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Kapitel 11 Zwischenwelt
ОглавлениеJana überlegte. Jeder von ihnen sah die Zwischenwelt anders. Für ihre vier neuen Gefährten war sie eine graue Einöde mit mehr oder weniger kleinen Änderungen in der Betrachtungsweise. Sie konnten auch keine Blumen oder Farben hineindenken, wie sie. Ganz im Anfang war sie auch in einer grauen Schattenwelt. Weshalb war das so?
Sie dachte noch einmal an die Geschichten ihres Großvaters zurück, die er, in ihrer Kindheit, vor dem Einschlafen erzählte. Eigentlich waren es keine Geschichten, sondern eine einzige, die Abend für Abend fortgeschrieben wurde. Ausgangspunkt war immer die Wiese, auf der sie sich zurzeit befand. Von hier ging es in den Wald, ans Meer, in die Berge und viele verwunschene Orte. Alles lag nahe beieinander und Entfernungen wurden wie nichts überwunden. Der Mittelpunkt war immer sie:
Jana mit dem weißen Einhorn, die auf ihrem Weg durch den Wald, der Hexe aus Hänsel und Gretel widerstand; Rehen, Wildschweinen, Raben und vielen anderen Tieren, begegnete.
Jana wurde von Nemo, dem kleinen Fisch an das Meer gerufen und schwamm mit ihm unter Wasser um die Wette. Sie begegnet Delfinen, Walen, Haifischen, Seesternchen und Meerjungfrauen. Sie war in unheimlichen Wracks, in denen noch die Ketten der Verbrecher hingen, die auf die Sträflingsinsel geschafft wurden.
Jana tobte mit Heidi in den Bergen und begegnete Steinböcken, Murmeltieren, Steinadlern und seltenen Pflanzen, wie zum Beispiel dem Edelweiß.
Sie begegnete Göttern aus den Zeiten, in denen die Menschen begannen, ihre Existenz zu hinterfragen. Die Geschichte machte keinen Unterschied zwischen Germanen, Griechen oder Römern oder anderen Religionsbegriffen. Sie wusste von klein auf, dass alle Menschen einen Halt und Sicherheit benötigten. Die Spitzfindigkeit, der spirituellen Verbreitung der Glaubensrichtungen ihrer Zeit, beruhte genauso wie zu Zeiten der Götter, auf dem Bestreben nach Sicherheit und dem Machtbestreben von Menschen, die sich das zunutze machten.
Jana begegnete auf der Wiese den Katzen und Hunden, die verstorben waren oder auch Hamstern und Kaninchen und dem armen Vogel, der eines Morgens tot im Garten lag. Und sie sprachen alle mit ihr. Die Wiese war der Inbegriff für Träume und Glück.
Und dieses Glück hatte sie jetzt, in einer Welt, die für alle trist und grau war. Eigentlich ungerecht dachte sie. Hier sind Menschen, deren Leben auf der Kippe steht und mit Freuden einem angeblichen Ich folgen, um zu entkommen.
Halt. Stopp. Jana rief sich zur Ordnung. Das hier war nicht real … konnte nicht real sein … durfte nicht real sein. Was ließ sie in diesen Traum flüchten? Alles entstand in ihrem Bewusstsein. Die Erzählungen ihres Großvaters waren real, der Inhalt nicht. Märchen, die er sich ausdachte und in die sie sich hinein dachte.
Mittlerweile war sie schon einige Male in die Zwischenwelt gewesen und gegangen. Eine Erinnerung an die Zeiten, wo sie in Schwärze versank, gab es nicht. Nur die, an die Zwischenwelt.
Einige Male beobachtete sie, wie der Nebel aufzog und die Roten, die kampflosen Menschen holten. Aber auch die tiefschwarzen Diener von Hades, dem Herrn der Unterwelt, die Menschen wie Vieh vor sich hertrieben und an einer Steilwand, die plötzlich auftauchte, über den Rand, hinweg trieben. Zunächst erschien ein kleiner Riss in der Wiese, von dem die Masse unaufgeregt Abstand nahm und ihn ignorierte. Der Boden glitt auseinander und Jana schaute in den tiefen pechschwarzen Schlund. Wie, um sie zu vertreiben, stieg schmutzig grauer Nebel hoch. Es gelang ihr nicht, Farbe hineinzudenken. Sie wandte sich aber auch nicht ab, wie die anderen, sondern, beobachtete genau, was geschah. Vielleicht fand sie einen Weg, den Geschöpfen zu helfen. Vor allen Dingen war sie einsam.
Beim nächsten Mal, als sich die Erde auftat, trat sie noch näher heran und wurde durch ein Hindernis gestoppt. Sie dachte zunächst an Glas. Jedoch die Masse war nicht hart, sondern nachgiebig, wie ein Gummizug. Sie war also nicht, vielleicht noch nicht, für den Weg in den Hades vorgesehen.
Die Häscher des Hades trieben einen Mann vor sich her. Welch ein Blödsinn, dachte Jana. Das Opfer ging freiwillig über die Kante und trotz des Theaters hinter ihm, keinen Schritt schneller. Die Schergen schrien, drohten mit den Fäusten und kein Schwein kümmerte sich darum. Die Zwischenwelt ist eine Welt der Irren, stellte sie fest. Und sie war die Anführerin der Truppe, weil sie alles so hinnahm, wie es kam. Wer war sie, dass sie den Untoten, oder was immer sie waren, helfen wollte? Wer spielte welches Spiel mit ihr?
»Was träumst du vor dich hin?«, unterbrach Marco die Gedanken.
»Ich muss über viele Dinge nachdenken. Vor allem, wie ich Farbe in euer Dasein bekomme.« Sie grinste ihn verschmitzt an. »Hast du Lust zu einem Versuch?«
»Weshalb nicht?« Er sah sie verdutzt an.
»Gib mir deine Hand.« Sie hielt ihm ihre hin.
»Wir fassen uns nicht an.« Er zuckte erschreckt zurück.
»Stell dich nicht so an. Als du letztens geweint hast, habe ich dich auch in den Arm genommen.« Sie schüttelte den Kopf vor so viel Beschränktheit.
Zögernd hielt er seine Hand hin, die sie mit festem Griff packte. »Jetzt schließ die Augen und konzentrier dich auf mich.« Sie wartete eine halbe Minute. »Jetzt denke an eine schöne Landschaft, die dir gefällt. Hast du es?« Er nickte. »Dann mach deine Augen auf.« Gespannt beobachtete sie sein Gesicht, das sich verklärte. »Und was siehst du?«
»Eine grüne Wiese mit Butterblumen.«
»Hast du dir das vorgestellt?«
»Nein. Ich dachte an einen Sandstrand an der Nordsee.«
»Du siehst, was ich denke«, stellte sie enttäuscht fest. »Komm. Wir versuchen etwas anderes.« Jana legte sich auf den Rücken und zog Marco mit. »Augen zu.« Sie konzentrierte sich.
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