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Kapitel 16 Zwischenwelt

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»Weshalb haltet ihr euch bei den Händen?« Lukas rief sie zurück. »Ihr wisst doch, dass das verboten ist.«

»Wer sagt das?« Jana öffnete die Augen, kaum glaubend, dass sie wieder in der Zwischenwelt war.

»Äh … jeder weiß das.« Lukas antwortete verunsichert.

»Halt die Klappe.« Marco öffnete mühsam die Augen. Er wirkte erschöpft. »Anfassen ist grundsätzlich verboten. Weshalb, weiß ich nicht. Doch nach unserem Ausflug in die Berge beginne ich, zu verstehen, weshalb. Das werden die Roten nicht dulden.«

»Damit haben die Zwillinge nichts zu tun«, sagte Jana nachdenklich. »Hier in der Zwischenwelt sind sie Regeln unterworfen. Du musst freiwillig zu ihnen gehen und dich umarmen lassen. Deshalb auch keine Farbe oder irgendwelche Annehmlichkeiten. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo du mit Freuden deinen Sehnsüchten nachkommst, nur um der tristen Umgebung zu entkommen. Außerdem«, sie wandte sich an Marco, der mittlerweile ebenso saß, wie sie, »haben wir gezeigt, dass es durchaus Wege gibt. Wir sind kurze Zeit in der realen Welt gewesen.«

»Ich glaube, du liegst falsch«, äußerte Marco skeptisch. »Die Regeln galten bei unserem Ausflug nicht. Die Roten können noch nicht mit der neuen Situation umgehen, sonst wären wir nicht entkommen. Deine Freunde haben uns gerettet.«

»Ihr habt einen Weg herausgefunden?« Vivian baute sich vor ihnen auf.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Jana vorsichtig. Sie kannte ihre Leidensgenossin und die anderen nicht. Sie hatten lediglich eines gemeinsam, sie lagen in der realen Welt im Koma. Ein Gefühl ließ sie vorsichtig sein.

»Du hast vorhin von der realen Welt gesprochen und Marco sprach von deinen Freunden.« Stefan stand plötzlich zwischen Lukas und Vivian. Er sah drohend zu ihnen hinunter.

Jana rappelte sich hoch. Dabei tat ihr jeder Knochen so weh, als seien sie tatsächlich unterwegs gewesen. Langsam geriet sie durcheinander und konnte die Ebenen, auf denen sie sich bewegte, fast nicht mehr auseinanderhalten. Sie grinste und schüttelte den Kopf: abartig, in ihrer Situation von Bewegung zu denken. Sie wusste nicht, ob sie einen Traum und in diesem Traum einen weiteren und so weiter hatte. Bei Opa hatte sie Traumfänger, nicht nur in ihrem Zimmer, dort in seinem Haus, an den Wänden hängen. Solch einen wünschte sie sich jetzt. Sie würde Stefan, Vivian, Lukas und die Zwischenwelt hindurchjagen, in der Hoffnung sie würden als böser Traum hängen bleiben. Was für ein Mist. Nicht genug, dass sie im Koma lag – sie musste sich auch mit Idioten herumschlagen. »Tut uns einen Gefallen«, sie legte eine Hand auf Marcos Schulter, »Lasst uns einfach in Ruhe.«

»Du weißt nicht, was du sagst.« Vivian keifte, wie ein Marktweib. Ihre vollen, blassen Lippen verzogen sich hässlich und die Augen sprühten nackten Hass. Stefan und Lukas traten lauernd zurück und beobachteten die Auseinandersetzung aus dem Hintergrund. »Du bringst alles durcheinander.«

»Was bringe ich durcheinander?« Jana ging furchtlos einen Schritt auf die Frau zu. »Diese Zombies?« Sie wies, mit einer allumfassenden Bewegung über die die riesige Wiesenfläche, die den anderen verborgen war. Die Gestalten, mehr menschliche Schatten, waren in steter langsamer Bewegung. Da war kein Leben. Einzig die kleine Gruppe, zu der sie auch gehörte, zeigte Initiative und fiel somit auf.

Die wabernde Leibermasse teilte sich und machte eine breite Gasse frei, die wie sie sah, in die Unendlichkeit führte. In der Zwischenwelt gab es keinen Horizont und damit kein Ende. Ein dunkles Pünktchen näherte sich. Eine Gestalt auf einem Tretroller, einem Cityroller mit kleinen Kugel gelagerten Rädern. Elegant bremste der Roller und die in Schwarz gekleidete Gestalt stellte das Gerät umständlich auf den Ständer. Sie wandte ihre glänzenden kohlschwarzen Augen Jana zu und tippte mit der Hand gegen die schwarze Kopfbedeckung, die einem Schiffchen glich, das sie schon häufiger bei Soldaten gesehen hatte.

»Ich komme als Botin«, bemerkte das fremde Mädchen. Es war bis auf die Augen und die Kleidung, ein Duplikat Janas.

