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2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit

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Inspiriert durch die endlos wirkende Weite des Meeres, erlebt Mariane den Beginn ihrer Rückreise als einen fast sakral anmutenden Akt der Reinwaschung ihres Lebens, als eine Auslöschung der bedrückenden Erinnerungen an ihr persönlich-berufliches Umfeld und als ein Einatmen von Freiheit.1 In einem Gespräch mit dem Engländer John Dee erklärt sie dieses Gefühl der Befreiung mit den Worten: „[…] j’ai l’impression de sortir de prison et de voir le soleil pour la première fois […].“2 Nachdem sie eine Rückkehr nach Amerika kategorisch ausgeschlossen hat und John Dee sie daraufhin auf ihren zurückgebliebenen Mann anspricht, erklärt sie unmissverständlich: „Il fait partie de ce que je ne veux plus retrouver […].“3 Gänzlich unbestimmt bleibt indes zunächst das Ziel ihrer Reise. Mit nur einem Koffer unterwegs – […] moins chargée qu’au départ – et plus libre – stellt sie lapidar fest: „[…] je ne vais vers rien.“4

Es entspricht Marianes Bedürfnis nach Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung des Lebens, dass die Rückreise nach Europa, anders als die Hinreise, „[…] dans le sens du temps […]“5 gerichtet ist. Gleichzeitig jedoch wird sie sich ihrer Unsicherheit bewusst, die von der Erzählinstanz in räumlich inspirierter Metaphorik zum Ausdruck gebracht wird. So spürt sie in der Nähe des Exilanten Thomas Mann „[…] l’immensité du gouffre qui séparait la vie qu’elle avait menée de la vie que menaient d’autres, l’impossible rencontre des sphères […]“6, und bei der Frage Peter Lemms, ob sie etwas in New York zurückgelassen habe, fühlt sie sich, eingeholt von der Erinnerung an den von ihr verlassenen Ehemann und den Sohn, wie von einem mächtigen Strudel in einen tiefen Abgrund gezogen.7

Mariane leidet jedoch nicht nur unter der aus „[…] vingt années de mensonge […]“8 resultierenden Veränderung ihrer Persönlichkeit, sondern auch unter den gravierenden Folgen des Krieges, die sie bis in den Schlaf verfolgen:

Dans les draps blancs où elle ne dormait pas, elle voyait le monde se diviser en deux, les gens plutôt, les innocents et les autres, ceux qui avaient cédé à la tentation et ceux qui n’avaient pas cédé […] Harry était un innocent, John Dee aussi, mais pas elle, pas Judith […] Et dans ce bar où elle avait vu Thomas Mann, elle se demandait à cet instant si la division n’était pas entre vainqueurs et vaincus, de la guerre, certes, mais d’une autre guerre aussi, plus intérieure.9

Die Teilung der Welt lässt sich, folgt man der Argumentation Marianes, durchaus unterschiedlich erklären, je nachdem, ob man Kriterien der persönlichen Schuld bzw. Unschuld anwendet oder aber sich an der durch das Ergebnis der Kriege geschaffenen Unterteilung in Sieger und Besiegte orientiert. Dass Mariane davon ausgeht, dass die Sieger gemeinhin als unschuldig, die Besiegten als schuldig gelten, erhellt aus ihrer an Dee gerichteten Bemerkung: „[…] la vie est simple pour vous, vous faites partie d’un pays vainqueur.“10 Als Dee ihr entgegnet: „Vous aussi […] l’Amérique“11, distanziert sich Mariane von dieser – sicherlich freundlich gemeinten – Zuordnung mit den Worten: „En vingt ans, il n’est pas une seconde où je me sois sentie chez moi. J’ai vu disparaître la statue de la Liberté avec un soulagement, vous ne pouvez pas imaginer.“12 Auf den ergänzenden Hinweis Dees, dass sie während der fraglichen Zeit nicht in Deutschland gewesen sei, gibt Mariane zu bedenken: „Je n’étais pas là-bas mais je suis de là-bas, de ce pays, de cette langue.“13 Und sie fügt hinzu, dass sie sich gedrängt fühle, ihr in Ruinen liegendes Land, das von amerikanischen Offizieren mit Pompei verglichen werde, zu besuchen. – Mit ihren Äußerungen beklagt sie nicht nur erneut die von ihr als eine Zeit der Gefangenschaft empfundenen Jahre in New York, sie distanziert sich darüber hinaus von dem ganzen Land, dem sie implizit vorwirft, seinen Einwanderern bei ihrer Ankunft mit dem in Bronze gegossenen Pathos der Freiheitsstatue ein utopisches Bild vom Leben in den USA zu vermitteln. Gleichzeitig identifiziert sie sich mit ihrem Herkunftsland Deutschland und seiner Sprache als einem wesentlichen Merkmal kultureller Identität und lässt damit deutlicher erkennen, was sie unter jener in dem Gespräch mit John Dee erwähnten „guerre intérieure“ versteht. Sie war zwar während der Schreckensjahre nicht in ihrer Heimat, betrachtet diese Zeit jedoch als eine „[…] vie de fausseté“14 und sucht daher nach einem neuen Weg.

