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Kapitel 18 Zuhause
ОглавлениеEine Woche, nachdem Claudia Plum Jana befragt hatte, besuchten sie zwei Ärzte. Der ältere von ihnen, Doktor Brück, war ein kleiner, grauhaariger Mann, dessen Hände stets in fahriger Bewegung waren. Jana hatte ihn schon vorher gesehen, in den ersten Tagen ihres bewussten Denkens. Er bombardierte sie damals mit Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Seine Unterlippe hing missmutig herunter. Jana kicherte in sich hinein. In ihrer Vorstellung sah sie Zerbi, der heranschlich und an dem Fleischlappen nagte.
Der andere Arzt, Doktor Heimann, war ein großer schlanker Mann im Alter ihres Vaters. Sein markantes Gesicht sah auf sie herunter. Jana schwang die Beine aus dem Bett und stand mit einem Ruck vor den beiden.
»Sie sind also Jana Winter.« Heimann sah ihr fest in die Augen. »Ich bin Polizeipsychologe und möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
Jana sah ihn wortlos an. Was sollte sie mit einem Verrücktendoktor?
»Sie werden sich fragen, was ich von Ihnen will.« Der Psychologe lächelte, zog einen Stuhl heran und setzte sich darauf. »Nicht, dass Sie meinen Besuch missverstehen. Ich halte Sie nicht für geistig gestört. Das haben mir Dr. Brück und die anderen Ärzte, die Sie untersucht haben schon bestätigt. Doch Sie haben etwas mitgebracht, was für uns sehr wichtig werden kann.«
Jana bemerkte ganz hinten in den Augen des Mediziners Unsicherheit. Nur ein leichtes Flackern, dann hatte er sich wieder im Griff. Sie beabsichtigte nicht, auf ihn einzugehen.
Dr. Heimann fasste sie an den Schultern. »Sie müssen mir Ihre Erlebnisse schildern.« Er lockerte seinen Griff und trat zurück. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie angefasst habe. Lassen Sie mich wenigsten erklären, weshalb Ihre Erfahrungen für uns wichtig sind.« Sein ansonsten sympathisches Gesicht bekam harte Kanten. Scharfe Falten traten im Kinnbereich und um die Augen herum hervor.
Dr. Brück wandte ihnen den Rücken zu, als wolle er nichts mitbekommen.
Jana nickte und nahm auf der Bettkante Platz. Sie trug einen hellen Jogging Anzug und wirkte, trotz der Schlankheit, kraftvoll. Das Haar wurde im Nacken von einem Gummi zusammengehalten. Die rasierten Schläfen gaben ihr ein fremdartiges Aussehen. Sie griff zur Tafel, die auf dem Beistellschrank lag und schrieb: »Heute nicht. Morgen.«
Über Dr. Heimanns Gesicht zuckte ein unwilliger Ausdruck, den er sofort unterdrückte. Er nickte knapp. »Bis Morgen also.«
Nachdem sie wieder allein war, wurde ihr klar, dass nicht nur die Suche nach Marco in der nächsten Zeit das Leben bestimmen würde. Da steckte noch mehr dahinter, worüber sie zuerst einmal nachdenken musste. Sie erwog, Claudia Plum zu benachrichtigen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Wie konnte ihr die Hauptkommissarin helfen. Sie hatte im Moment niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Eine sogenannte beste Freundin gab es nicht. Der Besuch des Psychologen wurde schnell von der Krankenhausroutine verdrängt, die sie voll und ganz in Anspruch nahm.
Am nächsten Morgen, kurz nach der Visite, erschien der Psychologe in ihrem Zimmer und kam sofort zum Kern seines Anliegens.
»Frau Winter. Danke, dass Sie mich empfangen. Mehr als vierzigtausend Menschen fallen pro Jahr in ein Koma. Ungefähr drei- bis fünftausend Menschen werden zu Wachkoma Patienten, erwachen also wieder daraus. Die Ärzte des Klinikums haben ihre Gehirntätigkeit mit einer Vielzahl von medizinischen Geräten überwacht und gelangten zu der Überzeugung, dass bei Ihnen kein Wachkoma vorlag. Sie besaßen also nicht die Chance, noch einmal zu erwachen. Ihr Körper reagierte auf keinerlei Reflexe. Doch die Aufzeichnungen Ihrer Gehirntätigkeit, besser gesagt Nichttätigkeit, wiesen eine winzig kleine Anomalie aus. Außerdem hatte Ihr Körper in unregelmäßigen Abständen feste Ausscheidungen, die weder sein konnten noch durften.« Er unterbrach seinen Redefluss und strich durch das braune Haar, das sorgfältig frisiert um seinen Kopf lag.
