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Syntagmatische Achse – Relationierung der Orte
ОглавлениеParis – Saint Thomas: Etappen einer Entwicklung
Abkehr von Paris: Saint-Thomas als Agathe und Loïc verbindendes Ziel
Die bereits in Kapitel 1 angelegte Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas wird im Verlauf der Romanhandlung schrittweise weiter entwickelt. Agathe erlebt das Stadtviertel von Paris, das sie nach dem Verlassen eines Cafés gemeinsam mit Jeanne betritt, als einen Kontrast zu dem ihr bisher unbekannten, in ihrer Vorstellung gleichwohl präsenten Küstenort Saint-Thomas:
Il faisait beau, Jeanne lui [à Agathe] proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles, tandis qu’Agathe se demandait quel temps il faisait, à Saint-Thomas, tandis que la plage et la mer qu’elle n’avait jamais vues et qu’elle imaginait, immenses et vides, d’une sérénité apaisante, se substituaient aux rues étroites et sombres qui contournaient des églises sans âme d’une architecture lourde et banale, elles arrivèrent au jardin du Luxembourg où subsistaient, en cette fin de journée, quelques havres de paix […]1
Die Erzählstimme fokalisiert das Leserinteresse von vornherein nicht auf eine sachliche Gegenüberstellung dieser disparaten Orte, sondern auf die subjektive Sehweise Agathes. Dies gelingt ihr durch die hypotaktische Verschränkung einer auktorial präsentierten Abfolge von drei Hauptsätzen – Il faisait beau, Jeanne lui proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles […] elles arrivèrent au jardin du Luxembourg […] – mit einem komplexen Gefüge untergeordneter Nebensätze, die sie zwischen die den dritten Hauptsatz eröffnende adverbiale Ergänzung und die Kernaussage einfügt. So werden für Agathe die „rues tranquilles“ des Erzählers zu „rues étroites et sombres“, welche Kirchen umgeben, die sie offensichtlich als Beispiele einer seelenlosen, dumpfen Architektur empfindet. Strand und Meer in Saint-Thomas hingegen evozieren in ihr ein Gefühl der Weite und einer friedlich stimmenden Heiterkeit. Einige hingegen als „havres de paix“ erlebte Orte in Paris, die Agathe im Jardin du Luxembourg findet, genießt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihre Helligkeit eine Vorstellung jenes Lichts vermittelt, in das die Bucht des Mont Saint-Michel vor Sonnenuntergang getaucht ist.2 Obwohl ein gemeinsames Leben mit Loïc Agathe wie ein unerreichbarer Stern erscheint, ist sie realistisch genug zu erkennen, dass für diejenigen, die das Ziel des Zusammenlebens erreicht haben, „[l’étoile] n’avait plus rien d’une étoile et rien d’inaccessible […]“3, und das Miteinander kaum miteinander kommunizierender Paare erscheint ihr eher langweilig und beklemmend.4
Agathes Sehnsucht nach Saint-Thomas verbindet sich mit ihrer Sehnsucht nach Loïc, mit dem sie in den drei Jahren ihrer Bekanntschaft noch keinen gemeinsamen Sonntag hat verbringen können.5 Als sie eines Nachts an ihn denkt, verkörpert er auf eine zugleich unwirkliche und verheißungsvolle Art ihre Hoffnungen auf diesen Ort, und seine tiefblauen Augen werden für sie gleichermaßen zu den Lichtern eines Schiffes auf hoher See und des Dorfes Saint-Thomas.6 Wenn die Erzählinstanz hier noch bildhaft zwischen Trennung und Angekommensein unterscheidet, so unterstreicht der syntaktisch-lexikalische Parallelismus in der resumierenden Feststellung „Oui, cette nuit, elle croyait à Saint-Thomas et elle croyait à Loïc […]“7, dass Agathe Saint-Thomas und Loïc gleichsetzt, Ort und Person für sie gleichsam miteinander verschmelzen.
Innerlich bewegt, aber auch überrascht reagiert Agathe auf Loïcs Drängen, die Reise nach Saint-Thomas zum ursprünglich geplanten Termin, aber begrenzt auf vier Tage, anzutreten:
Agathe le regardait, émue par tout ce qui venait de lui, ses yeux, sa voix, ses mains, le fait qu’il ait l’air de tenir à ce départ, qu’il y revienne, elle se disait – cela lui arrivait parfois – qu’il y avait quelque chose de miraculeux dans cette histoire, et l’émerveillement qu’une telle chose existe, qu’un homme comme Loïc avec une telle expérience de la vie, une telle allure, montre de cette façon qu’il tenait à elle, l’illuminait d’une telle certitude qu’elle dit: bien sûr, on part. Quatre jours avec Loïc, c’était le bout du monde, le but de sa vie, l’important n’était pas la durée, le temps n’était pas aux additions, aux soustractions.8
Wiederum spiegelt eine stark hypotaktische Syntax die Verästelungen der Gedanken und Gefühle Agathes wider. Die Erzählstimme gibt die Gedanken Agathes zunächst in einer auktorial knapp kommentierten Form der indirekten Rede – […] elle se disait – cela lui arrivait parfois – que […] – wieder, um die Erzählung sodann durch eine kurze, entschiedene Aussage Agathes in direkter Rede, durch die die interne Fokalisierung des auktorialen Erzählstils noch verstärkt wird, fortzusetzen – […] qu’elle dit: bien sûr, on part –. Angesichts der sich konkretisierenden Aussicht auf den Aufenthalt in Saint-Thomas zählt für Agathe nicht die Dauer, sondern der Ort des Aufenthalts, wobei das alliterierende „b“ – […] le bout du monde, le but de sa vie […] – verdeutlicht, dass Saint-Thomas für Agathe ein weit außerhalb der ihr vertrauten und verhassten Wirklichkeit gelegenes, aber wohl auch deswegen zutiefst herbeigesehntes Ziel ist. Der Ort, an dem das Gespräch stattfindet, ein Café, das lediglich durch einen seine Funktion für Agathe und Loïc definierenden Relativsatz näher beschrieben wird – […] où ils prenaient leur petit déjeuner quelquefois […] – 9 ist im Vergleich dazu völlig unbedeutend.