»Was bist du denn?« Jana lachte und fasste an ihre Stirn. Wurde sie bekloppt? Drillinge, anstatt Zwillinge. »Bin ich in einem Irrenhaus und werde mit irgendwelchen Tabletten vollgestopft?«

»Ich komme als Botin«, wiederholte Jana Nummer drei, nein Nummer vier. Die Echte im Krankenhaus musste wohl mitgezählte werden. »Du.« Sie zeigte mit dem Finger auf Jana und gab ihrem Gesicht, einen wichtigen Ausdruck. »Du bringst Unruhe in die Wartezone. Stell das ein.«

»Ich? Unruhe? Du spinnst.«

»Ich bitte um mehr Respekt«, sagte das Wesen tonlos.

»Du bist bekloppt. Ich bringe mir so viel Respekt entgegen, wie ich will. Du bist doch ich, oder?« Ihre Gedanken ignorierten das eisige Gefühl, das von den Füßen hochzog. Die Beine fühlten sich an, als ob sie bis zu den Knien in einem Eisblock standen.

»Ich bin du und du bist ich«, bestätigte Jana vier. »Du bist Gast und ich bin Vollstrecker. Jetzt habe ich die Funktion einer Botin.«

»Welche Nachricht sollst du überbringen?« Jana bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Marco zu ihr trat. Stefan, Vivian und Lukas wichen unmerklich zurück.

»Erstens: Einstellung der Unruhe verursachenden Umtriebe. Zweitens: Einstellung des körperlichen Kontakts zu anderen Wartenden. Drittens: Einstellung des Aufenthalts in deiner Realwelt.«

»Mehr nicht?« Sie lachte belustigt und genoss diese absolut beknackte Situation. Ihr Zwilling, Drilling oder Vierling in der Geisterwelt, wollte sie disziplinieren. »Wenn nicht? Was passiert mir dann? Muss ich in einem Schloss als Gespenst Schrecken verbreiten? Oder gibt es einen Knall und meine, von mir aus auch unsere Hülle, ist allein und verlassen in ihrem Krankenbett. Mit dem Tod wirst du wohl nicht drohen. Im Moment bin ich dem wahrscheinlich näher, als dem Leben. Du bist kein Überbringer von Nachrichten … du bist ein Nichts.« Sie ging auf das Double zu und merkte, wie schwer ihr dies fiel. Die Kälte reichte schon in die Oberschenkel. Jana stieß mit dem Finger auf die Brust der schwarzen Gestalt, die erschrocken zurückwich. »Du bist Todesbotin. Ich bemerke, wie du langsam in mir hochkriechst. Es wird kalt, sehr kalt.«

»Nein.« Die Botin schrie laut und wurde noch blasser, als sie schon war. »Es tut mir leid. Das ist nicht beabsichtigt. Ich habe meine Reflexe nicht unter Kontrolle.« Jana bemerkte das Kribbeln in ihren Beinen, als der Kreislauf die Wärme dorthin transportierte. »Kannst du mir verzeihen?« Das Wesen schluchzte und begann zu zittern.

»Ja, ja«, sagte Jana, »stell dich nicht so an. Ich verzeihe mir«, dabei grinste sie schmutzig. »Verschwinde ganz einfach und lass mich in Ruhe.«

»Was sagst du zu meinen Forderungen?« Jana vier ließ sich nicht beeindrucken und war um würdevolle Haltung bemüht.

»Nichts.« Jana ging ganz nah zu ihrer Doppelgängerin und versenkte ihre, wahrscheinlich blauen Augen, sie wusste es nicht, denn hier gab es keine Spiegel, in die schwarzen. »Bist du dir bewusst, wie blöd dieser Zirkus ist. Ich komme zu mir und fordere mich auf, bestimmte Dinge zu unterlassen. Nimm das als Denkaufgabe mit. Du bist kein eigenständiges Wesen, wie du vorhin bestätigt hast. Ich wahrscheinlich auch nicht. Ist es unsere Aufgabe, uns gegenseitig zu zerstören, sodass die arme Hülle, die unser Gehirn trägt, den Kampf um das Leben aufgibt? Das ist doch beknackt.« Sie ließ das Wesen stehen und drehte ihm Rücken zu. Nachdenklich sah sie sich Marco gegenüber. »Verstehst du das?«, fragte sie ihn leise.

Er schüttelte den Kopf und machte ein betretenes Gesicht. Er sah über ihre Schulter und seine Augen weiteten sich.

»Jana.« Die Stimme kam, wie ein Donnergrollen aus dem Nichts und hallte in tiefen Bässen nach. »Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche.«

Jana drehte sich mit zitternden Knien herum und stand dem Wesen, Jana vier, gegenüber, das ihr gefolgt war. Aus den Augen leuchtete im Hintergrund ein kaltes Feuer, das sie zu verschlingen drohte. Sie nahm allen Mut zusammen, um ein unbeteiligtes Gesicht auf ihren Zügen bemüht. »Ist noch etwas?«, fragte sie scheinbar kühl. Die Worte ihres Opas hallten im Hintergrund der Gedanken: Falls du in eine ausweglose Situation gerätst, verschließe dich nicht. Nimm sie an und begegne ihr so, wie sie dir präsentiert wird. »Was fällt dir ein, mich zu erschrecken«, schrie sie das Double an und versuchte der Stimme einen tiefen Klang zu geben, was kläglich scheiterte.