»Welche Anomalie?«, schrieb Jana.
»Das tiefe Koma ähnelt dem traumlosen Schlaf und ist eine Art energiesparendes Notfallprogramm des Körpers. Der reagiert nicht mehr auf kräftezehrende Schmerzreize, doch der Hirnstamm erzeugt noch Reflexe, die dazu führen, dass geschluckt wird, sich Lider bewegen oder gewürgt wird. Das war bei Ihnen alles nicht vorhanden. Deshalb wurden Sie an die Lebenserhaltungssysteme angeschlossen. Die Hirnaktivität lässt sich mit einem Elektroenzephalogramm, also EEG überwachen - dem Werkzeug, mit dem Forscher der Wahrnehmung Komatöser auf die Schliche kommen, Empfindungen und äußerlich nicht sichtbare Reaktionen nachweisen. In einem Bereich, den die Ärzte nicht lokalisieren konnten, erschien, etwa zwanzig Minuten, nachdem Ihr Großvater mit seiner täglichen Geschichte begann, eine kleine, nur in der Vergrößerung sichtbare, Ausbuchtung. In der Regel tritt bei solchen Reaktionen eine Veränderung des Blutdrucks, der Atmung und Körperspannung ein.«
»Weshalb benötigen sie mich als Testobjekt«, schrieb Jana, die gespannt zuhörte.
»Sollte ich den Eindruck erweckt haben, Sie seien ein Testobjekt?« Abwehrend hob er beide Hände. »Dann entschuldigen Sie bitte. Die moderne Wissenschaft geht davon aus, dass ein Koma kein passiver Zustand ist, sondern eine aktive, bis auf tiefe Bewusstseinsebenen zurückgenommene, extreme Art des Lebens am Rande des Todes. Also eine Schutzfunktion darstellt, die es ermöglicht, Grenzsituationen zu überstehen. Sie waren an dieser Grenze. Wir benötigen ihre Erfahrungen für unsere Forschungen.«
Jana nickte wieder. Der Psychologe war ihr zu glatt, wobei seine Ausführungen schlüssig herüber kamen. Darüber musste sie zunächst mit Großvater reden oder dieser Hauptkommissarin.
Der Stift flog wieder über die Tafel. »Mailen Sie mir Ihren Fragenkatalog. Ich werde antworten. Falls dann noch Fragen sind, können wir uns wieder treffen.« Sie schaute erwartungsvoll zu ihm und sah gerade noch das wütende und unbeherrschte Blitzen in seine Augen, während das Gesicht verbindlich blieb. Sie hätte auch das Notebook zur Unterhaltung nutzen können. Eine Bluetooth Verbindung übertrug dann die Signale simultan auf das iPad.
»Frau Winter, das wollen Sie mir doch wohl nicht antun.« Der Psychologe setzte sich auf die Bettkante.« Sein Tonfall blieb verbindlich. »Meine Zeit ist begrenzt und ich muss heute noch nach Wiesbaden zurück.«
Also Bundeskriminalamt, dachte Jana und schrieb: »Dann ist die Möglichkeit des Mailverkehrs ja klasse.« Nun musste sie erst recht mit der Hauptkommissarin sprechen. Mit dem Typen stimmte etwas nicht. »Jetzt lassen Sie mich bitte alleine.« Sie drückte auf den Knopf des Signalgebers für die Klingel.
Dr. Heimann sprang auf und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. »Sie behindern unsere Arbeit, junge Frau.« Seine Augen blitzten aggressiv. »Seien Sie vorsichtig«, zischte er in dem Augenblick, als Schwester Ellen das Zimmer das Zimmer betrat. Sie bemerkte die Spannung zwischen den beiden.
»Wer sind Sie?«, wandte sie sich an den Psychologen. »Sie gehören nicht zum Ärzteteam unserer Station. Sie wissen doch, dass Sie sich bei uns melden müssen, wenn Sie Umgang mit unseren Patienten suchen.«
»Scheren Sie sich zum Teufel.« Er stand aufgebracht vor der Krankenschwester.
»Also wer sind Sie?« Die Krankenschwester blieb unbeeindruckt.
»Dr. Brück brachte ihn gestern mit«, schrieb Jana auf die Tafel. »Polizeipsychologe, wie er sagte.«
»Das wird ja immer schöner.« Die Schwester trat einen Schritt zurück und verbaute die Tür. »Können Sie sich ausweisen?«, fragte sie Dr. Heimann.
Der Psychologe fegte sie mit einer Hand zur Seite und stürmte aus dem Zimmer.
»Hat er Sie belästigt?«, fragte Schwester Ellen.
Jana schüttelte den Kopf.
*