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2.4.6 Perspektivierende Zusammenfassung

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Abschließend soll die sich im Titel des Romans andeutende und in seinem ersten Kapitel in einigen Punkten bereits entfaltende Bedeutung, die der „Reise nach Saint-Thomas“ und damit der Suchbewegung der Protagonistin über die Ebene der „histoire“ hinaus insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Handlungsorten und der Figurenkonstellation zukommt, zusammengefasst werden.

Paris und Saint-Thomas (Saint-Jean-le-Thomas) werden – bei objektiver Betrachtung – natürlich nicht durch eine „klassifikatorische“ Grenze im Sinne Lotmans getrennt, zumal der kleine Ort in der Normandie (auch) für viele Pariserinnen und Pariser ein attraktives Ausflugs- und Urlaubsziel sein dürfte. Die in Voyage à Saint-Thomas gleichwohl vom ersten Kapitel an deutlich werdende Opposition zwischen den beiden Orten erklärt sich daher aus den ihnen im Verlauf der Diegese zugewiesenen Funktionen bzw. der Bedeutung, die sie für Agathe haben.

Im Hinblick auf die in Voyage à Saint-Thomas stattfindenden „Ereignisse“, also die „Sujethaftigkeit“ des Textes, sind drei unterschiedliche Aspekte zu unterscheiden:

1 Zu Beginn der Diegese sind Agathe und Loïc geeint in dem Wunsch, vier Tage in Saint-Thomas zu verbringen. Für Agathe würde mit dem Aufenthalt in Saint-Thomas ein von ihr seit langem gehegter Wunsch in Erfüllung gehen. Sie hätte damit, wie in Kapitel 2.4.2 gezeigt wurde, „[…] le bout du monde, le but de sa vie […]“ erreicht. Das hyperbolische „bout du monde“ signalisiert, welch immense Bedeutung Agathe dem Ort Saint-Thomas beimisst, der sich durch seine periphere Küstenlage und sein dörfliches Gepräge in markanter Weise von Paris unterscheidet. Angesichts dieses asymmetrischen Verhältnisses und aufgrund ihrer existentiell hohen Erwartungen käme die Realisierung der Reise für Agathe einer „Grenzüberschreitung“ im Lotman’schen Sinne gleich, bedeutete sie doch – u.a. – die drei Jahre lang für unmöglich gehaltene öffentliche Manifestation einer bislang nur in privater Abgeschiedenheit gepflegten Beziehung.Loïc wird im Unterschied zu Agathe nicht nur durch berufliche bzw. familiäre Verpflichtungen an der Reise gehindert. Da er seine Ehefrau Lucie einstweilen noch nicht über sein Verhältnis mit Agathe informiert hat, wäre für ihn angesichts seines zwar an keiner Stelle explizit definierten, sondern nur aus seinem Verhalten ableitbaren Verhaltenskodex eine nicht schlüssig erklärte längere Abwesenheit ein eindeutiger Tabubruch und damit eine Grenzüberschreitung.Von Saint-Thomas geht – nach Loïcs Reiserücktritt – eine das Verhältnis zwischen Agathe und Loïc keineswegs festigende, sondern, wenn nicht entzweiende, so doch stark belastende Wirkung aus. Sodann beeinflusst der Ort die Figurenkonstellation einerseits und die Befindlichkeit Agathes andererseits in einer tiefgreifenden Weise.

2 Nicht mit Loïc, sondern mit Marc nach Saint-Thomas zu reisen, kommt Agathe zunächst wie eine „fugue“1 bzw. ein „voyage de remplacement“2 vor. Saint-Thomas und die Ereignisse, für die der Ort wie eine Chiffre verwendet wird, bewirken in Agathe, wie in B 2.4.2 herausgearbeitet wurde, einen Zustand innerer Zerrissenheit, einen Verlust ihrer „innocence“ in ihrer nach- und fortwirkenden Beziehung zu Loïc, zugleich jedoch eine leidenschaftliche Hinwendung zu Marc. So geht der Ortswechsel von Paris nach Saint-Thomas für Agathe mit einer sicherlich nicht geplanten, aber psychologisch folgenreichen „Grenzüberschreitung“ (in einem übertragenen Sinn) einher. Ihre Lage wird noch dadurch kompliziert, dass Marc zu einer gänzlich anderen Bewertung der mit ihr in Saint-Thomas verbrachten Zeit gelangt. Für ihn haben die den „circonstances“ geschuldeten Begegnungen keine über den örtlichen und zeitlichen Rahmen hinausgehende Wirkung. Daraus wird ersichtlich, dass, wie in Kapitel A 2.2 ausgeführt wurde, die Bewertung eines Vorgangs als „Grenzüberschreitung“ nur in Relation zu den für die betroffenen Personen gültigen Weltbildern erfolgen kann. Da Agathe und Marc aus einem sich durch die Pluralität der Meinungen und Wertvorstellungen auszeichnenden Raum kommen, ist dies leicht nachvollziehbar.

3 Mit der Bereitschaft, sich von Lucie zu trennen, gewinnt Loïc gegenüber Agathe seine innocence“ zurück. In der Schlussszene geschieht, was, wie die Erzählstimme anmerkt, Agathe für unmöglich gehalten hatte,3 also ein im Sinne Lotmans „sujethaftes Ereignis“, das über zarte Gesten vermittelt wird. Wenn Agathe ihren Kopf auf Loïcs Schulter legt und dabei in Tränen ausbricht, während er ihr Gesicht streichelt, ist dies als Zeichen der Versöhnung und der Befreiung Agathes aus der Sprachlosigkeit zu verstehen. Auf eine gänzlich unerwartete Weise hat der Ort „Saint-Thomas“, auf den Agathe und Loïc zu Beginn der Diegese wie auf ein Fanal der Hoffnung blickten und den sie dennoch nicht gemeinsam erreichten, dazu beigetragen, beide über alle sie trennenden Grenzen zusammenzuführen.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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