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2.2.4 Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen

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Die Erzählerin rückt ihre Trennung von „ihr“ – […] il fallait que je cesse de la voir […] – und ihre Überzeugung, dass „er“ an einer Beziehung zu ihr nicht mehr interessiert ist – […] de lui, il n’y avait pas grand-chose à attendre […] – 1 in einen chronotopisch geprägten Rahmen. Sie berichtet, am Jahrestag des Mauerfalls in einer grenznahen, aber „in ihrem Land“ gelegenen Stadt gewesen zu sein „[…] où des écrivains parlaient d’exil“.2 An demselben Tag trifft sie im Nachtzug auf eine Frau, die ihr eine abenteuerliche Geschichte über ihren Sohn erzählt, und des Nachts plagen sie Alpträume, in denen sich eine absurde und ansonsten blutrünstige, in ihr Schuldgefühle wachrufende Szenen abspielen.3 Der Moment ihrer Entscheidung, sich von „ihr“ und „ihm“ zu trennen, wird somit in den Kontext eines realen, umstürzenden historischen Ereignisses und erdachter, von der alltäglichen Normalität stark abweichender Geschehnisse gerückt. Die in ihrem Traum aufkommenden Schuldgefühle mögen durch ihre Trennungsentscheidung hervorgerufen werden.

Angesichts der zum Teil wortgleichen Wiederholung der auf den Jahrestag des Mauerfalls bezogenen Erinnerungen und eines erneuten Verweises auf dieses Ereignis am Ende des Romans ist davon auszugehen, dass die Erzählerin die Zäsur in der Diegese des Romans auf diese Weise nicht nur zeitlich situieren, sondern in einen auf ihr persönliches Dilemma bezogenen Rahmen stellen will. Da der Fall der Mauer jedoch weit über Deutschland und Europa hinaus überwiegend als ein glückliches historisches Ereignis betrachtet wird, wirken die von der Erzählerin imaginierten negativen Konnotationen auf den ersten Blick irritierend. Hilfreich für das Verständnis ist die bereits in B 2.2.2 zitierte Beobachtung der Erzählerin, dass für sie und ihre Geliebte „Entre les murs […] l’extrême liberté et l’extrême prison se confondaient […]“.

Für die Erzählerin dürften die beiden Teile des wiedervereinigten Deutschlands den von ihr in ihrer Beziehung zu „ihr“ erlebten Gegensatz zwischen „liberté“ und „prison“ widerspiegeln. Der Westen steht dabei für „extrême liberté“, der von Mauer und Stacheldraht eingehegte Osten für „extrême prison“. Diese Gegenüberstellung ist allerdings nicht auf eine Opposition zwischen „Gut“ und „Böse“ zu reduzieren, sondern bedeutet vielmehr den Gegensatz zwischen bis ins Extreme gesteigerten Haltungen.4 So werden die oben erwähnten Konnotationen verständlich: Prostitution und Mord, wo immer sie geschehen mögen, dienen als Beispiele für libertäres und kriminelles, die Würde des Menschen und sein Recht auf Unversehrtheit verachtendes Verhalten. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Erzählerin die Teilung Deutschlands, deren Ende sich mit dem Fall der Mauer ankündigt und tatsächlich zum Zeitpunkt des ersten Jahrestages besiegelt ist, als Spiegelung der Spaltung ihrer eigenen Person betrachtet. Diese manifestiert sich einerseits in ihrem sowohl „ihr“ als auch „ihm“ zugewandten erotischen Interesse, andererseits jedoch in ihrer sich zwischen den extremen Polen der „extrême liberté“ und der „extrême prison“ bewegenden Beziehung zu „ihr“ oder, anders ausgedrückt, ihrer zwischen „[…] l’ivresse d’errance et la gravité du destin“ bzw. „[u]ne liberté extrême, une solitude infinie“5 schwankenden Emotionalität. Wenn sie sich daher „[…] en exil de [sa] vie, de lui […] et elle“ sieht, so bedeutet dies – am Ende einer einjährigen Klärungsphase – „[…] que c’était terminé“ 6. Sie erlebt den Abschied von ihrem bisherigen Leben als eine Zeit des Rückzugs und Sich Verschanzens, des „[…] se barricader, se retirer sur ses terres, dans ses meubles, ne pas oublier de verrouiller les portes pour être sûr de verrouiller les cœurs“7. Für sie, die „le large, la navigation“ liebt und von sich selbst sagt „[…] que rien nulle part ne [la] retenait, dans aucun pays, ni celui que j’allais quitter ni celui où j’allais arriver. Une liberté extrême, une solitude infinie.“8, scheint diese Form der Immobilisierung und Abschottung zunächst den Verzicht auf jegliche Form einer „terre promise“ oder, anders gewendet, eine neue Art des selbstgewählten Exils zu bedeuten. „Beweglich“ hingegen sind die Schriftsteller, die über Exil sprechen, nicht im politischen Zentrum des Landes, sondern in einer grenznahen Stadt, um politischer Einflussnahme zu entgehen und grenzüberschreitendes Denken, das auch zur Aufgabe der Heimat führen mag, zu praktizieren. Unklar bleibt allerdings nicht nur, um welche Grenze es sich handelt, sondern auch, warum die Schriftsteller das Thema zu diesem Zeitpunkt aufgreifen. Ohne dass der Text einen Beleg dafür liefert, mag man – angesichts der spezifischen historischen Situation – nicht ganz ohne Grund spekulieren, dass die Erzählerin an Schriftsteller denkt, die – an der Grenze zwischen den ehemals getrennten Teilen Deutschlands – für einen „dritten“ gesellschaftlichen Weg plädieren und sich aus diesem Grunde von der Hauptstadt an die Peripherie begeben. Dies entspräche der Lotman’schen Theorie von der Ambivalenz der Grenze, die nicht nur trennt, sondern auch verbindet und zwischen den Kulturen der aneinander grenzenden Semiosphären vermittelt.9

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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