»Du benimmst dich wie ein ungezogenes Kind.« Die schwarze Klette dämpfte die Tonlage. »Du bist hier Gast und hältst dich bitte an die Regeln.«

»Leck mich«, rutschte es Jana gedankenlos heraus. Im gleichen Moment bekam sie einen Schlag, wie von einem Elektroschocker und fiel mit krampfenden Muskeln zu Boden. Die schwarz gekleidete Gestalt richtete den Zeigefinger auf sie, in den sich ein stahlblauer Glanz zurückzog. Bedächtig kämpfte Jana sich auf die Beine und richtete ihren flammenden Blick auf das dunkle Ebenbild. Langsam, wie in Trance, ging sie auf die Botin zu. Sie wusste, wenn sie jetzt aufgab, war sie verloren und die Geräte an ihrem Körper im Krankenhaus hätten keine Chance mehr, ihr Leben zu verlängern. »Du Miststück. Ich wusste bisher nicht, wie viel dunkle Energie in mir steckt. Das macht wohl die Umgebung.« Wie aus dem Nichts schoss ihr Fuß in die Höhe und zielte auf das Gesicht ihrer Widersacherin. In diesem Augenblick fühlte sie sich, wie eine multiple Persönlichkeit. Ihr Gegenüber hätte nicht sie sein müssen, um zu wissen, wann der Tritt kam und wohin er ging.

Mit einer tänzelnden Bewegung wich das Wesen aus und bleckte wölfisch grinsend die Zähne. Es hob den Finger und zielte erneut auf Jana. Sie wich aus, in dem Augenblick, wo die Energie aus dem Finger schoss. Die Masse der Leiber stöhnte und kam zum Stillstand. Aus den Augenwinkeln bemerkte Jana mehrere Personen, die zu Boden fielen. Der Energiestrahl verfehlte sein Ziel. Jana spürte die neue Entladung, bevor sie losschoss, und machte einen Sprung in die Luft. Die Verzweiflung ihrer Gegnerin griff auf sie über. Die Stromstöße waren nur begrenzt einsetzbar und wurden scheinbar aus der Körperenergie gewonnen. Noch in der Luft trat Jana zu und schlug mit der Ferse ihrem schwarzen Zwilling die Nase ins Gehirn. Das Geschöpf stieß einen unmenschlichen Schrei aus und sah aus einem Auge auf Jana. Das andere war, ebenso, wie die Nase verschwunden. Kein Blut dachte Jana. Also kein Leben.

»Dein Frevel wird nicht ungesühnt bleiben«, nuschelte das, was Jana vier gewesen war, undeutlich. »Mein Herr wird dich bekommen, auch, wenn du für den roten Herrn vorgesehen bist. Die Strafe für deine Tat wird ungeheuerlich sein.« Das Wesen verblasste vor ihren Augen und verschwand.

»Jana.« Marco zupfte an ihrem Shirt.

»Ja.« Sie wandte sich ihm zu.

Er deutete mit einer Handbewegung in die Runde. Die Lebewesen der Zwischenwelt zogen sich von ihnen zurück und standen etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt, kreisförmig, um sie herum.

»Was soll der Blödsinn denn jetzt?« Sie stellte die Frage rhetorisch in den Raum. »Jetzt sind wir wohl Ausgestoßene. Willst du auch zu denen?«, fragte sie Marco.

»Vor einiger Zeit hätte ich noch zugestimmt. Jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, dass es sich lohnt zu kämpfen. Seit unserem Ausflug in die Berge weiß ich wieder, was Leben ist. Und ich möchte leben. Unbedingt.« Er sah mit leuchtenden Augen zu ihr auf.

In Jana regte sich etwas, von dem sie zwar schon einmal gehört hatte, jedoch nicht wusste, wie es sich anfühlte. Der leuchtende Blick Marcos sprach, trotz der blassen Augenfarbe, ihr Innerstes an. Sie stand kurz davor, ihn in den Arm zu nehmen. Unbekanntes Sehnen nach seiner Berührung erfüllte sie. Dabei war er gar nicht der Typ, von dem sie normalerweise träumte. Die schmächtige Gestalt hätte sie unter normalen Bedingungen nicht beachtet. Sie trat einen Schritt zurück, um keine unbedachte Situation hervorzurufen, derer sie sich nachher schämte.

So was Blödes, dachte sie. Das fehlte noch. Fast tot und dann verlieben. Nein … das musste nicht sein.

*

Dem Jenseits entkommen

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