Dabei erweist sich für Mariane ein Blick auf die Gesellschaft an Bord des Schiffes eher als verwirrend.15 Während Joan Hawks und andere Angehörige der Schickeria sich in oberflächlicher Selbstzufriedenheit einem trivialen musikalischen Vergnügen hingeben – […] chacun paraissait se contenter de la surface sans chercher à voir dessous – 16, diskutieren Hans Vögli und John Dee ernsthaft über die Einheit Deutschlands, die der Eine befürwortet, der Andere strikt ablehnt. Mariane entdeckt Bezüge zwischen dieser röntgenhaft „unter die Haut gehenden“, tiefschürfenden Analyse und der europäischen Trümmerlandschaft und sieht sich selbst als Gefangene, eingeschlossen und ohne Hoffnung auf Befreiung: „[…] elle se sentait cernée, entourée de grillages ou de fils barbelés, et frapper à une porte qui ne s’ouvrirait pas puisqu’elle n’existait pas.“17 Ihre Suche nach Wahrheit droht zu scheitern, auch angesichts ihrer eigenen Vergangenheit und im Anblick einer lächelnden, alle Umgangsformen respektierenden Gesellschaft: „Sa quête de vérité se désintégrait – quelle vérité, vingt années de mensonge et les ruines, partout – et au milieu du désastre, tout le monde souriait, en tenue impeccable.“18

In ihrem eigenen Innern tobt eine „guerre intérieure“ um die Frage nach persönlicher Schuld und Verantwortung, die in einen Entschluss zum Handeln einmündet. Für Mariane bedeutet dies die Verpflichtung zum Aufbruch in die Richtung ihrer alten Heimat. Die Erinnerung an ihren Sohn John wirkt immer wieder belastend, vermag sie aber nicht zurückzuhalten.

Wie sehr die Teilung der Welt in zwei Hälften gerade auch die Deutschen in ihren konkreten Lebensvollzügen treffen wird, sagt John Dee voraus, wenn er der sich nach dem Gebrauch ihrer Muttersprache sehnenden Mariane erklärt: „[…] et dans votre pays, Mariane, ce qui va se passer, un pays coupé en deux, une ville coupée en deux. Il y aura des familles, des amis qui ne pourront plus se voir ou qui devront traverser une frontière, présenter des papiers pour parler la même langue.“19

Mariane, die zum Zeitpunkt ihrer Rückreise seit 20 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen hat, erinnert sich, vor sechs oder sieben Jahren die Bände I und II von Thomas Manns Joseph und seine Brüder in einer Bücherei in Manhattan erstanden zu haben.20 Für sie war dieser Kauf, obwohl es sich um eine englische Übersetzung handelte, „[…] le signe qu’elle attendait depuis des années, une lumière dans ses ténèbres […] comme la terre d’un nouveau continent que l’on va aborder“21. An Bord des Schiffes ist der Exilant Thomas Mann, Autor eines Romans über den alttestamentarischen Exilanten Joseph, dessen Auslieferung durch seine Brüder an einen ismaelitischen Sklavenhändler der Exilant Peter Lemm mit den „mariages arrangés“ Marianes und Judiths vergleicht, für sie eine Person, deren Anwesenheit „[…] lui indiquait la voie à suivre“22. Als einziges Buch hat sie diesen Roman mitgenommen, da die in ihm bezeugte „[…] existence de voies impénétrables, de chemins détournés […]“ ihrer „[…] vision du monde […]“23 entspricht. So stellt sie sich vor, dass, sollte sie Thomas Mann auf der Schiffsbrücke treffen, sie ihm folgendes sagen würde:

C’est en lisant Joseph […] que j’ai compris qu’il fallait partir pour vivre. […] Joseph est parti, il a quitté son père, et puis ses frères, et lui qui, dans son pays, n’était qu’un membre de la famille, là-bas, en Égypte, descendu au plus bas il montait au plus haut, il observait les dieux, leurs coutumes et leurs songes, il expliquait les choses autrement, et son regard étranger éclaircissait le monde. Car le départ ne suffit pas, il faut en faire quelque chose, et moi, je n’ai rien décidé au cours de ma vie – ma première décision (Hervorhebung H.H.), je l’ai prise il y a quelques jours, et ce fut de partir, aussi. Vous voyez, c’est pour cela que je crois que John a eu raison.24

Mariane fühlt sich dem Schicksal Josephs verbunden, insofern sie und er im Alter von 18 Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Darüber hinaus wird er für sie zu einem beneideten Vorbild, da er sich, anders als sie, die sich in ihrer Ehe und in ihrem ganzen Leben in New York unfrei fühlte, in seiner neuen Heimat Ägypten nicht von der Gesellschaft isolierte, sondern die Autoritäten und Bräuche des Landes achtete und bekanntlich bis zum angesehenen Berater des Pharaos aufstieg. Als seine Brüder in einer Zeit der Hungersnot nach Ägypten kamen und ihn um Hilfe baten, fanden sie bei ihm „[…] la nourriture matérielle et spirituelle […]“25, also eine nicht nur den leiblichen, sondern auch den geistigen Hunger stillende Nahrung. Und als die Brüder ihn schließlich zu ihrem Vater Jakob kurz vor dessen Tod in die Heimat zurückführten, bedeutete dies für alle, dass „[…] l’unité s’était reformée […]“26. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Entscheidung Marianes zum Aufbruch ihren – verspäteten – Eintritt in die Selbstständigkeit des Erwachsenenalters. Ihre verständnisvolle Hinnahme des Verschwindens ihres Sohnes ist nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie: Da sie ihrem Sohn ein Leben des Stillstands und der Erstarrung ersparen will, das dem ihrigen ähnelt, heißt sie seinen unangekündigten, die Eltern in Ratlosigkeit stürzenden Aufbruch nachträglich gut.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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