Nachdem Agathe Loïc erklärt hat, dass sie eine Hotelreservierung in Saint-Thomas veranlassen werde,10 wird die Bedeutung des Seebades in einem Telefonat zwischen Agathe und Marc erneut hervorgehoben. Als Kenner des Ortes assoziiert Marc Saint-Thomas in überschwänglicher Begeisterung mit unendlicher Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten: „Tu verras, c’est magnifique, tout cet espace qui s’ouvre donne une impression d’infinie liberté, l’impression que tout est possible.“11 Die Aussage Marcs und der sich anschließende Wortwechsel sind aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen findet der besondere Charakter von Saint-Thomas eine durch persönliche Erfahrungen untermauerte Bestätigung. Zum andern wird die Aussage Marcs – […] tout est possible – von Agathe sogleich wortgleich wiederholt – Et tout est possible –. Diese Bekräftigung seiner eigenen Äußerung schränkt Marc spontan mit den Worten „Par moments, oui.“ ein.12 Das Telefongespräch zwischen Agathe und Marc erfüllt somit eine eindeutig proleptische Funktion, insofern es auf die sich in Saint-Thomas ergebende – kurzfristige – intime Beziehung zwischen den beiden hindeutet. Durch die Hinweise Marcs auf die Belastungen seines Verhältnisses zu Véronique13 wird die proleptische Wirkung verstärkt. Zugleich provozieren sie eine nachhaltige Verunsicherung Agathes, die in sich und um sich herum, ganz konkret in den Straßen von Paris, eine große, als beunruhigend empfundene Leere und Apathie verspürt, die sie veranlasst hat, die Hotelreservierung vorzunehmen. Danach, aber auch unter dem Eindruck des Gesprächs mit Marc weicht die Vorstellung, dass das Zimmer am Ufer des Meeres „[…] l’avant-poste d’un autre monde, la promesse d’un voyage sans retour, de quelque chose qui créerait une situation irréversible […]“14 sei, der Empfindung, sich wieder am Anfangspunkt, in einer Sackgasse, zu befinden, da sie die Nachricht von der Hotelreservierung nicht telefonisch an Loïc weiterleiten kann. Paradoxerweise ist er gleichzeitig an- und abwesend. In ihrer formal durch den „discours indirect libre“ bestimmten Reflexion lässt sich Agathe zunächst von geopolitischen Szenarien der Trennung inspirieren, um im Sinne einer finalen Steigerung ihren aktuellen Zustand mit dem völligen Alleinsein zu vergleichen:
Quelqu’un était à portée de main et hors d’atteinte, quelqu’un était là sans être là, à quoi cela servait, en quoi la solitude avec Loïc au loin, à l’horizon comme un bateau dont on apercevait les lumières en sachant qu’on ne pouvait pas monter à bord malgré la beauté de sa forme, son élégance, comme les lumières d’Aqaba qu’on voyait à Eilat, autrefois, qui signalaient la présence de la ville et son inaccessibilité, à l’époque où la frontière était infranchissable, comme Berlin ouest que les Berlinois de l’est pouvaient voir du sommet de la tour de la télévision, à Alexanderplatz, ville offerte et ville interdite, c’était cela, Loïc était offert et interdit; en quoi cette solitude différait-elle de l’autre solitude, celle absolue, quand il n’y a personne, n’était-elle pas pire lorsqu’on connaissait le nom qui pouvait y mettre fin?15
Zunächst evoziert der von ihr getrennte Loïc die – bereits vertraute – Vorstellung eines Schiffes, das zwar mit seinen Lichtern und der Schönheit und Eleganz seiner Formen am Horizont erkennbar ist, aber unerreichbar bleibt. Die Lichter des Schiffes wiederum wecken die Assoziation der Lichter der Stadt Akaba, die in früheren Zeiten von Eilat aus gesehen werden konnten, ohne dass die Stadt zugänglich war. Damit vergleichbar war die Situation der auf der Spitze des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz stehenden Ostberliner, deren Blicken sich Westberlin darbot, ohne dass es betreten werden durfte. Westberlin blieb somit „[…] ville offerte et ville interdite […]“, ein Paradoxon, das die Erfahrungen Agathes mit Loïc widerspiegelt: „[…] c’était cela, Loïc était offert et interdit[…]“. Für Agathe stellt sich an diesem Punkt ihrer Überlegungen die Frage, ob eine solche, mit ihrer aktuellen Situation in Paris übereinstimmende Form des Getrenntseins, das nicht geographisch, sondern durch „den menschlichen Faktor“ bedingt ist, nicht noch gravierender sei als eine „[solitude] absolue“, also der Zustand, niemanden zu kennen. So steigert Agathe ihren Leidensdruck in der schlimmst möglichen Form. Paris soll für sie noch unerträglicher werden, die Konstellation zwischen Paris und Saint-Thomas jedoch erfährt eine deutliche Änderung.