Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 41
2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung
ОглавлениеDie Frage, ob die Erzählerin, die nicht von einem festen Ausgangspunkt, sondern schwimmenderweise über ihr Leben reflektiert, als eine im (frühen) Lotman’schen Sinn „bewegliche“, also die Grenze zwischen „disjunkten Räumen“ überschreitende Figur betrachtet werden kann, erfordert eine differenzierte Antwort. Ohne sich auch nur ansatzweise in expliziter Form mit den Moral- oder Wertvorstellungen der Gesellschaft, in der sie lebt, auseinanderzusetzen, betrachtet sie ihr eigenes Sexualverhalten als eine „transgression“. Sie überschreitet also eine, wie sie zu glauben scheint, durch anerkannte Normen gesetzte Grenze. Diese Wertung erfolgt unter Bezugnahme auf die durch die Erzählerin implizit vorgegebenen Normvorstellungen. Sie möchte sich als bisexuell lebende Frau jedoch aus ihrer Notlage befreien, indem sie sich in eine topographisch symbolisierte Äquidistanz zu beiden Geschlechtern begibt. Der ihren Wünschen gerecht werdende Ort liegt in in der Nähe von Quito, der Hauptstadt Ekuadors. Ungefähr zwanzig Kilometer nördlich befindet sich ein „La mitad del mundo“ genanntes Denkmal, an dem eine gelbe Linie den Äquator und damit den, wie man bei der Errichtung des Denkmals annahm, exakt gleichen Abstand zum Nord- und Südpol markiert.1 Wenn sie in diesem Kontext an Touristen denkt „[qui] se font photographier un pied de part et d’autre, un pied dans chaque hémisphère“2, verdeutlicht dieses Bild ihre illusionäre Wunschvorstellung eines durch eine „naturgegebene“ Linie normierten, quasi legalisierten Verhaltens. Somit ist es gerechtfertigt, ihren – nicht realisierten – „désir d’Équateur“ als eine angestrebte Form der Grenzüberschreitung im Lotman’schen Sinn zu betrachten, insofern ihr Ausgangs- und ihr Zielort zwei nach ihrer Vorstellung unterschiedlichen Wertvorstellungen verpflichtet sind. Da sie jedoch am ersten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer die Beziehungen zu „ihr“ und „ihm“ beendet, scheint sie auf den ersten Blick zu einer „unbeweglichen Figur“ geworden zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch im Lichte des Romanendes zu relativieren, insofern ihr „désir d’Équateur“ keineswegs erloschen ist, vielmehr in ihren Träumen weiterlebt. So mag man angesichts des Erscheinungsdatums des Romans (1995) und der damals allgemein vorherrschenden Intoleranz gegenüber „besonderen“ sexuellen Orientierungen durchaus vermuten, dass die autodiegetische Erzählerin in Le Désir d’Équateur mit diesem von ihr nicht für realisierbar gehaltenen „Wunsch“ (auch) die Hoffnung auf eine Änderung der Haltung der Gesellschaft gegenüber dieser Frage zum Ausdruck bringt, ohne dass der individuelle Charakter ihrer Suchbewegung in Frage gestellt wird.