’image] d’exilés silencieux chassés de quelque part et se dirigeant vers nulle part […]“21 auftaucht, unterstreicht, dass Saint-Thomas für sie weiterhin das Ziel einer immer schon als Flucht aus Paris verstandenen Reise ist.22 Diese hat jedoch nicht mehr jenen besonderen Reiz und die klare Funktion, die sie ursprünglich für Agathe besaß.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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