Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 43

2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York

Оглавление

Die Erzählinstanz widmet Heidelberg als der Herkunftsstadt Marianes und ihrer Freundin Judith nur wenige Zeilen, die sich gleichwohl im Tenor deutlich unterscheiden.1

Im ersten und zweiten Kapitel erscheint die Stadt im Kontext der Erinnerungen an die Abfahrt. Hier ist zu erfahren, dass die beiden Mädchen nur wenige Häuser voneinander entfernt in derselben Straße wohnten2 und gelegentlich die Neckarbrücke überquerten „[…] pour parvenir jusqu’au chemin des philosophes et là, en voyant les ruines du château sur l’autre rive veiller sur la ville comme un memento mori, elles se racontaient la vie qu’elles imaginaient, des voyages et des rêves“3. Das „romantische“ Heidelberg wird auf diese Weise konnotiert mit einer Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Seins, zugleich aber auch mit den Zukunftsplänen und -träumen Marianes und Judiths, die durch den Anblick der Schlossruine nicht nur nicht unmöglich gemacht, sondern sogar angeregt werden. Die Zeugnisse der Vergangenheit fungieren in der Gegenwart als Brücken in die Zukunft. Positive Erwartungen weckt überdies der Neckar. Wenn die Mädchen sich auf dem Philosophenweg in südlicher Richtung auf seine Quelle zu bewegten, wandten sich ihre Gedanken und Träume gleichwohl in die umgekehrte Richtung, weit über jenen Punkt hinaus, an dem der Fluss bei Mannheim in den Rhein einmündet. Es scheint, als ob sich ihr Aufbruch in die Ferne, aber auch ihre Suche nach einem eigenen Weg bereits am Horizont abzeichneten:

Remontant vers la source, le fleuve approchait de la mer pourtant, s’élargissait, et les bateaux convergeaient, plus nombreux, pour aboutir au port où les chantiers navals construisaient les paquebots qui viendraient hanter d’autres mers, habités de passagers à la recherche d’eux-mêmes et de fuites, émigrants, voyageurs.4

In einem seltsamen Kontrast zu dem zwar nur sehr skizzenhaft, aber unmissverständlich positiv dargestellten Ambiente Heidelbergs, das dem stark verbreiteten „Image“ der zum Träumen einladenden Stadt entspricht, steht das Projekt der „mariages arrangés“, die, wie nur aus Randbemerkungen zu erfahren ist, auf Seiten beider Familien wirtschaftlich motiviert sind.

Mariane und ihre Freundin Judith sind, als sie im Februar 1929 nach New York aufbrechen, 18 Jahre alt. Die Erzählungen eines Passagiers, dass sich zu dieser Jahreszeit riesige, sich von den Gletschern Grönlands abspaltende Eisberge den Schiffen auf der Transatlantikroute in den Weg stellen könnten, und sein Hinweis auf historisch belegte Havarien vermögen sie nicht zu beunruhigen, wirken im Nachhinein jedoch wie eine proleptische Ankündigung künftigen Unheils. Den beiden jungen Frauen vermag dies nichts anzuhaben. „[…] pendant la traversée de l’Atlantique, entre l’Ancien et le Nouveau Monde, sur le bateau, j’ai cru à la liberté […]“5, erinnert sich Mariane auf der Rückreise. Und als die beiden Freundinnen – noch vor dem von Judith angeregten Tausch der ihnen zuge­dachten Ehemänner – beim Anblick der Fotos ihrer künftigen Partner wohl nicht so recht an „[…] l’aventure avec lui […]“6 zu glauben vermögen, zerstreut Judith alle Bedenken mit ihrem Lachen und der Bemerkung: „[…] il y aura plus d’air qu’à Heidelberg“7, einer Aussage, die vermuten lässt, dass das geistige Klima in der Stadt nicht nur durch ökonomische Zwänge eingeengt, sondern obendrein durch den autoritären Erziehungsstil der Eltern belastet war. Die Unbekümmertheit und Sorglosigkeit der beiden jungen Damen scheinen indes während der Überfahrt keine Grenzen zu kennen – Elles riaient de tout, du passager du Gallia ou de leur fiancé […] – 8, allerdings deutet die Erzählinstanz auch feine Unterschiede zwischen den beiden an:

Judith laissait ses cheveux flotter, et sous la bise de février elle se sentait au printemps, et quand elle se penchait pour regarder l’océan, ses yeux se teintaient d’un vert plus sombre, un peu de mystère voilait son regard – à la recherche de quelque chose. Elle relevait la tête et Mariane lui enviait la force qu’elle paraissait puiser dans les eaux tumultueuses.9

Die Umstände der Überfahrt lassen nicht nur Judiths größere Härte und Belastbarkeit hervortreten, es umgibt sie auch ein Schleier des Geheimnisvollen, Undurchdringlichen und Unberechenbaren. Der sich zwei Jahre nach der Ankunft in New York vollziehende Bruch zwischen den beiden Frauen wird damit proleptisch vorweggenommen.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

Подняться наверх