Читать книгу Dem Jenseits entkommen - Herbert Weyand - Страница 4
ОглавлениеClaudia
»Frau Plum.« Staatsanwalt Dengler stand in der Tür zu ihrem Büro. Er trug, wie immer, einen braunen Anzug mit dezent darauf abgestimmtem Hemd und Krawatte.
Hauptkommissarin Claudia Plum hob langsam den Kopf vom Bildschirm und musterte ihn mit ihren grauen Augen, in deren Hintergrund es unmutig aufblitzte, abwartend. Wenn Dengler so in der Tür stehen blieb, suchte er wieder einen Dummen. Sie nickte ihm wortlos zu.
Der Staatsanwalt trat ein und ging zur Kaffeemaschine. Ein Rest dunkler Brühe schwamm in der Glaskanne, die er in eine Tasse goss. In diesem Büro, das drei Arbeitsplätze enthielt, konnte jeder ungefragt eine Tasse Kaffee haben, sofern er oder sie ab und zu eine Packung Kaffeepulver mitbrachte. Umständlich nahm er auf dem Stuhl, links neben dem Schreibtisch, von ihr aus gesehen rechts, Platz.
»Ich gebe Ihnen die Kurzfassung. Die Akten werden Ihnen gleich zugestellt. Sie können Sie auch auf dem PC abrufen. Das Aktenzeichen habe ich Ihnen vor wenigen Minuten auf Ihr Mailkonto geschickt.« Er begann ohne Floskeln, ganz, wie es seine Art war. »Vor ungefähr zwei Jahren, am 13. Oktober 2011, kamen drei Menschen ums Leben. Eine Explosion auf dem Markt, hier in Aachen. In der Nähe des Denkmals. Sie wissen … Kaiser Karl auf dem Pferd.
Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner starben sofort. Marco Ruisten und Jana Winter fielen ins Koma. Der Junge, sechzehnjährig, wurde in seine Heimat, ich glaube, in die Nähe von Amsterdam, geschafft. Die sechzehnjährige Jana Winter ins Klinikum. Vor wenigen Tagen sollte sie in ein Pflegeheim verlegt werden, weil die Krankenkasse die Kosten nicht mehr tragen wollte. Sie wissen schon, Pflegefall. Jetzt ist das Mädchen vergangene Woche erwacht. Ich möchte, dass Sie mit ihr sprechen.«
Claudia atmete auf. Den Wunsch oder auch Auftrag würde sie gerne übernehmen. Ansonsten trieben sie die Aufträge des Staatsanwalts oder auch Polizeipräsidenten, wenn sie persönlich erteilt wurden, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Die Frage war mehr rhetorisch. Sie würde sich auf alle Fälle in die Akte hineinarbeiten, bevor sie ins Krankenhaus fuhr.
»Ich war damals genauso neu hier in Aachen, wie Sie und kenne den Fall faktisch nur aus der Presse und jetzt durch die Aktenlage. Das BKA und das LKA gingen zunächst von einem politisch motivierten Anschlag aus. Dafür gab es jedoch keine haltbaren Ansätze. Vielleicht kann das Mädchen sich erinnern.« Der Staatsanwalt war so um die Vierzig und ein verschlossener Mensch. Wie er gerade richtig erwähnte, begannen sie fast gleichzeitig nach einem größeren Polizeiskandal, in den der damalige Polizeipräsident und Staatsanwalt verwickelt waren, in Aachen. Wie immer ging es um Geld und Macht.
Die junge Hauptkommissarin nickte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Dengler verübelte ihr die Ignoranz seiner Person nicht. Er kannte sie nicht anders. Im Präsidium war bekannt, dass sie nur bei ganz wenigen Menschen aus sich herausging. In dieser Beziehung standen sie sich in nichts nach. Er nickte kurz und stellte die Tasse auf dem Bord mit der Kaffeemaschine ab.
Claudia Plum war eins siebzig groß und trug heute ein dunkelgraues Kostüm. Der Rock endete zwei Fingerbreit über dem Knie. Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Die Figur war sportlich mit normal großem Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das ist sowieso Geschmackssache. Sie war, Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde sie nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat zwei für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie damals auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die schon längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin war keine entsprechende Planstelle frei. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen.
Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, im platten Hinterland Aachens, traf sie auf Kurt Hüffner, der, so wie es aussah, die Liebe ihres Lebens wurde.
Claudias Gesicht trug einen ständig distanzierten Ausdruck und schreckte viele, die sich ihr nähern wollten, ab. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden, Unsicherheiten perfekt. Als größtes Manko sah die Hauptkommissarin ihre emphatische Veranlagung. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes heraus. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn das Bauchgefühl bei ihr wieder zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle zu erfolgreichen Ergebnissen fügte.
Seit nunmehr einem Jahr lebte sie mit Kurt zusammen in dem kleinen Heidedorf Grotenrath. Dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten … dort wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre. Für sie war es ein großer Schritt aus der Großstadt heraus in dieses verlassene Kaff. Doch mittlerweile liebte sie die Ruhe und das Bewusstsein, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieb eine Minute oder mehr für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte.
Kurt restaurierte sein altes Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Bis zum Saum des Waldes waren es keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen Gebäudetrakt zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf seinem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten jedoch auch manchmal vier oder fünf sein. Sein Job ließ ihm im Grunde zu wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig, nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Doch seit dem er Claudia kannte, ließ er es langsamer angehen. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt war unglaublich neugierig und steckte immer wieder seine Nase in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit kostete ihn fast das Leben. Ein Gutes erwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr als nur Arbeit im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er seine feste Beschäftigung bei der RWTH kündigte und als Freiberufler anging. Das wiederum gab ihm die Zeit, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia allerdings sah das nicht so gerne. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, konnte sie sicher sein, dass er darüber stolperte.
Die Entscheidung, in diesem kleinen Heidedorf zu leben, kam einer Rückkehr gleich. Denn Grotenrath war Claudias Geburtsdorf. Das erfuhr sie jedoch erst, nachdem sie mit Kurt schon einige Zeit zusammenlebte. Eine Kindheit erlebte sie hier nicht, denn ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie bewusste Erinnerungen aufbauen konnte. Erst spät erfuhr sie, dass der Tod ihres Bruders der Grund für den Umzug war. Er wurde bei seiner Erstkommunionfeier ermordet. Die Erinnerung daran, die sie verdrängt hatte, kam während einer spektakulären Entführung auf dem Aachener Katschhof wieder. Es gelang ihr nach Jahrzehnten, den Mörder dingfest zu machen. Seitdem war sie befreit, weil die unbekannte Last, die sie ihr Leben lang verfolgte, einen Grund hatte.
Wie das Leben so spielt, führte es Claudia also an die Wurzeln ihrer Familie zurück. Das alte Bauernhaus, das sie mit Kurt bewohnte, war das ehemalige Haus ihrer Großeltern. Mittlerweile kannte sie das Dorf gut genug, um nicht an einen Zufall zu glauben. Ihre empathischen Empfindungen, die sie einerseits in ihrem Beruf nutzte, wirkten andererseits störend im täglichen Leben. Dort wurde sie zur misstrauischen Ziege, wenn ihr ein Gesprächspartner nicht auf Anhieb sympathisch war. Im Verlaufe ihres Lebens machte sie sich oft Gedanken darüber, ob diese Begabung ein Fluch oder ein Segen war. Sie verbarg sie geschickt vor ihrer Umwelt. Nur wenige Menschen wussten darum. Selbst in ihrem Team, das aus Oberkommissarin Maria Römer und Hauptkommissar Heinz Bauer bestand, öffnete sie sich nicht. Ihre Kollegen sprachen von Intuition und Bauchgefühl, auch, wenn sie ahnten, dass mehr dahinter steckte.
Jetzt, in diesem Dorf, stellte sie fest, dass insbesondere die älteren Einwohner des Dorfes diese Begabung auch besaßen. Also lag der Ursprung wahrscheinlich hier. Irgendwelche Gene, die auch sie hatte.
Nun ja. Jetzt hatte sie Denglers Auftrag am Hals, aber das war sicherlich schnell erledigt. Der Fall, den sie zurzeit bearbeiteten, trat sowieso auf der Stelle. Ein wenig Abwechslung tat da gut.
Claudia dachte mit Schaudern an die seelenlosen Opfer, zu deren Fall sie zurzeit die Ermittlungen leitete. Vor ungefähr zwei Monaten wurden, an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet, junge Leute aufgegriffen, die sich an nichts mehr erinnerten. Nicht nur das: Das Gehirn war faktisch leer … gelöscht. Über irgendeine Grenze im Dreiländereck Belgien, Niederlande, Deutschland schwappte wahrscheinlich eine Droge herüber, an deren Zusammensetzung sie noch rätselten. Auch sonst gab es keinen Anhaltspunkt. Die einschlägig bekannten Dealer schienen ebenso überfordert, wie die Polizei. In diesem Fall arbeiteten sie und ihre Kollegen mit den niederländischen und belgischen Behörden zusammen. Die bekannten Wege über Rotterdam oder Seebrügge brachten bisher keine Ergebnisse. Razzien und Ermittlungen in Diskotheken, die häufig als Umschlagplätze dienten, verliefen erfolglos.
Erst Anfang der Woche besuchte Claudia das Pflegeheim in Melaten, in dem die Staatsanwaltschaft die fünfzehn jungen Menschen untergebracht hatte, deren Gehirne durch die Drogen zerstört wurden. Willenlose Geschöpfe, die zu keiner selbstständigen Tätigkeit fähig waren. Starre, ausdruckslose Gesichter und Augen zerrten an den Nerven der Hauptkommissarin. Schaudernd dachte sie an den Anblick und zog fröstelnd die Schultern nach vorne. Welche Schweine taten Menschen so etwas an?
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